16. Jahrgang | Nummer 20 | 30. September 2013

Bemerkungen

Stühlerücken

„Grüne und Piraten tauschen als Reaktion auf die Wahlniederlage ihre Parteiführungen aus“, vermeldete heute – wir schreiben den 24. September 2013 – der Berliner Rundfunk 91,4 der staunenden Hörerschaft. Bernd Schlömer als Grünen-Chef und Claudia Roth auf der Kommandobrücke des untergehenden Piratenschiffes? Meine Hilflosigkeit mit dieser Nachricht offenbarte ich meinem sozialen Netzwerk und erntete Antworten von „Denen ist alles zuzutrauen…“ bis „Bingo! Rotation der Parteiführungen, das wär’s! Ich bin dafür.“ Spiegel Online klärte schließlich das interpretatorische Missverständnis eines oberflächlich formulierten Satzes. Man tauscht zwar die Führungen aus, aber nicht miteinander sondern untereinander. Schade.
Bei den Grünen ist das mit dem Austauschen allerdings wortwörtlich zu nehmen. Die Fraktionsvorsitzenden Jürgen Trittin und Renate Künast treten zurück. Die Parteivorsitzende Claudia Roth tritt zurück. Cem Özdemir, Co-Vorsitzender tritt nicht zurück. Katrin Göring-Eckardt ist bislang Bundestagsvizepräsidentin. Sie will jetzt Fraktionsvorsitzende werden. Renate Künast und Claudia Roth wollen Bundestagsvizepräsidentinnen werden. Cem Özdemir will wieder als Vorsitzender kandidieren. „Wir müssen uns neu aufstellen für 2017“, sagte Jürgen Trittin auf der konstituierenden Fraktionssitzung am Tag, an dem der Berliner Rundfunk 91,4 seine verwirrende Meldung in die Welt der Küchenradios und Autoempfänger sendete. Merke: Neu aufstellen heißt bei den Grünen Sessel wechseln. Das ist bei denen aber so ein bissel wie in einem unserer Kindheitslieblingsspiele „Schraps hat den Hut verlorn!“: In jeder Runde fliegt einer raus… Jetzt tauchen auch noch ein gewisser  Anton Hofreiter und Frau Kerstin Andreae aus der Versenkung auf. Müssen wir uns die Namen merken? Nehmt doch bitte den Schlömer!

Alfred Askanius

WeltTrends aktuell

Der „schwarze Kontinent“ emanzipiert sich vom Westen, auch außenpolitisch. Afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme – dies wird gefordert. Dabei spielt Südafrika, das jüngste Mitglied der aufstrebenden BRICS-Gruppe, eine Hauptrolle. Trotz schwacher Wirtschaft und geringer militärischer Kapazitäten zeigt das Land Selbstbewusstsein sowohl in der konfliktreichen Region als auch auf der globalen Bühne. In der neuesten Ausgabe von WeltTrends prüfen südafrikanische Stimmen die Außenpolitik des „Koloss am Kap“ und konfrontieren Anspruch mit Wirklichkeit.

WeltTrends. Zeitschrift für internationale Politik, Nr. 92 – September / Oktober 2013 (Schwerpuntthema: Regionalmacht Südafrika), Potsdam / Poznan, 9,50 Euro (für Bezieher des Newsletters: 6,- Euro) plus Porto. Weitere Informationen im Internet: www.welttrends.de.

Vorschau

Merkel fragt den Gabriel
Ob er koalieren weel.
Der Sigmar ist zunächst noch sauer.
Doch anderntags ein wenig schlauer.

Er sagt zur Angie voller Freude.
Ich mach’ mit, es lacht ja Beute.
Da meint der Horst mit Bayernstimme.
Hier wird gemacht, was ich bestimme.

Die Angie baut sofort die Raute.
Verärgert, dass der Horst sich traute,
Dem Sigmar solcherlei zu sagen.
Man sollte doch wohl erst beraten.

Wie gedacht, so wird´s gemacht.
Sie knien nieder zwecks Andacht.
Sie rufen an nun Gottes Rat,
Weil sowas alleweil probat.

Nach tiefer Inbrunst bald erwacht,
Wird auf Eintracht jetzt gemacht.
Sie verkünden hoch im Ton:
Jetzt habt ihr uns, Das habt’s davon!

Jürgen Scherer

Der Sommer geht…

Im Winter 2011/12, vermeldete im September der Berliner Sozialsenator Mario Czaja (CDU), wurden für Obdachlose in Berlin 368 Übernachtungsmöglichkeiten angeboten, im Winter 2012/13 waren es 422. Geplant waren allerdings 500 Plätze. Man fand wohl nicht genügend Quartiere. In Anspruch genommen wurden 2011/12 378 Plätze, im letzten Winter 470. Das nennt man eine kontinuierliche Überbelegung.
Auch in diesem Jahr sind 500 Plätze „angestrebt“, sagt der Senator. Angestrebt. In der Stadt leben augenblicklich nach Schätzungen der Berliner Stadtmission etwa 10.000 obdachlose Menschen. Andere gehen von mindestens 11.000 Obdachlosen aus. Niemand weiß das so genau. Sicher ist nur, dass die Zahlen steigen. Ganz genau weiß das niemand, diese Menschen werden nicht erfasst, wie auch. Sie sind einfach da. Genauer weiß man, welche „Angebote“ für sie zur Verfügung stehen, nämlich 5.000 „dauerhafte Übernachtungsplätze“. Fest steht also, dass mindestens 5.000 Menschen auch im kommenden Winter nicht wissen, wohin sie in der Nacht vor dem Frost flüchten können. Für die strebt der Senat 500 – fünfhundert! –„Winterschlafplätze“ an. Davon fehlen noch 75.
Von Rainer Maria Rilke stammt das wunderschöne Gedicht „Herbsttag“. Die letzte Strophe beginnt:

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben…

Günter Hayn

Zwangsberauchung

Dem EU-Parlament stehen im Oktober Beratungen über neue gesetzliche Vorschriften ins Haus, die den Zigarettenkonsum drastisch einschränken sollen. Dazu gehört das Verbot von Menthol- und dünnen „Slim“-Zigaretten. Außerdem sollen Verpackungen mit abschreckenden Fotos von klassischen Raucherkrankheiten illustriert werden. Dass die Tabakindustrie dies nicht goutiert und mit dem üblichen Lamento etwa von Arbeitsplatzgefährdung droht, kann niemanden überraschen, wie stabs- und vor allem geheimdienstmäßig diese ihren Lobbyismus praktiziert, ist indes schon interessant. Philip Morris International hat eine geheime Aufstellung erstellt, die die Mitglieder des Europa-Parlaments säuberlich einteilt in Sympathisanten der Tabak-Lobby, in Gegner und in Unentschiedene, deren Haltung „eine dringende Intervention“ erforderlich mache. Der Klassifizierungsbegriff „feindliche negative Elemente“ für die in der Kartei rot gefärbten Gegner ist dem Vernehmen nach nicht verwendet worden. Ob die „dringende Intervention“ aus einer Zwangsberauchung der Unentschlossenen oder doch nur aus finanziellen Zuwendungen besteht, ist der Aufstellung ebenfalls nicht zu entnehmen; ein bisschen Geheimnis muss ein Geheimpapier ja schließlich doch bewahren.

Helge Jürgs

Medien-Mosaik

Ein wunderbarer, ein schwieriger, auch ein eitler Schauspieler – aber letzteres sind es doch fast alle! Das ist der Wiener Klaus Maria Brandauer, an dem neben all seiner Kunst auch zu bewundern wäre, dass er die Fähigkeit hat, sich auf sich selbst zu besinnen. Nachdem er mit „Mephisto“ berühmt wurde, trat die Versuchung Hollywood an ihn heran. Aber nach „James Bond“ und „Jenseits von Afrika“ fühlte er sich künstlerisch unbefriedigt und arbeitete wieder in der Heimat am Theater oder in europäischen Filmproduktionen. Hier hat er viele historische Figuren verkörpert: Wilde, Redl, Hanussen, Rembrandt, Lenin. Brandauers Wunsch, seinen Landsmann Wilhelm Reich darzustellen, bestand seit langem. Nun endlich, im Umfeld seines 70. Geburtstages, ist der Film angelaufen, an dessen Drehbuch der Schauspieler mitgearbeitet hat. Regisseur Antonin Svoboda drehte den Film mit internationaler Besetzung und setzte ganz auf Brandauers Charisma. Der Naturwissenschaftler und Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897-1957) wurde postum zum Guru der 68er Bewegung. Freie Liebe war ein Bestandteil seiner Lehre, die Orgasmustheorie, die Körperpsychotherapie. Auch seine nach wie vor umstrittene Orgontherapie, die aus der Natur und ihren besonderen Strahlungen Lebenskräfte gewinnt, fand besonders in den USA und in Westeuropa vehemente Anhänger und Nachahmer. Der Film erzählt in erster Linie die letzten zehn Jahre in Reichs Leben, als er in die USA emigriert war und von verschiedenen Seiten belauert wurde. Der manische Freigeist, kommunistischer Umtriebe verdächtigt, war ein Kritiker der amerikanischen Atompolitik. Ihm wurde Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen, er war gezwungen, seine Apparaturen und auch seine Schriften zu vernichten, wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt, die er nicht überlebte. In manchen Punkten bleibt der Film spekulativ, aber er entwickelt einen starken Sog, besonders, wenn er in vielen Momenten an den aktuellen Fall Gustl Mollath erinnert – kaltgestellt in der Psychiatrie.
Der Fall Wilhelm Reich, Österreich 2012, seit 5.9. in zahlreichen Kinos

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„Aber Berlin ist in dem Buche. Es muß einer geschrieben haben, der sonst überhaupt nicht schreibt, und diese Leute treffen manchmal den Lokalton am besten, viel besser als irgendeiner von uns.“ So Tucholsky alias Peter Panter in einer Rezension in der Weltbühne 1920. Er brauchte sich nicht hinter jenem Seltenschreiber zu verstecken, denn er traf den Berliner Ton jener Jahre perfekt. Herausgeberin Ingrid Feix hat einen neuen Tucholsky-Sammelband mit einigen der schönsten Berlin-Texte zusammengestellt, Liebeserklärungen, aber auch Abrechnungen mit Großkotzigkeit und Provinzialität. Wir können mit Panter & Co. in der Motz- oder Wilhelmstraße wandeln, über den Potsdamer Platz oder durch den Tiergarten gehen, in Treptow oder Plötzensee verweilen. Auch das Gedicht „In Weißensee“ über den jüdischen Friedhof, auf dem Vater Alex Tucholsky 1905 beigesetzt wurde, fehlt nicht. Es dominieren aber die heiteren Töne, die uns um so mehr begeistern, wenn heutige Probleme angesprochen werden. „In Berlin kommen auf jede Wohnung dreizehn Personen: drei, die darin wohnen, und zehn, die draußen darauf warten, daß sie frei wird“, schrieb Panter 1923 im Prager Tageblatt und zitierte Briefe an das Wohnungsamt: „Ich bin seit fünf Monaten verheiratet und meine Frau ist in Umständen. Ich frage hiermit das Wohnungsamt: Muß das sein?“ Nein, es muss nicht sein, aber wenn man das Buch liest, fühlt man sich doch im vollen Menschenleben der zwanziger Jahre zu Haus!
Kurt Tucholsky, Westend bis Köpenick, be.bra Verlag, Berlin 2013, 140 Seiten, 9,95 Euro.

bebe

Preisverleihungen

Am 18. November erhält Otto Dov Kulka für sein Buch „Landschaften der Metropole des Todes“ (siehe „Und Kain schwebt umher“ – Das Blättchen 9/2013) im Rahmen des Literaturfestes München den Geschwister-Scholl-Preis. In der Begründung der Jury heißt es, das Werk sei kein klassisches Erinnerungsbuch, „sondern eine Reflexion über die Chancen und Grenzen des Erfassens und Verstehens und eine schmerzliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Gedächtnis. In einer Zeit, in der sich die Frage nach der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Ermordung der Juden Europas neu stellt, ehrt die Jury des Geschwister-Scholl-Preises mit Otto Dov Kulka einen herausragenden Forscher und einen Schriftsteller, der mit seinen ‚Landschaften der Metropole des Todes’ zu einem mutigen Selbst-Erforscher und einem Erkunder der Abgründe des Menschlichen geworden ist. Kulkas Buch wirkt beim Leser nach und schafft es mit seinen Erinnerungsbildern, die Wahrnehmung der Vergangenheit zu verändern und somit neue Impulse für die Gegenwart zu geben.“ Die Preisverleihung erfolgt in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität in München
Der Berliner Literaturpreis 2014 der Stiftung Preußische Seehandlung wird am 26. Februar im Roten Rathaus Berlin an Hans-Joachim Schädlich verliehen werden. Die Begründung für die Preisvergabe, die mit der Vergabe der „Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik“ an der Freien Universität Berlin verbunden ist, würdigt den Autoren als „einen Meister in der Kunst, etwas zu sagen, ohne es direkt zu sagen.“ In seinem Roman „Sire, ich eile!“ vergegenwärtige er „tatsächliches und fiktives Geschehen mit einer Intensität und Anschaulichkeit, die in der deutschen Gegenwartsliteratur konkurrenzlos ist. […] Dieses funkelnde, reiche Lebenswerk ist ein nicht zu ersetzendes Gegengift gegen Dummheit, Übereilung und Schlamperei.“
Wir gratulieren den Autoren – und beglückwünschen die Juroren zu ihren Entscheidungen!

Wolfgang Brauer

Drostes neue Sprachglossen

Es ist schön, wenn Wiglaf Droste ein neues Buch veröffentlicht, aber es ist gleichzeitig schwierig darüber zu schreiben. Herr Droste, der nach einen kurzen Abstecher in Leipzig wieder in Berlin lebt, konzentriert sich diesmal auf die deutsche Sprache und auf den Umgang mit ihr. Und Letzteres ist für einen Schreiberling das Schwierige an der ganzen Rezension. Man will nicht die Worte verwenden, die mein Lieblingsautor (Kann man das so sagen?) anprangert und auf die Müllhalde der deutschen Sprache wirft. Worte, wie: „Teamplayer“, „Transparenz“ und „Good Flow Mitarbeiter“ gehören dazu. Diese werden dann vom Autor persönlich mit Eleganz, Schwung und Grazie auseinander genommen und gleichzeitig die Verwender durch wohlgeformte und aussagekräftige Sätze der Lächerlichkeit preisgegeben. Viel Selbsterlebtes kommt zum Vorschein, wie die Geschichte mit der Deutschen Bahn, die lieber das große Geld mit dem Gütertransport zwischen China und Amerika verdienen will und noch nicht einmal in der Lage ist, den Wiglaf auf seinen Lesetouren ordentlich von Berlin nach Hoyerswerda und dann noch nach Zittau zu befördern. Um in letztere Stadt zu kommen, müssen gar Busse bestiegen werden. In der dazu gehörigen Geschichte „SM-Reisen“ gibt es den gar herrlichen Reim: „Was hat Herr Grube an Stuttgart so gern? / Auf dem Hauptbahnhof den Mercedes-Stern“. Das stimmt verdammt noch mal, die Bahn ist wirklich dabei, ihre Kunden immer mehr auf die Autobahn zu treiben, denn mit Regionalbahnen kann man nur wenig Profit machen, die Pendler sind nicht wichtig.
Was Wiglaf Droste nicht mag, was in seinen Augen überflüssig ist, prangert er an und schreibt dazu tolle Geschichten. Auch Journalisten, die nichts Kritisches mehr veröffentlichen, in ihren Blättern am liebsten die Werbung präsentieren, bekommen ihr Fett weg. Herrlich und besonders wichtig ist der Text über das komische Wörtchen „Jogi“, das man zu gerne dem Nationaltrainer Löw verpasst, der eigentlich Joachim heißt und schon lange nicht mehr in der Spielgruppe sein Unwesen treibt. Warum wird Gauck nicht auch „Jogi“ genannt? Gerne schreibt der in Herford/Westfalen Geborene und in der Jungen Welt, Das Magazin, NZZ und im MDR Veröffentlichende über gutes Essen, über wunderbare Havanna-Zigarren, die das Rauchen lohnenswert machen, über Wein und über die neuen deutschen Schlagerhelden, die halbalphabetisiert singen: „Wenn Worte meine Sprache wären.“ Weiter gehen die Kritiken, Satiren und feine Prosastücke über Menschen, die bis zur Obergrenze vernetzt sein müssen, über Worthülsen, Phrasendrescherei und die Burnout-Krankheit, die im Moment absolut In ist. Das Buch „Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv“ ist wohlgeraten und sollte von der ganzen Menschheit gelesen werden. Und wer dabei einen „Cafe-to-go“ konsumiert, ist ein Schweinehund und hat das Buch nicht verstanden.

Thomas Behlert

Wiglaf Droste: Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv, Edition Tiamat, Berlin 2013, 240 Seiten, 14,00 Euro.

Die Müllecke

Der von uns geschätzte Publizist Hans-Dieter Schütt hat ein dickes Buch über Goethe gelesen. „Goethe schreibt, Goethe plant, Goethe zeichnet, Goethe prüft, Goethe ordnet, Goethe korrespondiert, Goethe empfängt, Goethe ruht, Goethe liest. Das alles an einem einzigen Tag.“ So lautet sein bewunderndes Fazit im Neuen Deutschland. Er vergaß hinzuzufügen: Goethe trinkt (Rotwein literweise), Goethe „frisst unmäßig“ (Jean Paul), Goethe ranzt Christiane an, Goethe geht aufs Klo. Wie schaffte der das bloß? „Goethe ist ein Meister seiner selbst“, erfährt der staunende Leser. Und der Autor empfiehlt uns kleineren Geistern zumindest den Aufblick zum Aufstieg: „Das lehrt schon jede Baumkrone.“ Baumkronenaufblick-Erfahrene wissen aber auch, dass dabei leicht etwas ins Auge gehen kann. In Baumkronen sind „unsere kleinen gefiederten Freunde“ (Alfred Hitchcock) zugange.

G.H.