16. Jahrgang | Nummer 1 | 7. Januar 2013

Bemerkungen

Aufklärerin und Propagandistin

„Jeden Tag verneige ich mich vor der Regiekunst der Natur. Je südlicher, um so leuchtender, wilder, berauschender ist das Spiel der Farben, aber auch um so schneller verlischt all der Glanz.“ Diese Sätze schrieb Annelie Thorndike vor fast fünfzig Jahren in ihrem wunderbaren, bei Hinstorff erschienenen Buch „Jeder Tag war schön“. Es war das Tagebuch einer ungewöhnlichen Schiffsreise von Antwerpen nach Bombay, mit der sich die DEFA bei ihr und ihrem Mann Andrew für die fünfjährige Arbeit an ihrem zweiteiligen Film „Das russische Wunder“ bedankte. Annelie Thorndike verriet in diesem Tagebuch viel über sich und ihre Gedankenwelt, über die Liebe zur Natur, zu den Menschen, wie auch vom Glauben an die Kraft der Partei.
Gleich nach dem Krieg war die beim pommerschen Stargard aufgewachsene und bei Kriegsende ins mecklenburgische Penzlin geflohene Junglehrerin Annelie Kunigk, wie sie damals hieß, Genossin geworden. Mit 22 Jahren wurde sie jüngste Schulrätin und begann bald, in Penzlin die erste ländliche Zentralschule aufzubauen. Für Dreharbeiten kam zu Beginn der fünfziger Jahre der Filmemacher Andrew Thorndike hierhin und machte Annelie zu seiner Mitarbeiterin und Ehefrau. Es begann eine ungemein produktive Zeit, in der sie Aufsehen erregende Dokumentationen wie „Du und mancher Kamerad“ (1955), „Urlaub auf Sylt“ (1957) und „Unternehmen Teutonenschwert“ (1958) drehten. Immer erhoben sie einen politisch aufklärerischen Anspruch, der aber stets propagandistisch gefärbt war. Im Westen wurden ihre Filme verboten, in den sozialistischen Ländern gefeiert.
Die Thorndikes gründeten in den sechziger Jahren die DEFA-Gruppe 67 und den Verband der Film- und Fernsehschaffenden der DDR. Annelie Thorndike war für zwei Wahlperioden Mitglied der Volkskammer und blieb bis 1989 anderthalb Jahrzehnte lang Präsidentin des Leipziger Dokumentarfilmfestivals. Mit ihren Filmen der fünfziger und sechziger Jahre hatte sie internationale Anerkennung gefunden, die sie nun für die Dokumentarfilmwoche einsetzte.
Vor wenigen Jahren griff sie für das Buch „Der Massenmörder blieb ohne Strafe“ gemeinsam mit Klaus Huhn noch einmal das Thema ihres Films „Urlaub auf Sylt“ auf. Der „Schlächter von Warschau“, Hans Reinefarth, war als SS-Führer für den Tod tausender polnischer Juden im Warschauer Ghetto verantwortlich, und fungierte nunmehr als CDU-Bürgermeister auf Sylt. Später wurde er sogar noch in den Kieler Landtag gewählt, aber nie für seine Verbrechen zur Verantwortung gezogen.
Bis zum Schluss haben Annelie Thorndike die Fragen der Aufarbeitung der deutschen Geschichte beschäftigt. Sie lebte an der Küste, deren Lichtstimmungen sie so liebte. Am 2. Weihnachtstag ist sie im 88. Lebensjahr in Wolgast gestorben.

F.-B. Habel

 

„Emmely“ – Siegerin nach Punkten

Nach dem Lauf durch alle juristischen Instanzen darf Barbara Emme wieder an der Kasse einer Kaiser´s-Filiale sitzen. Von einer solchen war sie nach 31 Dienstjahren 2008 fristlos gekündigt worden, dieweil sie zwei vergessene Pfandbons im Wert von 1,30 Euro eingelöst hatte. Wir freuen uns mit ihr und geben die Daten ihres kleinen Buches über den üblen Vorgang gern weiter, denn die Lernfähigkeit von „Arbeitgebern“ ist bekanntermaßen von höchst übersichtlicher Natur.

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Barbara Emme/Benedikt Hopmann/Reinhold Niemerg: Emmely und die Folgen. Über kleine „Siege“ dank großer Solidarität, VSA-Verlag, Hamburg 2012, 95 Seiten, 9,00 Euro

 

Blätter aktuell

Gibt es einen Sinn der Geschichte? Die Geschichtswissenschaft mag zwar viele Erklärungen für vergangene Entwicklungen bieten, die zentrale Frage aber bleibt offen – nämlich nach den Gründen und Zielen von Geschehnissen, die die Menschheit bewegen. Während in der Antike eine zyklische Auffassung vorherrschte, entdeckten das Christentum und die Aufklärung die Zukunft und den Fortschritt. Auch wenn heute Grund für Pessimismus bestehen mag, gelte es, so der Historiker Ernst Engelberg, in der Tradition der Aufklärung weiter zu denken.
Die Schuldenkrise hat Europa fest im Griff. Die Bemühungen der Politik zeigen, wenn überhaupt, nur sehr begrenzte Wirkung. Der Politikwissenschaftler Claus Offe analysiert den Geburtsfehler der Währungsunion: die anhaltende Diskrepanz zwischen ökonomisch Notwendigem und politisch Machbaren sowie die unzureichenden Kontroll- und Regulierungsmechanismen. Um einen Zerfall der Eurozone doch noch zu verhindern, braucht es mehr Solidarität und Demokratie auf europäischer wie nationaler Ebene.
In Deutschland, dem Exportweltmeister, sind Armut und Unterversorgung allgegenwärtig. Obwohl ein Menschenrecht auf Nahrung existiert, zieht sich der Staat aus seiner sozialen Verantwortung immer mehr zurück. Dafür springt die Tafelbewegung in die Bresche. Der Theologe und Sozialethiker Franz Segbers sieht hierin jedoch keine Lösung des strukturellen Problems der Armut, sondern einen Beitrag zu ihrer Manifestation.
Weitere Beiträge gehen der Frage nach „Was wäre eine gute Religion?“ und befassen sich unter anderem mit dem Bürgerkrieg in Syrien und dem Hass auf die Alawiten, mit der zunehmenden Tendenz zur Rekommunalisierung der Daseinsvorsorge in deutschen Städten, mit dem großen Zeitungssterben, dem Thema „Billige Kleidung – und ihr Preis“ sowie mit den aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten, im Kongo und in Mali.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Januar 2013, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet: www.blaetter.de

 

Schicksale großer Entdecker und Erfinder

Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein starben in den Hospitälern Europas Jahr für Jahr Tausende von Wöchnerinnen am Kindbettfieber. Die meisten Opfer dieser Krankheit waren Ledige aus proletarischen Verhältnissen, während Frauen, die es sich leisten konnten, unbedingt zu Hause gebaren. Die Mediziner der damaligen Zeit waren über die Ursache des Phänomens zerstritten. So gab es die Hypothese, dass es zu einer Konzentration unreiner Säfte im Blut kommen könnte, wenn die Menstruation ausbleiben würde. Oder es wurde vermutet, dass Muttermilch, wenn sie in den Blutkreislauf und in die inneren Organe gelangen würde, zur Bildung schädlicher Sekrete im Uterus führen würde. Des Weiteren wurden mysteriöse magnetische Kräfte als Ursache des Übels vermutet. Die Mehrheit der Mediziner war allerdings der Auffassung, dass man es beim Kindbettfieber mit einer endemischen Krankheit zu tun hätte, die durch eine verpestete Luft hervorgerufen werden würde. Der deutsch-ungarische Assistenzarzt Ignaz Semmelweis fand keine dieser Erklärungen schlüssig. Zunächst machte es ihn stutzig, dass die Sterblichkeitsrate in der ersten Abteilung der Wiener Gebärklinik, wo nur Ärzte, Assistenten und Studenten tätig waren, um ein Vielfaches höher war als in der zweiten, die ausschließlich das Reich der Hebammen war. Dann fiel ihm auf, dass ausgerechnet diejenigen Frauen, die ihr Kind zu Hause oder sogar auf der Straße zur Welt gebracht hatten, am seltensten am Kindbettfieber erkrankten. Außerdem erkannte er, dass die Zahl der Kindbettfieber-Fälle während der Semesterferien regelmäßig zurückging. Und schließlich fand er heraus, dass nichts darauf hindeutete, dass man es hier mit einer ansteckenden Krankheit zu tun hatte.
Semmelweis kommt nach etlichen statistischen Analysen und Experimenten der Sache auf den Grund: Es sind die Ärzte, Assistenten und Studenten selbst, die auf die Wöchnerinnen die tödlichen Keime, die von sezierten Leichen stammen, übertragen. Semmelweis, der von Bakterien oder Viren noch nichts weiß, ordnet daraufhin an, dass sich von nun an alle, die von einer Sektion kommen, ihre Hände mit einer Chlorlösung reinigen müssen, bevor sie Schwangere untersuchen dürfen. Diese simple Maßnahme sollte sich schon sehr bald als überaus effizient erweisen. Im Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit scheiterte Semmelweis allerdings auf ganzer Linie. Das lag zum einen an den etablierten Medizinern, die aus Angst, ihre Felle könnten ihnen davonschwimmen, gegen ihn intrigierten. Zum anderen an Semmelweis selbst, der keine Vorträge hielt, keine wissenschaftlichen Aufsätze veröffentlichte, jeden Disput mit seinen Kollegen verweigerte und sie als „medizinische Neros“ attackierte. Am Ende wurde Semmelweis als Geisteskranker abgestempelt und in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert, wo er kurz darauf unter ungeklärten Umständen ums Leben kam.
Es kommt immer wieder vor, dass große Wissenschaftler, Entdecker oder Erfinder erfahren müssen, dass ihren innovativen Ideen trotz intensivster Bemühungen die Anerkennung versagt bleibt. Der Wissenschaftsjournalist Thomas Bührke befasst sich in seinem neuen Buch mit neun solcher tragisch gescheiterten Genies – angefangen mit Aristarch von Samos, der schon vor über 2000 Jahren die Sonne als Zentrum des Universums betrachtete, bis hin zu Nikola Tesla und Albert Einstein. Ein hochinformatives, präzise formuliertes Buch, das sich auf umfangreiche Recherchen stützt.

Frank Ufen

Thomas Bührke: Genial gescheitert. Schicksale großer Entdecker und Erfinder, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2012, 240 Seiten, 14,90 Euro

 

Solons fehlende Nachfolger

„So viel Teil an der Macht, als genug ist, gab ich dem Volke, / nahm an Berechtigung ihm nichts, noch gewährt’ ich zu viel. / Für die Gewaltigen auch und die reicher Begüterten sorgt’ ich, / dass man ihr Ansehen nicht schädige wider Gebühr. / Also stand ich mit mächtigem Schild und schützte sie beide, / doch vor beiden zugleich schützt’ ich das heilige Recht.“ – Nun also: Ein Anwalt nur der Unterprivilegierten war Solon, als großer Reformer einer der sieben Weisen der griechischen Antike und Schöpfer obiger Zeilen, wirklich nicht. Aber selbst, wenn man ihn auf einen Anwalt der Besitzenden reduzieren wollte, würde er sich fundamental von den meisten derjenigen unserer Zeitgenossen unterscheiden, die dieses Ansinnen auch heute für die ultima ratio halten. Im Gegensatz zu heutigen individuellen und kollektiven Großbesitzstands-Wahrern brachte Solon 549 vor Christus die außer Kontrolle geratene Auseinanderentwicklung von Besitz und Armut durch eine neue Verfassung wieder ins Lot, „die die bestehende Kluft wieder tendenziell zu schließen, die Anmaßung des Ersteren zu brechen, die Entwürdigung der Letzteren zu beseitigen, Standesvorrechte und Beamtenwillkür abzuschaffen und eine nach den Leistungen abgestufte Beteiligung aller Staatsbürger an der Staatsregierung einzuführen“ (Wikipedia).
Eines der wirkungsvollsten Instrumente Solons für die Umsetzung seiner Visionen war die Seisachtheia, ein allgemeiner Schuldenschnitt. Nicht, dass dieses Konzept seinerzeit ideal aufgegangen wäre, der Anfang einer tatsächlichen Konsolidierung war es allemal. Einen Solon bräuchte es heute wieder, diesmal aber nicht nur bei den Griechen.

Helge Jürgs

 

Wahlkampf alaaf!

Nach seiner Absolvierung steht Weihnachten zwar irgendwie schon wieder vor der Tür, wird aber im Herbst 2013 von etwas noch Stimmungsvollerem eingeläutet – den Bundestagswahlen und dem vorausgehenden Wahlkampf. Da sich jene Stimmen massiv mehren, die den etablierten Parteien nicht mehr trauen, das Volk auch nur teilweise wirklich zu vertreten, ist die Wahlprüfungskommission nach dem Blättchen vorliegenden Informationen derzeit dabei, die Anerkennung folgender Vereinigungen als politische Parteien zu prüfen und sie gegebenenfalls zur Wahl zuzulassen:

Deutsche Auspuffpartei (ADAC) –
(mit bereits jetzt 18 Millionen Mitgliedern ähnlich stark wie die Kommunistische Partei Chinas)
FC Bayern München –
(Chancenreich allein durch das nationale Charisma von Franz Beckenbauer und Uli Hoeneß)
Kaffee to go-Liga –
(Bislang als Starbucks bekannt und mindestens aus dem städtischen Alltag nicht mehr wegzudenken)
Philanthropen-Partei –
(bisher bekannt unter dem Namen „Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“ und allein dank Dieter Hundt unsäglich beliebt)
Hüftgelenksunion
(mit einer sich der Million nähernden Mitgliederzahl stark im Kommen)
Kassenärztliche Vereinigung –
(deren Chancen sich aus dem bekannten Armutsgelübde ihrer Mitglieder speisen)
Haakle feucht –
(Partei der Nichtwähler)
Beate-Uhse-Kongress –
(Aussichtsreich durch die Neigung zur Total-Transparenz)
Quatsch-Comedy-Club/Die Humor-Tumore –
(vermag auf die ansteckende Massenwirkung deutschen Humor-Verständnisses zu bauen und hat bereits beachtliche Teile der TV-Sender im Griff)
Volksmusikkommunarden –
(siehe Quatsch-Comedy-Club)
Alldeutsche Schnäppchen-Liga –
(dank ihrer Mitgliederzahl ein echter Konkurrent zur Deutschen Auspuffpartei mit klassenübergreifendem Potential)
Partei des ewigen Lebens/Ratiopharm-Bund –
(wegen ihrer großen Wahlchancen bösartig als Pharmalobbyklub denunziert)
Kampfbund deutscher Radfahrer/The warriors –
(wird möglicherweise nicht als eigenständige Partei antreten sondern als Stimmenlieferant für  die Kassenärztliche Vereinigung)
Gelinkte Linke (Wahre Linke) –
(Trotz abnehmender Mitgliederzahl noch immer von ungebrochen siegreicher Schlagkraft)

hwk

 

Immer wieder Gundermann …

Es ist fast ein Ritual geworden. Die „Randgruppencombo“, eine Gruppe von Enthusiasten, die sich einmal am Kindertheater Tübingen rund um den damaligen künstlerischen Leiter Heiner Kondschak entwickelt hatte, spielt jeweils am 29. und 30. Dezember im Berliner Postbahnhof Lieder von Gerhard Gundermann. Und wer sich vielleicht innerlich zunächst gegen die „Kopie“ gewehrt haben mag, wird schnell von der sonderbaren Stimmung bei den Konzerten angezogen. Der Postbahnhof ist jeweils proppenvoll mit Besuchern jeder Altersgruppe. Ja, da kommt schon auch Nostalgie auf, wenn Gundis Klänge ertönen, aber viele der Besucher haben das Original Gundermann aufgrund ihrer Jugend nie erlebt. Gundermann hatte einst für Tochter Linda getextet „Du bist in mein Herz gefall’n wie in ein verlassenes Haus …“ Dem Publikum geht es mit seinen poetischen Texten wohl ähnlich. Es singt textsicher mit.
Heiner Kondschak hatte Gundermann auf einer Autobahnfahrt gehört, eine Kollegin hatte ihm eine Kassette gegeben. Da lebte Gundermann schon nicht mehr. Er war fasziniert von den Texten und infizierte – wie er sagte – alle Kollegen, die irgendwie ein Instrument handhaben konnten, mit dem Virus. Da spielten die Sekretärin und der Verwaltungsdirektor neben Schauspielern des Theaters. 2000 gab es das erste Konzert in Tübingen und Klaus Koch von BuschFunk hatte die damals verwegen erscheinende Idee, die Gruppe mal in Berlin auftreten zu lassen… Wie gesagt, sie kommt seitdem jedes Jahr. Der Gedanke an deutsche Einheit in wunderbarer Form streift mich immer, wenn die West-Musikanten auf der Bühne sich symbolisch so tief vor dem Ostdeutschen Gundermann verbeugen und vor dem Publikum, das seine Lieder liebt. Und letzteres nimmt dieses Geschenk dankbar an. Man ist für die Dauer des Konzerts ganz bei der poetisch-praktischen Sicht Gundermanns auf die Welt. „ Und ich habe keine Zeit mehr / ich stell mich nicht mehr an / in den langen Warteschlangen / wo man sich verkaufen kann / und ich habe keine Zeit mehr / ich nehm den Handschuh auf / ich laufe um mein Leben und gegen/ den Lebenslauf.“

Margit van Ham

CDs/DVDs von Gundermann-Aufnahmen und von der Randgruppencombo können bei BuschFunk erworben werden.

 

Käse

Frau Antje und Peter Panter (Glückwunsch zum 123!) irrten sich: Der Käse stammt eben nicht aus Holland oder der Schweiz. Auch nicht aus Dänemark oder Bützow an der Bütze! Bereits die attischen Helden nagten vor 3.200 Jahren vor den Mauern Trojas nach getanem Schlachten des Abends an einer Käserinde herum. Homer sei unser Zeuge. Die Griechen erfanden also nicht nur die Demokratie, sondern auch den Käse? Jetzt hat ein Kaff an der Weichsel dem stolzen Attika die Show gestohlen: In Ludwinowo fanden Archäologen Artefakte einer vor 7.500 Jahren dort stattgefundenen Käseproduktion. Ludwinowo! Dem vor zehn Jahren verstorbenen Dichter Erich Köhler aus Alt Zauche im Spreewald sei dies ein postumer Triumph: Köhler vertrat zum Entsetzen der gelehrteren Kreise der DDR-Schriftstellerschaft mit äußerster Hartnäckigkeit die These, dass Hesiods langweiliges Lehrgedicht „Werke und Tage“ entschieden bedeutender wäre als die Mord- und Totschlagsepen des attischen Konsalik namens Homer. Das ging und geht uns etwas zu weit – aber wie Köhler halten wir die Erfindung des Käses für wichtiger als die des Bronzeschwertes und der schiefen Schlachtreihe.
Für die Einrichtung nationaler Weihestätten der Rzeczpospolita eignet sich die Entdeckung glücklicherweise nicht: Die Sippen der neolithischen Käsebauern haben mit den heutigen Polen nichts zu tun. Irgendwann verschwanden sie Richtung Westen (Holland? Schweiz?) oder wurden wie seinerzeit üblich von nachdrängenden Völkerscharen erschlagen. Ein paar fußlahme Exemplare müssen aber im Land an der Weichsel überlebt haben. Polnischer Käse – nicht nur der berühmte Oscypek aus der Tatra – ist durchaus empfehlenswert. Wen wundert das, bei siebeneinhalbtausend Jahren Übung!

Alfred Askanius

 

Amerikanischer Wehmuts-Rock

1984 haben Chris Eckman und Carla Torgerson (beide Gesang & Gitarre) die Band „Walkabouts“ aus der Taufe gehoben. Und sie haben es im Laufe der Jahre geschafft, zu den Arrivierten der Alternativrockszene sich empor zu arbeiten. Die Musik der „Walkabouts“ ist ein Mix aus Folk, Blues, Country und Rock – in unterschiedlichen Ausformungen und Stilen.
Auch in deutschen Landen hat sich die US-Band mittlerweile eine treue Fangemeinde geschaffen. Und so nimmt es nicht Wunder, dass sie ihr Konzert am 14. Juli 2012 im Berliner „C-Club“ als Livealbum unter dem schlichten Titel „Berlin“ veröffentlicht hat. Zu hören sind ein gutes Dutzend Lieder, zum einen aus der jüngsten Studioveröffentlichung „Travels in the Dustland“, zum anderen querbeet aus dem umfangreichen Fundus der vergangenen drei Jahrzehnte, unter anderem „The Light will stay on“, dem heimlichen Hit der Band aus dem Jahr 1996.
Die markanten Stimmen der Gründungsmitglieder Chris & Carla wechseln sich bei den einzelnen Stücken ab. Wie ein roter Faden ziehen sich wehmütige Impressionen durch die Lieder, routiniert vorgetragen und gespielt. Dass sie nach einem mehrjährigen Ausflug zum „Major Label“ Virgin Records in den neunziger Jahren wieder zurück zu Glitterhouse Records gefunden haben, hat womöglich den großen kommerziellen Durchbruch verhindert. Aber sie hatten und haben somit die kreativen Freiräume, ihre musikalischen Vorstellungen (gelegentlich auch in anderen musikalischen Zusammenschlüssen) auf Platte beziehungsweise CD zu pressen.

Thomas Rüger

The Walkabouts: Berlin, Glitterhouse Records 2012, cirka 16,00 Euro

 

Film ab

Wer sich auf Kino als Universum unterhaltsamer Illusionen einlassen kann, der wird die vorgegaukelte dritte Dimension heutiger 3D-Filme genießen – wenn die Streifen denn von auch technischen Könnern des Faches stammen, die die Grenzen des jetzt Machbaren nicht nur eben mal touchieren, sondern diese mitbestimmen und sich über die ganze Länge des Films an dieser Linie bewegen. Das trifft bisher allerdings auf die wenigsten 3D-Produktionen zu. James Camerons „Avatar“ von 2009 setzte die Maßstäbe, und dass das vom breiten Publikum 2011 kaum goutierte klaustrophobe Höhlentauch-Abenteuer „Sanctum“ diese Latte ebenfalls mühelos nahm, dürfte nicht zuletzt dem Sachverhalt geschuldet gewesen sein, dass Cameron dabei als ausführender Produzent fungierte. Martin Scorseses „Hugo Cabret“ von 2011 spielte ebenfalls in dieser Liga.
Ang Lees gleichermaßen opulentes wie über weite Strecken kammerspielartiges Märchen für Jugendliche und Erwachsene, „Das Leben des Pi. Schiffbruch mit Tiger“, kann da, was die 3D-Rafinesse anbetrifft, zwar nicht ganz mithalten, überragt die vorherrschende Durchschnittsware aber trotzdem noch um Längen. Und was Lee, der Regisseur so unterschiedlicher Streifen wie „Tiger and Dragon“, „Gefahr und Begierde“ oder „Brokeback Mountain“, aus der zentralen Grundsituation des Films – nach einem Schiffbruch im Pazifik: ein Rettungsboot sowie ein indischer Knabe aus einer Zoo-Eigentümerfamilie und ein ausgewachsener bengalischer Tiger als letztlich einzige Überlebende – macht, das birgt Überraschungen und Volten in Fülle. Spannende Unterhaltung zum Staunen und zum Fürchten. Und für Kinogänger der Altersgruppe 60 plus noch der Hinweis: Wer sich in Kinder- und Jugendtagen von Filmen wie „Der Dieb von Bagdad“ oder „Sindbads 7. Reise“ verzaubern ließ und seither keinen Kontakt mehr mit dieser faszinierender Art von Fantasy hatte, dem bietet sich jetzt die Chance, den Zauber wieder aufleben zu lassen.
Dem Regisseur selbst war das Abenteuer in 3D übrigens offenbar nicht genug, denn er sieht in seinem Werk noch eine vierte, transzendentale Dimension. Lee: „Ich spreche in diesem Film nicht von Religion, aber in einem gewissen Sinne von Gott.“ Ein Teil der Filmkritik hierzulande ist ihm in diesem Anspruch gefolgt, aber dazu ist man als Zuschauer ja keineswegs verpflichtet.

Clemens Fischer

 

Die Müllecke

„Bankräuber hatte Geldsorgen“ – Mit dieser hübschen Erkenntnis beglückte die dpa kurz vor Weihnachten das staunende Volk. Welcher Bankräuber der Kriminalgeschichte hatte eigentlich keine Geldsorgen, fragen wir die Naivlinge der Agentur?
„Ein Ort wird entzaubert“ untertitelte das Leibniz-Journal der ehrenwerten Leibniz-Gemeinschaft (nicht zu verwechseln mit der Leibniz-Sozietät!), seine Dezember-Ausgabe. Einer Entzauberung muss, wie Freunde von Zaubermärchen wissen, eine Verzauberung vorausgehen. In derlei philologischen Delikatessen nun sind im Deutschen Jakob und Wilhelm Grimm die zuverlässigsten Auskunftsgeber. In Band 25 ihres Wörterbuches finden wir die Erklärung, dass Verzauberung „eine durch übernatürliche, jenseitige zauberkräfte bewirkte, auch im bezirk des märchens erfolgte veränderung im sinne von verzaubern“ sei. Das ahnten wir, aber das trifft auf das Titel-Thema des Wissenschaftsmagazins nicht zu: „Obersalzberg“. Es geht um des Führers Berghof. Dass da „jenseitige Zauberkräfte“ im Spiele waren, bezweifeln wir. Aber Grimms helfen: Verzauberung kann auch die „starke, nachwirkende beeinflussung, die jemand durch eine person erfährt“, sein, auch eine bestimmte „seelische stimmung, die durch ein erleben hervorgerufen wird“ könne gemeint sein. Das ist es. Aber jetzt ergeht es uns wie dem jungen Dummbart im Märchen „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ – es schüttelt uns gewaltig. In welch „seelische Stimmung“ werden in drei Teufels Namen die Redakteure des Leibniz-Journals beim Nachdenken über den Obersalzberg geworfen, wenn sie sich beim Kreieren ihrer Titelzeilen derart versteigen??
Das ist schon dumm. Und Dummheit kann krank machen. Noch kränker machen uns allerdings geldgierige Ärzte (siehe Das Blättchen 19/2012), wie das Neue Deutschland zu Jahresbeginn mitteilte: „Patienten werden kränker gemacht“. Ein Blick in den DUDEN, die Bibel des deutschen Studienrates, lehrt, dass krank sein zwar „nicht gesund“ sein bedeutet (aha!) – aber am kränksten sind die in der Sozialistischen Tageszeitung zitierten Patienten noch lange nicht! Das werden sie allerdings, wenn sie im Winter ins Wasser plumpsen. Dann sind sie nämlich nass. Fallen sie wiederholt rein, so werden sie immer nasser und folglich immer kränker… Der Duden-Verlag soll ja heuer nach Berlin verlegt werden. Im hiesigen Flachland weht der Wind etwas frischer als in Mannheim (am frischesten aber auf Helgoland!). Vielleicht entschließt man sich dann endlich, vom Bedeutungsgehalt her nicht steigerbare Wörter als nicht komparierbar auszuweisen. Das Dümmste wär das nicht.

Günter Hayn