Herr Bertram, zu Beginn der laufenden Legislaturperiode beklagten Sie: „Wer nach der internationalen Strategie Deutschlands fragt, muss sich mit den Gemeinplätzen im Koalitionsvertrag bescheiden.“ Jetzt sind wir am Ende der Legislaturperiode. Hat sich am Befund etwas geändert?
Bertram: Nein, in Deutschland herrscht wachsende strategische Gleichgültigkeit – und zwar schon länger als eine Dekade. Als ich 1998 die Leitung der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) übernahm, da hoffte ich, das vereinigte Deutschland werde nun anfangen, sich Gedanken zu machen über seine Stellung in der Welt, würde seine Interessen debattieren und einen eigenen Gestaltungsehrgeiz entwickeln. Als ich 2005 aufhörte, hatte ich das Gefühl, wir sind nicht wesentlich weiter gekommen. Und das Gefühl habe ich heute immer noch.
Eine Ursache liegt gewiss darin, dass die Umstände, die unsere Sicherheit tangieren und gefährden können, heute sehr viel weniger greifbar sind als in den Zeiten der klaren und somit einfachen Ost-West-Dichotomie des Kalten Krieges.
Auch ist Deutschland lange gut damit gefahren, andere machen zu lassen und sich nur gelegentlich zu beteiligen – wenn auch nicht auf der Grundlage eigener konzeptioneller Vorstellungen, sondern eher aus bündnispolitischen Erwägungen.
Woher sollten die konzeptionellen Vorstellungen auch kommen? Werfen Sie bloß einen Blick auf das außenpolitische Personal im Lande – von der Kanzlerin über den Verteidigungs- und den Außenminister bis hinein in die Bundestagsfraktionen: allenthalben eine Laissez-faire-Attitüde ohne erkennbare Richtung – frei nach dem Motto „Das wird sich alles schon irgendwie richten, da müssen wir uns keine besonderen Gedanken machen!“. Da gelten Sprüche wie andere Länder „ins Boot holen“ oder „einbinden“ schon als strategische Erkenntnisse!
Was sind eigentlich unsere sicherheitspolitischen Prioritäten? Für mich sind das an vorderster Stelle die Europäische Union und das Bündnis mit Amerika – das ist das Fundament, auf dem alles aufbauen muss. Ich kann nicht erkennen, ob die Bundesregierung diese Prioritäten noch hat oder ob es inzwischen vielleicht andere gibt. Es wird, außer in Allgemeinplätzen und punktuellen Aktionen, nicht darüber gesprochen, und – was viel schlimmer ist – es lässt sich auch nichts Konzeptionelles aus den außenpolitischen Aktivitäten der Bundesregierung ableiten.
Die Kanzlerin äußerte unlängst angesichts der Meinungsunterschiede in der EU über die richtige Syrien-Politik, Einigkeit sei kein Selbstwert. Aber durch Zusammenwirken mit unseren europäischen Partnern erhalten wir doch erst internationales Gewicht! Das Verhältnis zu den USA, zu Russland, unser Verhalten zu den Vorgängen in der arabischen Welt – wohin man sieht, nur unverbindliche Floskeln . Bundesverteidigungsminister de Maizière beklagt zwar das Fehlen jeglicher sicherheitspolitischer Debatte im Lande, aber wo bleibt sein Beitrag, um eine solche anzustoßen?
Dabei besteht an strategischen sicherheitspolitischen Herausforderungen, die den Westen, Europa und damit Deutschland berühren, kein Mangel. Lassen Sie uns einige Revue passieren, wobei Reihenfolge nicht unbedingt Rangfolge bedeutet.
Über 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Wegfall des Systemantagonismus stecken die Beziehungen des Westens, speziell der NATO, zu Russland offenbar immer noch in den alten Schützengräben. Jedenfalls befinden sie sich schon seit längerem an einem toten Punkt. Dabei ist kaum zu bestreiten, dass Sicherheit in und für Europa auf Dauer weder ohne noch gar gegen Russland zu haben ist und dass solche Konfliktherde wie Afghanistan oder Irak, die atomare Krise mit dem Iran oder der Bürgerkrieg in Syrien ohne substanzielle Beteiligung Russlands schwerlich lösbar sein werden. Trotzdem sind nicht nur die USA, sondern ist offenbar auch die NATO insgesamt nach wie vor nicht bereit, Moskau als gleichberechtigten Partner zu akzeptieren, wie insbesondere der Konflikt um die amerikanischen Raketenabwehrpläne für Europa zeigt …
Bertram: Gravierende sicherheitspolitische Probleme Europas können zwar ohne Russland nicht gelöst werden, ich frage mich aber zunehmend, ob sie eigentlich mit Russland zu lösen sind. Das Land ist dem Westen in den letzten zehn, 15 Jahren, immer fremder geworden – sowohl in seiner inneren Verfasstheit, als auch in seinem internationalen Auftreten. Nehmen Sie das Strafmaß für die jungen Frauen von Pussy Riot, die Blockade im UN-Sicherheitsrat gegen Lösungsversuche für die Syrienkrise oder jüngste Schritte wie die Auflage für NGOs und Stiftungen, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, sich als „ausländische Agenten“ zu registrieren. Die gegenwärtige Führung in Moskau ist offenbar in ein Verhaltensmuster zurückgefallen, das seit Katharina der Großen das sicherheitspolitische Denken in Russland bestimmt hat: Man sieht sich von feindlichen Mächten umgeben, gegen die Russland sich schützen muss.
Mit Russland heute überhaupt irgendetwas gemeinsam machen zu wollen, erscheint mir ganz, ganz schwierig – nicht weil der Westen es nicht möchte, sondern weil Russland dahinter allzu leicht finstere Absichten vermutet. Ich habe selbst vor einigen Jahren dafür plädiert, dass die NATO Moskau eine offizielle Beitrittsofferte unterbreiten sollte, um damit zu zeigen, dass Russland als gleichrangiger Partner anerkannt wird, und um dem Misstrauen der russischen Führung gegenüber dem Westen den Boden zu entziehen. Vielleicht hätte man damit auch Modernisierungsschübe in Russland ermutigen können. Heute habe ich Zweifel, dass solch ein Schritt noch Sinn hätte, weil Moskau inzwischen wieder in jeder westlichen Aktivität vornehmlich die Absicht zur Unterminierung wittert.
Dann übernehme ich an dieser Stelle mal die Rolle des Advocatus Diaboli und stelle fest: Mir erscheint das russische Misstrauen gegenüber dem Westen mitnichten unverständlich. Russland war seit 1990 wiederholt mit einem Westen konfrontiert, der einseitig und gegen russische Interessen die Spielregeln änderte, wenn ihm das opportun erschien – von der wiederholten Verschiebung der NATO-Außengrenzen in Richtung Russland über die Nichtratifizierung des angepassten Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) von 1999 und die Kündigung des ABM-Vertrages durch die Bush-Administration im Jahre 2002 bis zur Stationierung erster Einheiten zur Raketenabwehr im Mittelmeerraum. Insgesamt hat sich – nach den Worten Wolfgang Ischingers – in „der russischen Elite […] daher die Ansicht durchgesetzt, der Westen sei an Zusammenarbeit nur dann interessiert, wenn sich die russische Führung den westlichen Bedingungen unterordne“.
Hinzu kommt, dass russische Angebote, die Zusammenarbeit mit Europa im Bereich Energie langfristig auszubauen und darauf eine Modernisierungspartnerschaft mit Russland zu begründen, unter anderem von Deutschland abgelehnt worden sind. Stattdessen sieht sich Moskau immer wieder mit dem Menetekel politischer Erpressbarkeit des Westens infolge Energie-Abhängigkeit konfrontiert, obwohl die Sowjetunion dergleichen nicht einmal in den heißesten Phasen des Kalten Krieges, etwa nach dem NATO-Doppelbeschluss von 1979, auch nur ansatzweise versucht hat. Die westliche Einstellung zu Russland ist also offenbar selbst nicht frei von paranoiden Zügen.
Das und mehr kann man gegeneinanderstellen und dann bei der Konsequenz landen: Strategische Partnerschaft mit Russland geht eben doch nicht. Das ist aber halb so schlimm – dann verlassen wir uns halt weiter auf die nukleare Abschreckung …
Mich allerdings bewegt vielmehr die Frage, wie man diesen gordischen Knoten zwischen dem Westen und Russland, der in den letzten Jahren durch politischen Rückschritt bei gleichzeitiger Renaissance tradierter Feindbilder gekennzeichnet war, vielleicht doch lösen könnte.
Bertram: Auch ich würde mir wünschen, dass dies passiert. Und es gibt ja hier und da hoffnungsvollere Zeichen. Wir haben jetzt auf amerikanischer Seite eine Administration, die nicht so denkt, wir ihre republikanischen Vorgänger, und über mehr außenpolitischen Spielraum verfügt. Ermutigend ist auch der vor kurzem vom US-Verteidigungsministerium mitgeteilte Verzicht auf die vierte Stufe des geplanten Raketenabwehrsystems in Europa, in der Russland eine mögliche Gefährdung seiner Atomraketen sah. Aber wird Moskau dies positiv aufgreifen? Oder nehmen Sie die taktischen Atomwaffen in Europa. Sie sind eigentlich längst überflüssig. Dennoch ist hier ein Bereich, der dem Westen wegen des großen russischen Übergewichts – nach NATO-Angaben verfügt das Land in seinen europäischen Regionen über etwa 2.000 einsatzbereite taktische Kernsprengköpfe – Sorgen bereitet. Aber wäre denn Russland bereit, darüber zu verhandeln?
Das glaube ich nicht – es sei denn, man böte eine Verbindung zu konventionellen Streitkräften an, in deren Hauptkategorien (Panzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artillerie, Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber) die russische Seite der NATO inzwischen hoffnungslos unterlegen ist. Eine Kompensation dafür sieht Moskau in seinem taktischen Atompotenzial. Zu Zeiten des Kalten Krieges ließen sich die USA bei der Dislozierung nuklearer Gefechtsfeldwaffen in der Bundesrepublik ja von sehr vergleichbaren Überlegungen leiten. Konventionelle Streitkräfte und taktische Kernwaffen hängen insofern zusammen. Um mit Russland über die letzteren ins Gespräch zu kommen, wäre die Ratifizierung des KSE-Abkommens von 1999 vielleicht ein zielführender Auftakt.
Bertram: Ja – das könnte durchaus sein. Ich wäre auch für eine großzügigere, langfristig angelegte Herangehensweise des Westens, sehe aber derzeit nicht, wo die herkommen, wer die Initiative ergreifen sollte. Gerade hat eine Gruppe wichtiger Persönlichkeiten, darunter neben Ischinger auch der frühere russische Verteidigungsminister Ivanov und der frühere US-Senator Nunn, ein Thesenpapier zur Verbesserung der Beziehungen im euro-atlantischen Raum publiziert – aber bezeichnenderweise kommt es über den Vorschlag für mehr Vertrauensbildung und militärische Transparenz nicht hinaus. Richtig und gut. Aber soweit waren wir vor Jahren schon einmal!
Das bringt mich zur Kernfrage: Gibt es überhaupt ein substanzielles Interesse des Westens an einem nachhaltig kooperativen Verhältnis zu Russland?
Bertram: Natürlich gibt es ein solches substanzielles Interesse des Westens: Russland ist da und wird da bleiben. Das Land hat alle Möglichkeiten, anderen das Leben schwieriger zu machen, wenn es das will. Und eine negative gesellschaftliche, wirtschaftliche oder gar militärische Entwicklung in Russland würde nicht nur dem Land selbst, sondern allen seinen Nachbarn in höchstem Maße schaden. Nur sehen die Chancen, dieses Interesse durch einen Dialog mit Putins Russland voranzubringen, zurzeit nicht sehr vielversprechend aus.
Ansatzpunkte ließen sich meines Erachtens dort finden, wo russische Sicherheitsinteressen nach Moskauer Einlassungen besonders betroffen sind. Das KSE-Abkommen habe ich genannt. Ein Angebot der USA, den jetzt erklärten Verzicht auf Stufe vier einer Raketenabwehr in Europa mit Russland in die Form einer vertraglichen Vereinbarung zu bringen – etwa in Verbindung mit einem nächsten New Start-Abkommen – wäre eine weitere Möglichkeit. Dabei müsste jedoch die Frage im Auge zu behalten werden, dass Washington – unter Verweis auf Nordkorea – die Stufe vier in Alaska verstärken will. Da ist die russische Zweitschlagskapazität ebenfalls tangiert.
Derzeit sieht es allerdings nicht so aus, als wären in nächster Zeit Erfolg versprechende Initiativen zur Verbesserung des bilateralen Verhältnisses aus dem Westen oder aus Russland zu erwarten. Moskau hat im Übrigen ja noch andere strategische Möglichkeiten – etwa die BRICS-Staaten und das Engagement in der Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit, aber nicht zuletzt auch die Annäherung an Peking.
Bertram: Das sind aber doch keine Trumpfkarten im Ärmel von Herrn Putin. BRICS ist eine Buchstabenverbindung, keine Allianz. Die Shanghai-Organisation tritt hier und da zusammen. Aber mehr als Konsultationen hat sie bisher nicht hervorgebracht. Und Russlands chinesische Karte? Da ist doch sehr die Frage, ob in diesem Verhältnis der Hund mit dem Schwanz wedelt oder umgekehrt. Nein, auch Russland ist auf die Zusammenarbeit mit dem Westen angewiesen.
Verlassen wir Russland und kehren zu einem Stichwort zurück, dass bereits aufgerufen wurde: taktische Kernwaffen. Nach der Beendigung des Kalten Krieges haben die USA zwischen 95 und 98 Prozent ihrer Bestände aus Westeuropa abgezogen. Aber 150 bis 200 nukleare B-61-Bomben lagern noch auf den Territorien von fünf europäischen NATO-Staaten – davon bis zu 20 auf dem Fliegerhorst der Bundesluftwaffe in Büchel in der Eifel, um gegebenenfalls mit Tornado-Kampfbombern eingesetzt zu werden. Nukleare Teilhabe heißt das im NATO-Jargon, und es gibt Stimmen, die darin eine Verletzung der deutschen Verpflichtungen aus dem Kernwaffensperrvertrag sehen.
Sinnvolle militärische Ziele für dieses Rudiment des Kalten Krieges gibt es nicht. Und dass man Russland mit dem amerikanischen Restpotenzial an Verhandlungen über diese Waffen interessieren könnte, wird zwar behauptet, ist aber schon wegen der Verknüpfung mit dem konventionellen Bereich unrealistisch.
Manche hierzulande halten die Nukleare Teilhabe weiterhin für eine wirksame Klammer, Amerika auch künftig an Europa und Deutschland zu binden. Daher verfolgt die Bundeskanzlerin das in der aktuellen Koalitionsvereinbarung auf Drängen der FDP fixierte Ziel, den Abzug dieser Waffen zu erreichen, auch nicht wirklich und lehnt folgerichtig das amerikanische Vorhaben, die veralteten B-61 ab etwa 2019 durch grundlegend modernisierte Systeme zu ersetzen, nicht ab. Wie bewerten Sie diesen Komplex?
Bertram: Sie haben völlig Recht – ein militärischer Nutzen dieser Systeme ist nicht zu erkennen, allenfalls ein geringer Abschreckungswert für höchst unwahrscheinliche Konfliktszenarien, und ob sie sich als Instrument für eine rüstungskontrollpolitische Initiative gegenüber Russland eignen, ist zweifelhaft. Aber wenn man bei dieser Feststellung stehen bleibt, passiert das, was Außenminister Westerwelle passiert ist, als er zu Beginn seiner Amtszeit versucht hat, den vollständigen Abzug der taktischen US-Kernwaffen aus Europa in der NATO zu erreichen. Da kam der Widerstand weniger aus Washington als vielmehr von einigen neuen osteuropäischen NATO-Staaten, in deren Vorstellung von Sicherheit – wegen ihrer speziellen Vorbehalte gegenüber Russland – eine nukleare amerikanische Komponente in Europa nach wie vor ein wichtiges Element ist. Es ist nicht die militärische Verwendbarkeit nuklearer Waffen, sondern ihre politische Symbolkraft, die für diese Länder wichtig ist. Das müssen ihre Bündnispartner berücksichtigen.
Themenwechsel – ziemlich genau vor 20 Jahren, am 2. April 1993, beschloss das Kabinett unter Helmut Kohl den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr – zur Überwachung der damaligen Flugverbotszone über Bosnien. Ein führendes Hamburger Nachrichtenmagazin vermerkte dazu dieser Tage lapidar: „Es war der erste Krieg, in dem die Bundeswehr kämpfte.“ Heute sind in elf vom Bundestag abgesegneten Einsätzen – in regionalen Konflikten auf drei Kontinenten – über 6.500 Bundeswehrangehörige unterwegs. Wie fällt Ihre Bilanz dieser Entwicklung aus?
Christoph Bertram: Mich hat damals die Behauptung nie überzeugt, das Grundgesetz untersage, die Bundeswehr „out of area“, also jenseits des NATO-Bündnisbereiches einzusetzen. Insofern habe ich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1994 sehr begrüßt, dass die Bundeswehr im Rahmen von „Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit“, zu denen das Gericht neben den Vereinten Nationen auch die NATO zählte, aktiv werden darf.
Die Weltlage nach Beendigung des Kalten Krieges war eine andere geworden. Konflikte, zuerst auf dem Balkan, brachen auf, die deutsche Sicherheitsinteressen tangierten, und ich hielt es immer für notwendig, dass die Bundesrepublik diese Interessen auch schützen können sollte. Das maßgebliche Kriterium für die Entscheidung, ob Deutschland Streitkräfte in eine Konfliktsituation entsenden soll oder nicht, ist für mich, ob eine demokratisch gewählte Regierung mit Unterstützung ihres Parlaments zu der Überzeugung gelangt, dass deutsche Sicherheitsinteressen einen solchen Einsatz verlangen, und diese Interessen überzeugend artikuliert. Dann ist es auch ethisch-moralisch gerechtfertigt, dort Soldaten hinzuschicken – und Risiken für deren für Leib und Leben einzugehen.
Bei einigen der gegenwärtig elf Einsätze der Bundewehr – zum Teil sind nur sehr geringe deutsche Kräfte vor Ort, in der Demokratischen Republik Kongo laut Spiegel zum Beispiel zwei Mann – greift noch ein weiteres Kriterium. Diese Aktivitäten sind Bestandteil von UNO-Missionen zur Stabilisierung in Spannungsgebieten. Auch dies finde ich natürlich und richtig: Deutschland kann und darf sich beteiligen, wenn es von der internationalen Gemeinschaft dazu aufgefordert wird.
Ich habe infolgedessen kein Problem damit, dass die Bundeswehr ihre entsprechenden Fähigkeiten in den letzten 20 Jahren ausgebaut hat. Und die Behauptung mancher Kritiker, hier vollziehe sich eine Militarisierung der deutschen Außenpolitik, entbehrt jeder sachlichen Grundlage.
Und Afghanistan?
Bertram: Dieser Einsatz kam auf der Grundlage der Beistandspflicht gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrages zustande. Die USA waren angegriffen worden, und die Drahtzieher saßen in den Bergen von Afghanistan. Zwar kennt der NATO-Vertrag keine automatische Beistandspflicht, aber dass Deutschland in diesem Falle von Anfang an solidarisch an der Seite der USA agierte, war richtig.
Ich bin sicher nicht der Einzige, der befürchtet, dass die Situation in Afghanistan kurze Zeit nach dem Abzug der Masse der westlichen Kampftruppen, der jetzt im Gange ist, wieder so sein wird wie zum Zeitpunkt des Beginns der Intervention – nicht was Al-Kaida anbetrifft, sondern im Hinblick auf die Taliban, deren Rückeroberung der Macht im Lande dann kaum aufzuhalten sein dürfte. Das kann’s doch nicht gewesen sein? Und schon gar nicht, wenn man den Blick auch noch auf den Irak und auf Libyen richtet.
Andererseits war außenpolitischen Insidern in Frankreich, in den USA, auch bei den Vereinten Nationen rechtzeitig klar, was sich in Ruanda anbahnte, doch dorthin ist keine ausreichende UNO-Mission entsandt worden, um den Genozid zu verhindern.
Alles in allem: Sehr viele Erfolge hat es in 150 Jahren des militärischen Interventionismus nicht gegeben …
Bertram: Das hängt davon ab, was Sie als Erfolg bewerten. Wenn als Erfolg nur gelten soll, dass Soldaten und Entwicklungshelfer einem kaputten Land in wenigen Jahren funktionierende Strukturen verschaffen, die auch nach dem Abzug Bestand haben, dann wird es nie einen Erfolg geben. Ein Land, das im Verfall begriffen ist, von außen zu stabilisieren, ist eines der schwierigsten Unterfangen überhaupt. Daran ist man bisher meist gescheitert, und das wird in Zukunft kaum anders sein.
Hinzu kommen die Fehler, die immer gemacht werden. Im Hinblick auf Afghanistan kann man jetzt natürlich darüber streiten, ob man nicht mit sehr viel stärkeren Kräften in direkten Kampfeinsätzen von Anfang an hätte mehr erreichen können. Vor allem wenn Bush nicht die verrückte Idee gehabt hätte, er müsste Irak angreifen – mit all den fürchterlichen Folgen, die das wiederum hatte, einschließlich des dadurch bedingten Abzugs dringend in Afghanistan benötigter Truppen.
Aber auch wenn die Aussichten auf langfristige Stabilisierungserfolge bei militärischen Interventionen außerordentlich gering sind, kann man daraus wirklich den Schluss zu ziehen, dann lassen wir es besser? Gewiss, der Einsatz in Afghanistan kann nicht den dauerhaften Erfolg bringen, den Regierungen so gern verkünden würden Aber wäre die Lage für viele Menschen in der Region heute nicht viel schlechter ohne den internationalen Beistand? Es kann doch niemand ernsthaft behaupten, Al-Kaida und die Taliban hätten besser einfach weitergemacht. Oder nehmen Sie Ihr Beispiel Ruanda, wo die Welt dem mörderischen Bürgerkrieg mit dem entschlossenen Einsatz von Ordnungskräften hätte Einhalt bieten können, aber untätig blieb. Bill Clinton hat sich später für dies Versäumnis entschuldigt. Aber die Schuld bleibt an uns haften.
Natürlich müssen wir aufpassen, nicht unbescheiden zu werden. Nation building bei anderen und die Festigung von Demokratie dort sind hehre, aber angesichts der begrenzten Geduld und Opferbereitschaft westlicher Demokratien meist illusionäre Ziele. Zeit gewinnen und Chancen eröffnen sind sehr viel realistischere Vorgaben. Wenn Sie die zugrunde legen, fällt die Bilanz von Einsätzen weniger enttäuschend aus.
Unserer Bundeskanzlerin wird nachgesagt, sie wolle lieber in zunehmendem Maße prowestliche Kräfte vor Ort mit Waffen und anderen militärischen Ausrüstungen „ertüchtigen“, statt die Bundeswehr in immer neue Konflikte zu verstricken. Dieser Ansatz hat überdies ökonomischen Charme, zumindest für die Wehrwirtschaft, der der Verteidigungsminister angesichts rückläufiger Nachfrage der Bundeswehr im Übrigen Unterstützung bei Exportbemühungen zugesagt hat. Stichwort: Panzer für die Saudis. Eine zukunftsträchtige Strategie?
Bertram: Ich halte die Vorstellung, dass die Kanzlerin so viel Waffen wie möglich in die Welt pusten wolle, weil das ihre Vorstellung von Einflussnahme sei, gelinde gesagt für ein wenig primitiv. Natürlich ist es für eine Regierung immer einfacher, Waffen zu schicken als eigene Soldaten, und auch lukrativer. Und wenn man sie nicht selbst liefern will, gibt es immer andere, die gern einspringen.
Aber bei den Rüstungsexporten wird zu häufig darüber weggesehen, dass man Empfängerländern kaum wirksam vorschreiben kann, wofür sie die erworbenen Waffen einsetzen wollen. Als die Saudis ihre importierten Panzer bei den Unruhen in Bahrein einsetzten, haben sie gewiss bei den Lieferanten nicht um Genehmigung angefragt. Schon deshalb ist Zurückhaltung beim Rüstungsexport Eigeninteresse. Denkt die Regierung in Berlin auch daran, wie schnell die politischen Verhältnisse in einem Empfängerland, gegebenenfalls über Nacht, kippen können – siehe arabischer Frühling? Mit solcher Zurückhaltung ist es unvereinbar, dass die Bundesrepublik als Rüstungslieferant im globalen Ranking heute auf Platz drei steht. Die Rückführung dieser Entwicklung auf einen politisch vernünftigen Umfang wäre dringend geboten. Das wird aber mit dem bisherigen Mechanismus schwerfallen – alle Entscheidungen werden im Geheimen im Bundessicherheitsrat getroffen, in dem nach allem, was man darüber weiß, keine wirkliche Meinungsbildung über den politischen Sinn oder Unsinn einzelner Geschäfte stattfindet. Viel spricht für deshalb für eine gewisse Parlamentsbeteiligung – zum Beispiel in der Art eines Ausschusses, wie er für die Geheimdienste existiert, um die verschiedenen Aspekte besser zu berücksichtigen.
Nächster Themenwechsel – im Atomkonflikt mit dem Iran hat es nach dem Konfrontationsfetischisten George W. Bush auch in der ersten Amtszeit des Friedensnobelpreisträgers Barack Obama keinen Fortschritt gegeben. Sie haben die Feststellung getroffen, dass die USA und ihre Verbündeten letztlich auch gar nicht „wirklich verhandeln“ wollten: „Sie verlangen vielmehr eine Kapitulation des Irans in der Atomfrage“ und reihten Sanktion an Sanktion – erfolglos. Trotzdem sei „alles, was dem Westen heute noch einfällt, […] Druck, Drohungen und vielleicht gar Gewalt“.
Sie plädierten demgegenüber bereits 2008 für einen Paradigmenwechsel in den Beziehungen zu Teheran. Wie sollte der aussehen? Was waren Ihre Argumente?
Bertram: 2003 hatte es eine große Chance gegeben, in diesem Konflikt zu einem Durchbruch zu kommen. Mit dem amerikanischen Einmarsch im Irak fürchtete Teheran die Gefahr eines Übergreifens auf Iran und unterbreitete damals sein bis dahin – und auch bis heute – weitgehendstes Angebot an den Westen. Die Bush-Administration weigerte sich, das Angebot auch nur zu prüfen. Später willigte Teheran in eine vorübergehende Einstellung der Urananreicherung und ein dichteres Verifikationssystem ein, ohne dafür mit Entgegenkommen aus Washington belohnt zu werden. Heute gärt der Konflikt immer noch und sukzessive wächst die Gefahr eines Krieges. Der Iran baut seine nukleare Produktion stetig weiter aus, ohne dass die immer härteren Wirtschaftssanktionen dies aufhalten können. Deshalb hoffte ich damals, der gerade gewählte Präsident Obama werde erkennen, wie unsinnig es ist, auf einer Politik zu verharren, deren Wirkungslosigkeit nur politisch Blinde nicht zu sehen vermochten.
Immerhin hat ja selbst im Kalten Krieg das westliche Zwillingskonzept von Abschreckung und Entspannung Wandel durch Annäherung und eine schrittweise Entschärfung des Konflikts möglich gemacht. Warum nicht auch gegenüber Iran? Deswegen forderte ich, die Islamische Republik nicht länger als Gegner zu sehen, sondern sie als Partner zu gewinnen. Ich sah dafür durchaus reale Anknüpfungspunkte – denn selbst einem Staat, der die Legitimität seiner Führung religiös begründet, ist nicht zu unterstellen, dass er Selbstmord begehen will. Und was den Westen anbetraf, so war und ist es auch in dessen Außenpolitik durchaus gängige Praxis, selbst Länder zum Kreis umworbener Sicherheitspartner zu rechnen, die es an demokratischer Struktur und Gesinnung fehlen lassen.
Von solcher Entspannung erhoffte ich dann auch eine Lösung des Atomkonflikts.
Und heute, fünf Jahre später?
Bertram: Da bleiben nur enttäuschte Hoffnungen. Obama hat, entgegen einiger Anzeichen zu Beginn seiner ersten Amtszeit, keinen wirklichen Neuanfang mit Iran versucht. Die Europäer, statt eine eigenständige Initiative zu versuchen, marschieren stramm hinter Washington her. Und Teheran seinerseits hat seine ambivalenten atomaren Programme noch weiter gesteigert. Auf Partnerschaft zu hoffen, war ein Traum. Und selbst für einen substantiellen Kompromiss fehlt heute die Bereitschaft Der Konflikt hat sich festgefressen.
Ihre Prognose?
Bertram: Die Uhr läuft. Wir schlittern In Richtung eines Krieges zu, den keiner will. Derzeit bewegt sich die Entwicklung auf einen Punkt zu, wo eine Militäraktion der USA oder Israels oder beider zusammen konkret werden kann. Ich meinerseits hatte mit diesem worst case bereits im vergangenen Jahr gerechnet. Aber dass er damals ausgeblieben ist, mindert nicht seine künftige Wahrscheinlichkeit.
Eine Militäraktion wäre dann so etwas wie eine self fullfilling prophecy – angesichts des westlicherseits immer wieder repetierten Mantras, dass eine iranische Bombe inakzeptabel sei?
Bertram: Was heißt inakzeptabel? Ein nuklear bewaffneter Iran wäre zwar in höchstem Maße unerwünscht, aber er würde kein Abrutschen in den Abgrund neuer atomarer Kriegsgefahr bedeuten. Die Iraner wissen, dass Atomwaffen einzig und allein zur Abschreckung taugen, dass nukleare Drohungen, etwa gegenüber Israel, unglaubhaft wären, und ein Nuklearschlag Selbstmord. Und die verbreitete Behauptung, andere Staaten in der Region würden auf den iranischen Besitz einer Bombe damit reagieren, dass sie selbst Kernwaffen anschaffen, halte ich für Panikmache. Das haben die Saudis und andere auch nach dem Eintritt Israels in den Atomklub nicht getan, und der liegt bekanntlich bereits Jahrzehnte zurück.
Ein Sachverhalt, dem in diesem Kontext wachsende Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist die sich abzeichnende Rückgewinnung der Energieautarkie durch die USA. Unkonventionelle Fördermethoden für bisher nicht erschließbare Vorkommen an Erdöl- und Erdgasreserven in Schieferformationen werden die USA in wenigen Jahren zum Energieexporteur machen. Ob dann im Falle eines Konfliktes der Iran die Straße von Hormus blockierte oder ob das Regime in Saudi-Arabien zusammenbräche – die Energieversorgung der USA wäre davon nicht mehr tangiert. Manche Experten befürchten, die USA könnten das Interesse am Nahen und Mittleren Osten verlieren. Andere mutmaßen eher das Gegenteil: Washington könnte dort weit ungehemmter agieren als bisher. Welche Perspektiven sehen Sie?
Bertram: Ich weiß, dass es eine populäre Vorstellung gibt, Energieinteressen bestimmten die Sicherheitspolitik von Staaten. Ich halte das für Unsinn. Für die strategischen Entscheidungen Washingtons ist der Faktor Energie nie ausschlaggebend gewesen – auch nicht im Hinblick auf den Nahen und Mittleren Osten. Da waren die Weltmachtrolle Amerikas und die enge Anbindung an Israel stets viel wichtiger. Und eine Abhängigkeit der USA von den Energieressourcen dieser Region existiert ohnehin schon lange nicht mehr. Insofern erwarte ich vom baldigen Öl- und Gasförderboom in den USA manches, aber keine nennenswerten Auswirkungen auf das die strategischen Interessen Amerikas im Nahen Osten.
Während im Hinblick auf den Iran derzeit niemand im Westen definitiv weiß, wie viele Schraubenzieherumdrehungen das Land gegebenenfalls noch von der Bombe entfernt ist, vollzieht sich im unmittelbaren Umfeld Teherans seit Jahrzehnten ein ganz reales nukleares Wettrüsten, und der Westen hat nicht nur praktisch nichts dagegen getan, sondern die Entwicklung sogar noch selbst befeuert. Auch die Bundesrepublik, die durch ihr Mittun in der so genannten Nuclear Supplier Group erst in jüngster Zeit aktiv dazu beigetragen hat, Indien durch die Hintertür vom atomaren Paria zur quasi offiziellen Atommacht zu adeln.
Im Hinblick auf Islamabad schrieben Sie bereits vor Jahren, dass „es im zunehmend brüchigen Pakistan unabwendbar werden könnte, das dortige Atom-Arsenal mit amerikanischen Sondertruppen außer Landes zu bringen, damit es nicht in die Hände radikaler Islamisten, gar die der Taliban oder al-Qaidas fällt“. Heute weiß man über das pakistanische Arsenal und die Worst-Case-Vorkehrungen Islamabads zumindest so viel, dass selbst diese Option im Falle des Falles wohl nur in der Katastrophe enden könnte.*
Südwestasien, aber auch andere Regionen der Welt stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem internationalen Regime zur Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (NPT). Diesbezüglich ist die Bilanz nach 45 Jahren – das entsprechende Abkommen war 1968 abgeschlossen worden – durchwachsen. Während Staaten wie Südafrika, Brasilien, Argentinien und Libyen ihren nuklearen Ambitionen entsagten, konnten Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea nicht am Kernwaffenerwerb gehindert werden. Derzeit wird Fortschritt im Nahen und Mittleren Osten vor allem dadurch blockiert, dass Israel sich weigert, an Gesprächen über eine kernwaffenfreie Zone in der Region auch nur teilzunehmen, während die Bundesrepublik die Lieferung nuklearfähiger Träger-U-Boote an Tel Aviv fortsetzt. Hat das NPT-Regime eine Zukunft?
Bertram: In dieser Frage bin ich verhältnismäßig gelassen: Das NPT-Regime funktioniert viel besser, als sein Ruf suggeriert. Wann ist denn seit Indien, Pakistan, Nordkorea und – möglicherweise – Iran noch ein Kandidat für die Liga der Atommächte aufgetaucht? 1968 war mit einer rapiden Proliferation gerechnet worden. Die ist aus durchaus unterschiedlichen Gründen, von denen zwar nicht alle primär im NPT wurzelten, aber alle auch mit diesem zu tun hatten, nicht eingetreten.
Warum sind denn nicht mehr Staaten den Weg atomarer Rüstung gegangen? Die Technologie ist zwar schwierig, aber keine unübersteigbare Hürde. Regierungen haben vielmehr nüchtern erkannt, dass der finanzielle und technische Aufwand und der internationale Druck, dem man sich aussetzt, in keinem Verhältnis zu dem stehen, was nukleare Waffen bieten können. Alles, was man dafür bekommt, sind Waffen, die nur um den Preis des eigenen Untergangs eingesetzt werden könnten und die begrenzt zur Abschreckung eines Angreifers taugen. Manche Staaten hat das trotzdem nicht abgehalten, aber insgesamt besteht kein Grund, nukleare Proliferation quasi als Naturgesetz zu betrachten – im Gegenteil. Das NPT-Regime ist durchaus eine Erfolgsgeschichte.
Und die Konfrontation zwischen Indien und Pakistan?
Bertram: Natürlich gibt es Risiken – vergleichbar denen zur Zeit des Kalten Krieges. Vor einigen Jahren drohte diese Konfrontation wegen Kaschmir bereits einmal der Kontrolle zu entgleiten. Doch auch in diesem Fall zuckten , wie früher Ost und West, beide Seiten selbst vor einem nicht-atomaren Waffengang zurück, aus Sorge, er könnte einen Atomkrieg auslösen.. Insofern wirken Kernwaffen eben doch mäßigend, auch wenn ich nicht so weit gehe wie der US-Politologe Kenneth Waltz, der behauptet, je mehr Nuklearmächte, desto weniger Kriege.
Die fünf ursprünglichen Atommächte hatten sich im Nichtweiterverbreitungsvertrag ja ihrerseits zu atomarer Abrüstung verpflichtet und sind dieser Festlegung – mit Ausnahme Chinas – auch partiell nachgekommen. Allerdings hat von diesen Mächten, wenn man von zeitweisen Visionen Gorbatschows und Obamas absieht, keine bisher nachhaltige Bereitschaft erkennen lassen, ihren Atommachtstatus wieder aufzugeben. Das liegt einerseits daran, dass diese Waffen ihren Besitzern zu einem Sonderstatus gegenüber dem Rest der Welt verhelfen, und resultiert andererseits daraus, dass die Doktrin der nuklearen Abschreckung eine bisher sakrosankte Säule im sicherheitspolitischen Selbstverständnis dieser Länder bildet. Wolfgang Ischinger warf in diesem Zusammenhang vor einiger Zeit die Frage auf, „ob das Gleichgewicht des Schreckens, das zwischen zwei Supermächten für eine gewisse Stabilität gesorgt hat, auch in einer Welt von fünfzehn oder mehr Atommächten und weiter wachsenden Weiterverbreitungsrisiken in Balance gehalten werden könnte. Alles in allem spricht […] viel dafür, dass die atomare Abschreckung keine adäquate und befriedigende Strategie für das 21. Jahrhundert darstellt. Die Risiken sind schlichtweg zu groß […].“ Wie ist Ihre Auffassung?
Bertram: Ich habe keinen Dissens mit Ischinger. Weil mit Kernwaffen nichts anderes als Abschreckung bewerkstelligt werden kann, halte ich persönlich es für wenig sinnvoll, dass Staaten in Nuklearrüstung investieren, und für so erwünscht wie risikolos, dass die großen Atommächte ihre Arsenale drastisch verringern.
Eine andere Frage ist, dass diese Waffen in der Wahrnehmung von Staaten, die sich bedroht fühlen, offenbar einen signifikanten strategischen Wert haben – nämlich zur Abschreckung. Sämtliche derzeitigen Atommächte und Aspiranten sehen das offensichtlich so. Und sie nehmen das Risiko in Kauf, dass ein nuklearer Schlagabtausch auch unabsichtlich ausgelöst werden könnte. Je kürzer die Vorwarnzeit, desto größer diese Gefahr. Entsprechende Situationen hat es während des Kalten Krieges ja nicht nur einmal gegeben. Ich halte es daher für alles andere als strategisch weise, die nukleare Abschreckung zu verklären und auf Dauer für sakrosankt zu halten.
Wäre Gaddafi vom Westen je angegriffen worden, hätte er sein Atomprogramm nicht 2003 gestoppt und 2004 den Beitritt zum NPT vollzogen?
Bertram: Das weiß man nicht.
Nordkorea darf der internationalen Gemeinschaft und speziell den USA jedenfalls bis heute auf der Nase herumtanzen, ohne angegriffen zu werden …
Bertram: Da geht der Abschreckungseffekt aber weit mehr von China aus denn von den nordkoreanischen nuklearen Ambitionen.
Letzter Themenwechsel – Verteidigungsminister de Maizière will Kampfdrohnen für die Bundeswehr einführen. Die USA agieren mit diesen Kampfmitteln völkerrechtswidrig, manche sagen – quasi selbst wie Terroristen. Ein Verhältnis von 1 : 15 zwischen zu vernichtenden Ziel(person)en und kollateralen Opfern wird in Washington für angemessen und akzeptabel gehalten. Können wir tatsächlich nicht bei der Postkutsche bleiben, um eine wenig glückliche Formulierung von Thomas de Maizière auf der jüngsten Münchner Sicherheitskonferenz zu bemühen, bloß weil andere jetzt mit der Eisenbahn fahren?
Bertram: Zunächst: eine allgemeine Völkerrechtswidrigkeit dieser Waffen gibt es nicht. Aber zu der Bemerkung des Ministers: Die Metapher ist zumindest als Begründung für die Beschaffung nicht ausreichend. Die technische Entwicklung hat es mit sich gebracht, dass militärische Informationen heute in immer stärkerem Maße mit unbemannten Flugkörpern gesammelt werden; die sind ein Schlüsselelement moderner Aufklärung, weil sie Informationen in Echtzeit liefern und das gegebenenfalls permanent.
Zum Bild gehört auch, dass bei der Bekämpfung von Zielen mit Kampfflugzeugen der Kollateralschaden im Zweifel sehr viel größer ist. Siehe Kunduz. Ich will aber nicht missverstanden werden: Nur weil bei Drohneneinsätzen die Gefährdung für die eigenen Soldaten und die Anzahl der Opfer geringer ist, heißt das nicht, dass solche Einsätze automatisch ethisch gerechtfertigter wären …
… zumal viele der Missionen, für die die USA heute Drohnen einsetzen, mit Kampfflugzeugen aus unterschiedlichsten Gründen so gar nicht zu realisieren wären…
Bertram: … mit Flächenbombardements schon …
… im Jemen sicher, aber kaum in Pakistan …
Bertram: Trotzdem bin ich der Meinung, dass man die Fortschritte der technischen Entwicklung und der daraus sich ergebenden neuen Möglichkeiten, zum Beispiel für die Aufklärung, aber auch für den Kampfeinsatz, nicht einfach ignorieren kann. Und dann ist eine Kampfdrohne zunächst einmal eine Waffe wie andere auch, über deren Einsatz oder Nichteinsatz zu entscheiden ist. Die Frage nach dem Kollateralschaden führt nicht wirklich weiter. Entscheidender ist, ob mit Drohnen eine Technologie ins Spiel kommt, die dazu verleitet, die üblichen Abwägungsverfahren im politischen und militärischen Prozess zu überspringen und militärische Mittel leichtfertiger einzusetzen. Und dafür liefern die amerikanischen Drohneneinsätze in der Tat Anhaltspunkte. Da hat irgendwer im Weißen Haus die Ziele ausgesucht und dem Präsidenten zum Abhaken vorgelegt. Das ist der Kern des Problems.
Deshalb sollten Einsatzentscheidungen von Anfang an einer zusätzlichen Prüfung ausgesetzt sein – etwa durch eine gewisse Beteiligung des Parlaments in Gestalt eines relativ kleinen Ausschusses. Auch in den USA mehren sich die Stimmen für eine solche Lösung.
Was allerdings die von Ihnen angesprochene Rolle von Drohnen als unbemannte Aufklärer anbetrifft, so steht ein Projekt wie die Beschaffung von Eurohawk-Flugkörpern, die nahezu globale Einsatzreichweite hätten, offenbar kurz vor dem Aus – und zwar aus fiskalischen Gründen. Entscheidung nach Kassenlage führt aber alle zuvor für ein Projekt angeführten sicherheitspolitischen Begründungen letztlich ad absurdum, denn im Zweifelsfall geht es also doch auch ohne …
Bertram: Es müsste aber nicht, wenn die Kassenlage, also die Einschränkungen in der Verfügbarkeit nationaler finanzieller Mittel, die Verteidigungsministerien endlich dazu brächte, sich in der NATO und in der EU zusammenzutun und mit den noch vorhandenen Mitteln die militärischen Fähigkeiten gemeinsam zu optimieren. Seltsamerweise ist das immer noch nicht der Fall.
In beiden von Ihnen genannten Organisationen wird aber seit Jahren darüber diskutiert, den Zwängen schrumpfender Militärbudgets durch stärker arbeitsteilige Formen der Zusammenarbeit zu begegnen. Stichworte dafür lauten smart defense (NATO) oder pooling and sharing (EU). Von Ansätzen im Bereich Lufttransportkapazitäten einmal abgesehen, ist bisher allerdings tatsächlich eher wenig passiert. „In Kernbereichen konnte kein Konsens erzielt werden“, hieß es dazu erst jüngst in einer vertraulichen Analyse des Auswärtigen Amtes.
Eine der Hauptursachen ist offenbar Misstrauen gegenüber den Deutschen, weil bei uns jeder Einsatz von Bundeswehrkräften im Ausland unter Parlamentsvorbehalt steht. Das mache Deutschland, so heißt es zum Beispiel in Paris und London, unberechenbar – siehe Libyen. Im Endeffekt schwebt die Forderung im Raum, das Mitspracherecht des Bundestages so „anzupassen“, dass es, wie die Süddeutsche Zeitung meinte, „anderen Bündnispartnern nicht den Weg versperrt“. Als Verfechter einer solchen „Anpassung“ ist auch der Bundesverteidigungsminister bereits in Erscheinung getreten. Seine französische Kollegin Jeanine Hennis-Plasschaert fand dafür auf der jüngsten Münchner Sicherheitskonferenz den hübschen Euphemismus, „Souveränität neu zu definieren“. Wozu raten Sie?
Bertram: Das Argument, wie Sie es aus der Süddeutschen Zeitung zitiert haben, finde ich vom Grunde her richtig. Wenn man will, dass die EU-Mitgliedstaaten ihre Streitkräfte integrieren – die Kanzlerin selbst hat einmal eine europäische Armee befürwortet – dann muss in der Tat das Mitspracherecht des Parlaments reformiert werden. Unser Verfassungsgericht ist ja zu dem Schluss, die Bundeswehr sei ein Parlamentsheer und könne nur mit Zustimmung des Bundestages eingesetzt werden, mit recht freier Rechtsfindung gelangt, nämlich auf dem „Hintergrund der deutschen Verfassungstradition seit 1918“.
In der Praxis hat der Bundestag jedem Entsendeantrag der Regierung zugestimmt, und andere Demokratien kennen ein solches Zustimmungserfordernis ebenso. Trotzdem ist der „konstitutive“ Parlamentsvorbehalt eine Hürde für jeden Souveränitätsverzicht im militärischen Bereich und erschwert damit die Zusammenarbeit bereits bei Rüstungsentscheidungen. Auch wir würden keine Abhängigkeiten akzeptieren, wenn auf das Mittun der betreffenden Partner im Falle des Falles kein hundertprozentiger Verlass wäre.
Ich sehe in der Bundesrepublik bei den verantwortlichen Entscheidungsträgern derzeit jedoch niemanden, der bereit wäre, die Lösung dieser Frage wirklich voranzutreiben. Auch was von de Maizière dazu bisher zu hören war, geht über ein Anmahnen, dass es da ein Problem gibt, nicht hinaus.
Abschlussfrage: Wenn Sie eine internationale Strategie für die Bundesrepublik zu formulieren hätten, wie lautete die?
Bertram: Die klänge furchtbar vertraut – meine Prioritäten lägen nach wie vor bei der Europäischen Union und bei einem engen Verhältnis zu Amerika. Beide bleiben die tragenden Säulen unserer Sicherheit, in die Deutschland investieren muss, wenn es sie erhalten will. Das wäre auch die beste Grundlage, auf der wir dann die Zusammenarbeit mit anderen Partnern, ob mit Russland, China oder anderen Staaten, betreiben können.
Das Gespräch für Das Blättchen führte Wolfgang Schwarz am 26. März 2013.
* – Siehe ausführlich Wolfgang Schwarz: „… hinten, weit, in der Türkei“: Pakistan – die etwas andere Atommacht, in: Blättchen, Sonderausgabe vom 5. November 2012 (www.das-blaettchen.de/2012/11/hinten-weit-in-der-tuerkei-pakistan-die-etwas-andere-atommacht-17609.html).
Christoph Bertram, Jahrgang ’37, arbeitete am Übergang zu den 70er Jahren unter Verteidigungsminister Helmut Schmidt am Aufbau des Planungsstabes des Bundesverteidigungsministeriums mit. 1974 wurde er Direktor des International Institute for Strategic Studies (IISS), London. 1982 wechselte er als Chef des Ressorts Politik und als Diplomatischer Korrespondent zur Wochenzeitung Die Zeit. Von 1998 bis 2005 war er Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Schlagwörter: Abschreckung, Atomwaffen, Christoph Bertram, Drohnen, EU, Indien, Iran, konventionelle Streitkräfte, Nichtweiterverbreitung, NPT, Pakistan, pooling and sharing, Russland, Sicherheitspolitik, Smart Defense, Strategie, USA