von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp – diesmal Schwibbögen, Feuerwerk, Opernthriller-Trio Stuttgart, Mitmach-Theater Weiß-Gold Dresden.
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Durchs Weihnachtsland nach Stollberg. Im Kirchlein die Schwibbogen-Ausstellung. Schwibbogen: ein kunstvoll geschnitzter Halbkreis mit Lichtern drauf; gehört in absolut jede Wohnung im Erzgebirge, in relativ viele in Europa – die originär lokale Weihnachtsdeko aus Holz als Exportschlager. Und in Stollbergs Marktmitte eine extrem stämmige Fichte mit prachtvollem Dickicht. Ein knuffiger Christbaum ist hier Ehrensache. Ist beinahe wichtiger als Budenzauber und Futterkrippen (auch der örtliche Italiener, das französische Partnerstädtchen sind dabei). Hoch überm Kuschelstädtchen Schloss Hoheneck – schon zu Zeiten des letzten Sachsenkönigs kein Adelsnest mehr, sondern Knast; zu DDR-Zeiten ein berüchtigtes, elendes Frauengefängnis, jetzt Gedenkstätte. Im Idyll das Grauen. Ich grüße meine Freundin Renate, die hier eingekerkert war. Sie wollte in den Westen, die überwachende Staatsmacht kam ihr auf die Schliche.
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Abends Chemnitz. Operette auf der Hinterbühne vom schick restaurierten Opernhaus (wohl eins der schönsten in Deutschland: historische Hülle 1909, innen eleganteste Neuzeitlichkeit): „Feuerwerk“, Paul Burkhards so gar nicht böllerndes, sondern zartes Hohelied auf die Zirkusboheme, die arg Verwirrung stiftend in Kleinbürgerei sticht. Das bravourös komödiantische Ensemble in einem vor Überraschungseffekten strotzenden Bühnenbild reißt das Publikum vom Hocker. Zwei Pianisten an zwei Flügeln liefern kammermusikalischen Sound („Oh, mein Papa…“), Regisseur Karl Absenger tuschte den delikat durchtriebenen Zwei-Stunden-Spaß satirisch spitz und zauberisch-schwebend hin wie ein Aquarell, durchsetzt mit ein paar scharfen Strichen wie von George Grosz. Melancholie, gewürzt mit Klamotte; Entertainment vom feinsten.
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Es verwundert noch immer, dass ausgerechnet im als bieder haufrauenhaft abgestempelten Schwabenland dessen Hauptstadt-Theater oft verwegenste Blüten trieb – unter Claus Peymann einst im Schauspiel, John Cranko im Tanz oder Klaus Zehelein in der Oper. Die führt seit 2011 das Regie-Trio Andrea Moses, Jossi Wieler, Sergio Morabito. Nach nur einem Jahr schon wird es – Seltenheit! – von aller Opernwelt als sonderlich ingeniös und publikumsanimierend gefeiert. Ein Ruhm, den Stuttgart für ordentlich Geld stolz sich leistet mit diesem Musiktheaterspitzenbetrieb. Der präsentiert selbstredend alle Brocken des Weltrepertoires sowie immer wieder Werke jenseits des hiesigen Kanons. Zuletzt unter viel Applaus die satirisch gefärbte, absurd schillernde Existenzialisten-Oper des Sowjet-Dissidenten Edison Denisov (1926-96); Regie: Wieler.
Das Motto der Intendanz: Aus historischen Vorlage durch fantasievolle Reibung am Heutigen heftig Funken schlagen; gern auf ästhetisch ganz unterschiedliche, immer aber provokante Art. Schau’n wir mal – bei einem Adventswochenende im Parkett der Württembergischen Staatsoper: Bellinis „Norma“ (Regie: Wieler, Morabito), Glucks „Iphigenie in Aulis“ und Mozarts „Giovanni“ (Regie: Moses). Jeweils mit Einführungsvortrag im rappelvollen Rangfoyer sowie respektabel besuchtem „Nachtgespräch“ nach der Vorstellung mit dem Regieteam – viel Zustimmung, aber auch skeptische Nachfrage.
Auf einen Schlag (!) also drei in jeder Hinsicht anspruchsvolle Werke. Jeweils historische Stoffe, schwarz gerahmt, transzendent eingefärbt (Mythos, Religion), politisch kontaminiert (Krieg, Machtmissbrauch, Manipulation, Unterdrückung, Emanzipation). Und mit starken Figuren, verstrickt in schwerste Konflikte. Drei Thriller, drei Lovestories, ein Blick in menschliche, menschheitliche Irrungen, Wirrungen, in von Grauen durchwehte Abgründe.
Doch so einleuchtend die durchaus frappierenden dramaturgischen Zugriffe grundsätzlich waren, im einzelnen funktionierten diesmal die ertüftelten szenischen Übergriffe ins Realistisch-Gegenwärtige nicht. Sie waren oft allzu griffig, allerweltsmenschelnd banal, nicht wirklich packend. Außerdem: zu wenig Spannung für Thriller, zu viel Schwachstrom für Liebe.
Ich sag’s mal so – mit Regie-Altmeister Hans Neuenfels (mit 71 Jahren als „abstrakter Realist“ ein längst klassischer Avantgardist). Der nämlich bekannte jüngst, in der Oper sei die Fülle der Eindrücke derart überwältigend, dass sie unserer Normalität ins Gesicht schlüge. Und gerade das, diese Überforderung, sei das Tolle an Oper. Weshalb er die unterfordernde Wohnküchen-Gemeinsamkeit, die beim Inszenieren manchmal behauptet werde, für Illusion halte. „Oper ist eine fremde Welt und muss fremd bleiben!“ – In Stuttgart kam mir diesmal vieles allzu bekannt, allzu „wohnküchig“ rüber. Sorgte aber dennoch für allerhand Denkanstöße. Für die uneingeschränkte Gefühlserregung sorgten freilich Gesang und Musik.
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Vom Neckar rüber zur Elbe in die Striezelmarkt-Metropole mit Staatsschauspiel. Das regiert ein kleiner, agiler Herr mit schütterem Haar und randloser Brille vor diabolisch blitzenden Augen. Wilfried Schulz gelang gleichsam auf Anhieb ‑ obwohl Randberliner und „ausm Westn“ ‑, die so konservativ kunstsinnigen Herzen der Dresdner zu erobern. Schafft so leicht keiner! Ist ein Beweis: Mit pfiffigem Zugriff klappt‘s auch mit „schwierigem“ (um nicht zu sagen störrischem) Publikum. Pfiffig heißt: Schulz fiel vor drei Jahren nicht mit der Tür ins Haus, griff lokale Themen auf – und noch mehr klassische. Zwar überrumpelte er mit Novitäten, streichelte jedoch mit ordentlich Entertainment. Und offerierte wie selbstverständlich das hier bislang eher nicht Selbstverständliche: nämlich eine enorme Bandbreite ästhetischer Regiehandschriften – also „Gegenwartsreibungen“ von ganz unterschiedlicher Art und Vehemenz. Der gewitzte Impressario bot Vieles für viele: Dresdner Melange, die zugleich ‑ Glücksfall! – auch überregional gefällt.
„Hier gibt es Leute“, gesteht Schulz im Nachhinein, „die traten mit dem Anspruch auf: Das Theater gehört uns. So wie wir es jetzt erleben, wollen wir es nicht.“ Wow, ein Schock für den Neuen. „Kein Mensch hat mir andernorts, wo ich engagiert war – Basel, Hannover, Hamburg – Derartiges derart selbstgerecht an den Kopf geworfen. Anderseits zeigt solche Direktheit eine große Leidenschaft fürs Theater.“ Schulz dachte sich seinen Teil – und konzipierte die genannte Programmatik. Und erfand extra für Dresden etwas ganz Spezielles: Die so genannte Bürgerbühne – sonderlich auch für jene, die da flott behaupten, das Theater gehöre allein ihnen (was ja für sie als Steuerzahler auch zutrifft). Und die wüssten, wie es für alle Steuerzahler auszusehen habe (eine Anmaßung).
Der äußerst kommunikative Intendant trug schlauerweise obendrein als erstes dem in der selbsternannten Barockstadt tief verwurzelten Prunkbedürfnis Rechnung. Indem er das kostbar restaurierte Schauspielhaus allabendlich festlich illuminierte, das Foyer-Restaurant elegant herrichtete und die corporateidentity in Anlehnung an die Stadtfarben Gold-Weiß gestalten ließ. Das beauftragte Grafik-Studio schuf die im Land wohl schönste Drucksachen-Gestaltung, vornehm zurückhaltende Farbigkeit, ergänzt mit zarten, fein ironischen Cartoons als Vignetten. Gleich allgemeine Begeisterung!
Und dann noch die Bürgerbühne (BB), dieses „ganz besondere, kontinuierliche Moment der Partizipation“. Die BB also als Forum für jedermann, sich künstlerisch zu äußern. Schon beim ersten Aufruf (die hängen heute flächendeckend in den Hausaufgängen der Stadt), da standen 400 Leute vor der Tür; gerechnet hatte man mit höchstens 100.
In einem Dutzend verschiedener, teils temporär bestehender, nach Alter und Interessen sortierte Gruppen, Clubs genannt, bespricht man dem (örtlichen) Leben abgelauschte Themen, keltert ein Konzentrat, fixiert den Text und zeigt die Inszenierungen (über Geld, Liebe, Midlife-Crisis, Stasi, Altwerden, Lebensängste, Nachkriegserlebnisse). Das ist zuweilen irritierend und verstörend, immer aber tief berührend, von ganz eigener, anrührender Aura. Denn die Bürger sind keine Figuren, keine „Darsteller“. Sie stehen vielmehr als sie selbst auf der Bühne. Wobei die Laien von Künstlern (nicht Therapeuten oder Sozialarbeitern) angeleitet und betreut werden. Ihre Vorstellungen sind rappelvoll und Bestandteil des Repertoires – die BB, deutschlandweit ein Novum. Man beginnt andernorts, es zu kopieren. Von Wilfried Schulz lernen, heißt siegen lernen. Dass man so redet über ihn, wischt er mit verstecktem Stolz beiseite. – Sagen wir so: Die BB ist sein spezieller Glückwunsch ans Dresdner Schauspielhaus, das just vor einem Jahrhundert eröffnet wurde. Bravo!
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Neuerdings lassen sich Zutaten für optimalen Christbaumschmuck ‑ nicht protzig, nicht geizig – ganz exakt berechnen. So benötigt man etwa für einen 1,80-Meter-O-Tannenbaum 37 Kugeln, 9,19 Meter Lametta, 5,56 Meter Lichterkette und, wer mag, einen 18 Zentimeter großen Stern für die Spitze. Mathematikstudenten aus Sheffield haben die Deko-Formel (googeln!) ertüftelt. Die 1,80-Norm kann ja jedermann für sein Bäumchen als Richtwert nehmen. Oder, Mathe-Genies aufgepasst, sich je nach grüner Vorlage selbst präzis hochrechnen. Ich hoffe, keiner vertut sich. Dann klappt’s auch mit dem Heiligabend. „O du fröhliche…“ – bis zum nächsten Querbeet.
Schlagwörter: Andrea Moses, Bürgerbühne, Cheminitz, Dresden, Jossi Wieler, Karl Absenger, Reinhard Wengierek, Sergio Morabito, Stuttgart, Wilfried Schulz