von Erhard Crome
Karsten D. Voigt hat sich in der Weihnachtsnummer des Blättchens für eine „wertorientierte Außenpolitik statt deutscher Besserwisserei“ ausgesprochen. Das klingt gut, sollte aber genauer angesehen werden. Nun ist Karsten Voigt nicht mehr in verantwortlichen Positionen, hat Zeit zum Schreiben, vertritt jedoch ungeachtet dessen Positionen, die inhaltlich nach wie vor der SPD zuzuordnen sind. Insofern kommt seine Polemik gegen die CDU-geführte Regierung nicht zufällig.
Was aber wirft er ihr vor? Sein Ausgangspunkt lautet: „Deutsche Außenpolitik sollte wertorientiert und interessengeleitet sein.“ Das steht wortgleich – allerdings „werteorientiert“ im Plural – auch in der Präambel des Koalitionsvertrages der derzeitigen Bundesregierung. So ist Voigts Monitum auch, das sei „früher ein parteiübergreifender Konsens“ gewesen, den Christdemokraten und Freidemokraten nun verlassen hätten. Dann polemisiert er des langen und breiten, identifiziert dabei jedoch Werte- und Interessenorientierung, und exemplifiziert dies am Fall Ukraine.
Meines Erachtens sollte an dieser Stelle deutlicher über drei Punkte geredet werden: Interessen, Geopolitik und den Fall Ukraine. Beginnen wir mit den Interessen. Deutschland ist gewissermaßen der Sieger des Kalten Krieges, nimmt eine Stellung in Europa ein, die stärker ist, als die Deutschlands vor 1914 – in einem weltwirtschaftlichen und gesamtpolitischen Sinne, nicht militärisch –, und ist nochmals gestärkt aus der bisherigen Weltwirtschaftskrise 2008ff. hervorgegangen. Teile des deutschen Bürgertums reden ganz offen über deutsche Hegemonie in Europa. Mainstream-Analytiker kennzeichnen das heutige Deutschland als „geoökonomische Macht mit globalen Interessen“. Der EU ist dafür eine Rolle als Hinterland der deutschen Weltgeltung zugewiesen, nicht als Wert an sich. Sie darf nicht zerfallen, dann verfiele auch die globale Perspektive deutscher Interessen, aber soll gefälligst im Sinne dieser deutschen Interessen funktionieren. Insofern dechiffriert sich die deutsche „Besserwisserei“ in der EU bei der Euro- und „Schulden“-Politik als Ausdruck einer ziemlich hemdsärmeligen Wahrnehmung dieser Interessen, nicht als Folge einer falschen Tonlage.
Auch bei der Geopolitik geht es zuvörderst um Interessen. Karsten Voigt unterschlägt dem Leser das. Zbigniew Brzezinski hat schon vor fast zwanzig Jahren betont, dass die Selbständigkeit der Ukraine ein Kerninteresse der USA ist, weil eine selbständige Ukraine das wichtigste Hindernis für die Wiederherstellung eines imperialen Russlands sei. Es geht also in der Frage der Unabhängigkeit der Ukraine nicht in erster Linie um Werte, wie Menschenrechte und Demokratie, sondern um diese geopolitische Kernfrage im westlichen Teil des eurasischen Großkontinents. Die sogenannten Eliten der postsowjetischen Republiken genießen ihrerseits seit dem Zerfall der Sowjetunion die Unabhängigkeit und sind daher überwiegend Partner des Westens in diesem Spiel, aber mit Eigeninteressen. Insofern ist klar, dass die Ukraine sich zwischen der EU und Russland bewegen muss. Sie darf sich nicht zu sehr mit der einen Seite verbinden, um die Beziehungen zur anderen nicht zu sehr zu verschlechtern. Das gilt zumindest so lange, wie es sich um eine selbständige Ukraine handelt, die weder mit Russland eine neue Union eingegangen, noch der EU beigetreten ist.
Dabei wirken innerhalb der Ukraine starke gegenläufige Kräfte, auf Russland orientierte – mit einem starken russischen Bevölkerungsteil innerhalb der Ukraine – einerseits und eher antirussische in der Westukraine andererseits. Die innenpolitische Kunst besteht darin, diese in einem Gleichgewicht zu halten, das dem äußeren Gleichgewicht entspricht. Ein Teil dieser westukrainischen Eliten hat unter dem Vorwand, es ginge um Menschenrechte, eine innenpolitische Auseinandersetzung angezettelt, die in die sogenannte „Orangene Revolution“ mündete. Julia Timoschenko, die unter fragwürdigen Umständen zu einer der reichsten Personen des Landes geworden war, und der westorientierte Wiktor Juschtschenko eroberten gemeinsam die Macht – und der Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung verkündete in Berlin, er sei einer der Väter dieser „Revolution“ – und wurden Ministerpräsidentin beziehungsweise Präsident. Sie zerstritten sich am Ende mit dem Ergebnis, dass der zunächst der Russlandorientierung und des Autoritarismus geziehene Wiktor Janukowytsch zum neuen und derzeitigen Präsidenten gewählt wurde. Das ganze Gerede von Demokratie und Menschenrechten erwies sich am Ende als Instrument in einem inneren Machtspiel, das auch eine äußere Dimension hatte, in der die EU und Deutschland Konfliktpartei waren. Die „Werte“ waren Komponenten der Interessen.
Nun kommt eine weitere Frage hinzu. Voigt wirft der Bundesregierung vor, in der Frage der „Demokratieförderung“ der Ukraine nicht entschlossen genug zu sein. Aber welche Instrumente hat sie? Die gesamte Osterweiterung der EU hat gezeigt, dass die Anpassung der Länder und Gesellschaften an die Brüsseler Forderungen deshalb so rasch und weitreichend erfolgte, weil es eine klare Beitrittsperspektive zur EU gab. Bereits im Falle der Türkei zeigte sich, dass die Anpassung der inneren Rechtsordnung an europäische Maßstäbe, einschließlich im Persönlichkeits-, Versammlungs- und Presserecht, deshalb relativ rasch ging, weil eine Beitrittsperspektive erhofft war. Außerdem war dies Moment des Machtkampfes der relativ islamisch orientierten AKP gegen die alte kemalistische Staatsbürokratie und Generalität. Als die AKP mit Ministerpräsident Erdogan den inneren Kampf für sich entschieden hatte und die Beitrittsperspektive durch die Politik von Kanzlerin Merkel in weite Ferne gerückt war, erlahmte dieser Eifer.
Analog ist es im Falle der Ukraine. Die außenpolitische Analyse zeigt, dass die sogenannte Europäische Nachbarschaftspolitik im Unterschied zur Erweiterungspolitik nur wenige Möglichkeiten hat, „Reformdruck“ auszuüben. Die EU-Nachbarländer bleiben ihrer „Selbstkonditionalität“ überlassen, auf deutsch: entscheiden auch künftig selbst, was sie wie tun. Außerdem haben gerade die ukrainischen Akteure gesehen, dass bei der EU Interessen vor „Werten“ gehen. Der Vorwurf an die deutsche Regierungspolitik bleibt dort hängen, wo Macht, Einfluss und Interessen nicht thematisiert werden.
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