von Erhard Crome
Der Spiegel, neben FAZ und BILD eines der drei sogenannten Leitmedien dieses Landes, hat jüngst die bedrohlichen Entwicklungen auf der koreanischen Halbinsel mit einem Titelblatt kommentiert, auf dem „Kim Jong Bumm“ als „Nordkoreas verrückter Atomkrieger“ bezeichnet wird. Drinnen, in dem Titel-Beitrag, wird Kim Jong Un stracks zum „Feind der Welt“ erklärt, ein „unberechenbarer Diktator“, der mit einem Atomkrieg drohe.
Der Schluss-Satz des Beitrages lautet: „Was Mubarak, Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi bis zuletzt umtrieb, treibt wohl auch Kim Jong Un im Tiefsten an – die Sicherung seiner Herrschaft. Vieles hat er mit diesen Verlierern der Weltgeschichte gemeinsam. Eines aber hat er ihnen voraus: die Bombe.“ Was scheinbar zutreffend ist, erweist sich bei näherem Hinsehen als zutiefst verzerrende Aussage: Mubarak wurde durch einen Aufstand entmachtet, zu dem das eigene Volk sich erhoben hatte. Saddam Hussein und Gaddafi dagegen wurden durch völkerrechtswidrige Kriege gestürzt, die der Westen gegen Irak und Libyen geführt hatte. Und in der Szenerie der außenpolitischen Beobachter herrscht weitgehende Einigkeit, dass derartige Kriege nur gegen Staaten geführt werden, die einer Streitmacht der USA, respektive von NATO-Staaten konventionell wenig entgegenzusetzen haben und die nicht über Atomwaffen verfügen. Einer der Gründe, weshalb Nordkorea in den vergangenen Jahren zielstrebig eine inzwischen als unstreitig vorhanden angesehene Nuklearwaffenkapazität entwickelt hat, ist genau der: Nach den Erfahrungen seit dem Ende des Kalten Krieges werden nur Staaten von westlichen Truppen überfallen, die nicht über Atomwaffen verfügen.
Die nordkoreanischen Bomben sind eine Art Rückversicherung. Und die ist nur vor dem Hintergrund der Besonderheiten des geteilten Landes zu verstehen. Der seit Juni 1950 tobende Koreakrieg endete vor knapp sechzig Jahren, am 27. Juli 1953, mit dem Waffenstillstand von Panmunjom – der Vorkriegszustand wurde mit geringfügigen Veränderungen wieder hergestellt; es blieben zwei Koreas mit einer Demarkationslinie am 38. Breitengrad und einer schmalen entmilitarisierten Zone. Bei dem Zeremoniell selbst weigerten sich die Vertreter der USA, sich mit denen Nordkoreas an einen Tisch zu setzen. Die Feindschaft des Krieges – etwa eine Million Soldaten aller Seiten war gefallen und es gab drei Millionen Tote unter der Zivilbevölkerung, der größte Teil des Landes war zerstört, im Norden wie im Süden – wurde so in die Nachkriegszeit mit hinübergenommen. Und: ein Waffenstillstand ist kein Friedensvertrag, sondern lediglich ein Anhalten des Krieges. Damit war auch der Anspruch beider Koreas, jeweils das Ganze zu verkörpern und zu beanspruchen, nicht erledigt.
Beide Koreas wurden am 17. September 1991 zeitgleich UNO-Mitglieder – gleichsam nach dem Beispiel der beiden deutschen Staaten, die am 18. September 1973 den Vereinten Nationen beitreten konnten. Was viele Beobachter jedoch übersehen ist, dass die UNO für den Norden nicht als die neutrale Institution erscheint, die sie nach UNO-Charta in regionalen Konflikten sein sollte. Die USA und ihre Verbündeten hatten gegen Nordkorea und seine Unterstützer aus der Sowjetunion und China unter der UNO-Flagge gekämpft, weil an der entscheidenden Sitzung des UNO-Sicherheitsrates der sowjetische Vertreter nicht teilgenommen hatte und deshalb kein Veto einlegen konnte – die UdSSR hielt es damals für eine gute Idee, die Arbeit der UNO zu boykottieren, um so dagegen zu protestieren, dass weiter der Vertreter Taiwans auf dem Ständigen Sitz Chinas im Sicherheitsrat saß und dies dem Vertreter der Volksrepublik China verwehrt wurde. (Die Volksrepublik konnte den Sitz im Oktober 1971 einnehmen, nachdem die Beziehungen zu den USA normalisiert worden waren.) Dabei hatte Moskau übersehen, dass Nichtteilnahme nicht die Arbeit der UNO an sich behindert. Nach diesem diplomatischen Fiasko kehrte der sowjetische Vertreter zurück, doch das Führen des Korea-Krieges seitens der USA unter der UNO-Flagge konnte nicht rückgängig gemacht werden.
Die Tatsache, dass seit dem 1. Januar 2007 mit Ban Ki-moon ein ehemaliger Außenminister Südkoreas UNO-Generalsekretär ist, erhöhte nicht unbedingt das Vertrauen Nordkoreas in die UNO. Insofern sind verschärfte Sanktionen, die der UNO-Sicherheitsrat beschließt, aus nordkoreanischer Sicht nicht ein nachdrückliches diplomatisches Instrument, sondern die Fortsetzung des Krieges von 1953 mit anderen Mitteln.
Die internationale Lage Nordkoreas blieb prekär. Vom Westen geschnitten und weiter bekämpft, nach dem Fiasko des Realsozialismus in Osteuropa weiterer Partner verlustig gegangen, blieb die geopolitische Konstellation. China ist nicht daran interessiert, dass die USA auf koreanischem Boden bis an seine Grenze vorrücken. Insofern bleibt Nordkorea in gewissem Sinne eine Pufferzone zwischen den beiden Mächten, und China unterstützt Fortexistenz und Grundstabilität Nordkoreas. Russland will ebenfalls Stabilität und Ruhe in der Region und eine weitere Verschärfung der Lage vermeiden. 1961 hatte die Koreanische Demokratische Volksrepublik Freundschaftsverträge mit der Sowjetunion und mit China abgeschlossen, die auch eine militärische Beistandsklausel enthielten. Russland hatte diesen Vertrag 1996 aufgekündigt; 2006 wurde ein neuer Vertrag abgeschlossen, jetzt ohne Beistandsklausel.
Nach dem Bruch zwischen Moskau und Peking in den 1960er Jahren setzte der damalige „Große Führer“ Kim Il-sung, der Großvater von Kim Jong Un, auf ein Stützen auf die eigenen Kräfte, dem er mit der sogenannten Dschudsche-Ideologie ein spezielles ideologisches Gewand zu geben versuchte. Bis Ende der 1960er Jahre war der Norden dem Süden wirtschaftlich überlegen. Dann setzte im Süden eine beschleunigte kapitalistische Entwicklung ein, in deren Ergebnis das Land heute als eine der zehn stärksten Volkswirtschaften der Welt gilt. Der Norden ist ein zurückgebliebenes Entwicklungsland. Allerdings setzte Kim Jong-il, der Nachfolger und Sohn Kim Il-sungs und Vorgänger sowie Vater Kim Jong Uns, auf eine Konzentration aller Kräfte des Landes und der Volkswirtschaft auf das Militär, insbesondere die Entwicklung der Atombombe und von Raketenwaffen. Dabei gab es offensichtlich auch eine Zusammenarbeit mit Pakistan und dem Iran.
Grundlage politischer Entscheidungen ist stets nicht die Lage, wie sie „wirklich“ ist oder äußere Betrachter oder spätere Generationen sie sehen, sondern wie die jeweiligen Akteure sie einschätzen. Die USA hatten während des Korea-Krieges mehrmals erwogen, auch Atomwaffen einzusetzen. Sowohl China als auch Nordkorea hatten damals keine und sahen sich auf die Unterstützung der Sowjetunion und Skrupel in der US-amerikanischen Führung verwiesen. China löste für sich das Problem, indem es seit den 1960er Jahren eine eigene nuklearstrategische Waffenfähigkeit entwickelte.
Nordkorea ging spätestens nach dem Ende des Realsozialismus in Osteuropa davon aus, dass es sich auf niemanden verlassen könne und daher eigene Atomwaffen brauche. Die wirtschaftliche und technische, am Ende auch gesellschaftspolitische Überlegenheit des Südens wird als Bedrohung angesehen, und da der Norden auf diesen Gebieten nicht konkurrieren kann, bleibt das Militärische. Säbelrasseln im Süden, etwa in Gestalt gemeinsamer Manöver mit den dort stationierten hochgerüsteten US-Truppen, erscheint so als zusätzliche Bedrohung und immer als möglicher Auftakt für eine Angriffsoperation. (In der Zeit des Kalten Krieges waren in Europa Warschauer Vertrag und NATO auch jeweils in höchster Alarmbereitschaft, wenn die andere Seite größere Militärmanöver veranstaltete.) Insofern war die Erklärung des Nordens, gegebenenfalls weitreichende Raketenwaffen einzusetzen, keineswegs eine irrationale Antwort.
Es gibt keine Alternative zu Verhandlungen. In diesem Sinne ist die Kündigung des Waffenstillstandes vom 1953 und die Erklärung, sich mit dem Süden im Kriegszustand zu befinden, tatsächlich eine Aufforderung insbesondere an die USA, zu Verhandlungen zu kommen, über denen nicht Vorbedingungen stehen. Jede Erwartung eines baldigen Regimewechsels in Nordkorea und jeder Versuch, ihn tatsächlich von außen herbeiführen zu wollen, vergrößert dagegen in der Tat die Gefahr eines Krieges.
Zum Wiederlesen: Kim zum Dritten, in: Das Blättchen, Nr. 26/2011; Die koreanische Frage, in: ebenda, Nr. 1/2012.
Schlagwörter: China, Erhard Crome, Kim Jong Un, Korea, Russland, UNO, USA