von Claudia Haydt
In der NATO wie beim militärischen Arm der Europäischen Union geht der Trend hin zur gemeinsamen Nutzung bestimmter Ressourcen. Begründet wird dies vor allem mit budgetären Zwängen, vorbereitet wurde es aber schon vor der Finanzkrise. Was zunächst plausibel klingen mag – nicht jedes Land hält teures Gerät und hoch spezialisiertes Personal vor, sondern bringt diese in einen Pool zur gemeinsamen Nutzung ein –, hat Folgen für den Einsatz des nationalen Militärs, die öffentlich bislang kaum diskutiert werden.
Die Wirtschaftskrise ist auch bei den Militärhaushalten der Europäischen Union angekommen – zumindest wenn man den Verlautbarungen zahlreicher Politiker oder Think-Tanks Glauben schenken mag. Seit Beginn der Banken- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 wird die Debatte über militärische Integration innerhalb der Europäischen Union vor allem unter Verweis auf die schrumpfenden finanziellen Ressourcen der Mitgliedsstaaten vorangetrieben.
Zentral ist dabei die Gent-Initiative, die die belgische EU-Präsidentschaft im Jahre 2010 ins Leben rief. Hier wurde nach Wegen gesucht, wie aus der Europäischen Union ein effektiverer und handlungsfähigerer militärischer Akteur werden könnte als bisher. Die Gent-Initiative – das Motto ist „Pooling und Sharing“1 – geht dabei Hand in Hand mit vergleichbaren Bemühungen der NATO, die dort „multinational approach“ oder „smart defense“ heißen.
Für die engere Kooperation hat die Europäische Verteidigungsagentur (European Defence Agency/EDA) die nationalen Fähigkeiten nach drei Kriterien überprüft. Zum einen wurde beleuchtet, wie nationale Fähigkeiten so umgestaltet werden können, dass sie in Zukunft eine stärkere militärische Zusammenarbeit (Interoperabilität) ermöglichen, zum Beispiel im Rahmen der Europäischen Eingreiftruppe. Zweitens sollten die nationalen Fähigkeiten auf ihre Rolle bei der zukünftigen europäischen Aufgabenteilung untersucht werden, um die Duplizierung spezialisierter und teurer Fähigkeiten (etwa für die Luftbetankung) oder Systeme (z.B. Flugzeugträger) zu vermeiden. Schließlich sollten die nationalen Fähigkeiten identifiziert werden, die sich für die Erstellung EU-weiter Pools und deren gemeinsame Nutzung eignen.2 Wie weit Letzteres bereits gediehen ist und welche Auswirkungen dies auf die demokratische Kontrolle von Militärpolitik hat, soll im Folgenden erläutert werden. Vorab lohnt sich jedoch ein kurzer Blick auf die Frage, wie weit die europäischen Militäretats tatsächlich von Kürzungen betroffen sind.
Sparen beim Militär?
Es fällt auf, dass die Klagen über Kürzungen beim Militär in keinem Verhältnis zu den realen Kürzungen in den EUropäischen öffentlichen Haushalten stehen. Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) warnt gar, „die Finanzkrise demilitarisiert Europa“.3 Die SWP stützt sich dabei auf Daten der Europäischen Verteidigungsagentur, die einen Überblick über die Entwicklung der Verteidigungsausgaben bis zum Jahr 2010 geben.4 Die Verteidigungsagentur wie die SWP konstatieren einen europaweiten Rückgang der Militärausgaben und argumentieren dabei vor allem mit dem starken Rückgang der Militärbudgets in den neuen NATO-Mitgliedsstaaten im Osten Europas. Dass diese jedoch in den Jahren zuvor zur Vorbereitung des NATO-Beitrittes zu Lasten ihrer Sozialsysteme ihre Ausgaben im Militärbereich massiv gesteigert hatten und ihre Militäretats auch nach den aktuellen Kürzungen längst nicht wieder auf das Niveau aus der Zeit vor dem NATO-Beitritt gesunken sind, das verschweigen SWP und EDA. Die Zahlen über dramatisch sinkende Verteidigungsausgaben treffen daher nur begrenzt zu.
Als Beispiel sei hier Deutschland genannt, das einen gewichtigen Teil des gesamteuropäischen Verteidigungsbudgets stellt. So konstatiert die EDA einen deutlichen Rückgang der deutschen Militärausgaben von 36,1 Milliarden Euro im Jahr 2009 auf 33,5 Milliarden Euro im Jahr 2010. Nach den offiziellen Zahlen im deutschen Bundeshaushalt lagen die Ausgaben 2009 und 2010 jeweils bei etwa 31,1 Milliarden, es ist aber bekannt, dass diese Angaben nur begrenzt stimmen. Wesentlich zuverlässiger sind die Zahlen, die die Bundesregierung an die NATO meldet; demgemäß wurden 2009 etwa 33,5 Milliarden Euro fürs deutsche Militär ausgegeben, 2010 mit 34 Milliarden Euro etwas mehr. Seitdem sind die deutschen Militärausgaben weiter gestiegen und werden im Jahr 2013 gemäß dem Kabinettsentwurf des Verteidigungshaushaltes etwa 36,9 Milliarden Euro betragen.5 Es bleibt also ein Rätsel, auf welcher Grundlage die „Demilitarisierung Europas“ konstatiert werden kann.
Teurer globaler Interventionismus
Zuverlässiger als bei den Militäretats scheinen die Angaben der EDA bei der Frage nach den Kosten für Militärinterventionen der EU-Mitgliedsstaaten zu sein. Dabei fällt auf, dass sowohl die Gesamtkosten für globale Kriegs- und Besatzungseinsätze kontinuierlich gestiegen sind (von 6,6 Milliarden Euro in 2006 auf 10,4 Milliarden Euro in 2010) als auch die Kosten pro eingesetztem Soldaten, die sich von 79.000 Euro im Jahr 2006 auf 157.000 Euro im Jahr 2010 fast verdoppelt haben. Da die Personalkosten in etwa gleich geblieben sind, geht der Anstieg der Interventionskosten vor allem auf die immer teurere Ausstattung, entsprechend steigende Wartungskosten, den höheren Munitions- und Treibstoffverbrauch und eine intensivere und stärker technisierte Kriegsführung zurück. Durch den zunehmenden Einsatz von unbemannten Drohnen und weiterem Hightech-Kriegsgerät wird die Kostenexplosion wohl weiter zunehmen. Will die EU also ihre Fähigkeit zur globalen Kriegsführung erhalten oder gar ausbauen, wird sie dafür zukünftig noch mehr Geld brauchen als bisher. Die „knappen Mittel“ der EU-Militärs sind also in erster Linie eine Konsequenz ihrer globalen Militärinterventionen und ihrer machtpolitischen Ambitionen.
Die „Krise“ wird offenbar als Argument genutzt, um die militärische Integration von EU und NATO, die bereits seit Langem geplant, aber ohne tatsächlichen oder imaginierten Notstand politisch nicht durchsetzbar war, auf ein einheitliches Niveau fortzusetzen.6 Die „Krise“ wird somit zur „Chance“ für die Militärpolitik der EU.
EUropäisches Lufttransportkommando als Fallbeispiel
Welche militärischen und politischen Konsequenzen das „Pooling und Sharing“ haben kann, lässt sich beispielhaft am „europäischen strategischen Lufttransportkommando“ (European Air Transport Command/EATC) zeigen. Mit dem EATC soll eine von drei vermeintlichen „Fähigkeitslücken“ geschlossen werden. Zum Aufgabenspektrum des Kommandos gehören die Mobilität im Einsatz, der Schutz der Soldaten bei Militäreinsätzen und vor allem die Bereitstellung von Transportkapazitäten für die Verlegung von Streitkräften und Gerätschaften in die Einsatzgebiete. Das EATC ist also ein zentrales Projekt, um die Kriegsfähigkeit der EUropäischen Streitkräfte zu verbessern. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat es seine Arbeit vor mehr als einem Jahr aufgenommen.
Das EATC ist verantwortlich für gemeinsame militärische Lufttransporte mit Flugzeugen, nicht jedoch mit Hubschraubern. Das europäische Kommando führt zwar keine „kinetischen Einsätze“, also keine direkten Kampfeinsätze, durch, transportiert aber Rüstung, Munition und Soldaten im direkten Kontext von Kriegen. Wie bei den meisten multinationalen Militärprojekten müssen die Einzelstaaten bei der Einrichtung des gemeinsamen Transportkommandos zumindest auf einen Teil ihrer nationalen Souveränitätsrechte verzichten. Das ist einer der Gründe, weshalb die konkrete Umsetzung vieler Integrationsprojekte länger dauert als von Seiten der EUropäischen Militärstrategen geplant. Die grundsätzliche Bedeutung dessen, was bereits umgesetzt wurde, darf dennoch nicht unterschätzt werden.
2007 einigten sich Belgien, Deutschland, Frankreich und die Niederlande auf ein EATC-Konzept. Im September 2010 wurde das EATC in Eindhoven (Niederlande) aufgestellt. Luxemburg, das ursprünglich seine Bereitschaft zur Teilnahme signalisiert hatte, wird voraussichtlich erst 2013 beitreten. Um das EATC langfristig zu etablieren, soll 2013/14 ein Staatsvertrag abgeschlossen werden, und damit auch Nicht-NATO-Staaten integriert werden können, wurde bewusst eine Lösung außerhalb der NATO-Struktur gesucht. Es wird unter anderem mit dem Beitritt von Österreich, Spanien und der Türkei gerechnet.
Der deutsche Beitrag zum EATC besteht momentan aus 72 Soldaten und einem Zivilmitarbeiter, die in der Zentrale in Eindhoven eingesetzt werden. Im November 2011 wurden zudem etwa 70 deutsche Transportflugzeuge dem gemeinsamen Transportkommando unterstellt. Die Flugzeuge werden jeweils von nationalen Besatzungen geflogen, transportieren aber Frachten für sämtliche teilnehmende Streitkräfte. Dem EATC wurden fünf A310 zugeordnet, beim Rest handelt es sich um C-160 und C-160 ESS. In Zukunft sollen auch die von EADS produzierten Airbus A400M im Rahmen des EATC eingesetzt werden. Obwohl die volle Funktionsfähigkeit des Transportkommandos erst im Mai 2011 erreicht wurde, hat es im Jahr 2011 bereits umfangreiche Transportleistungen abgewickelt: Insgesamt fanden 7.712 Flüge statt, 3.650 davon waren deutsche Flüge.
Flüge, die für eine andere Nation durchgeführt werden, werden nicht bezahlt, sondern lediglich erfasst. Durch den Einsatz des jeweils passenden Flugzeuges mit der jeweils passenden Transportkapazität wird aber in Summe auf einen Effizienzgewinn gehofft.
Libyen und Afghanistan – Kriegsbeteiligung als Routineaufgabe
Die Transportflugzeuge werden nicht nur in Europa eingesetzt, sondern routinemäßig auch „auf dem afrikanischen und amerikanischen Kontinent“.7 Konkret wurden bisher der Libyenkrieg, die französische Intervention in der Elfenbeinküste und der Afghanistankrieg über das EATC unterstützt. Die Flüge für den ISAF-Einsatz in Afghanistan werden von deutschen Flugzeugen über Termes/Usbekistan und von französischen Flugzeugen über Duschanbe/Tadschikistan abgewickelt. Angesichts der seit November 2011 geschlossenen Grenze zu Pakistan haben diese Transportrouten zentrale strategische Bedeutung.
Nach Angaben aus dem Unterausschuss Sicherheit und Verteidigung im Europaparlament8 wurden im Verlauf des Libyenkrieges 11.000 Soldaten und 3.300 Tonnen Ausrüstung durch das EATC transportiert. Der größte Teil dieser Transporte wurde mit französischen Maschinen abgewickelt, deutsche SoldatInnen haben aber immerhin etwa 10 Prozent der Transporte durchgeführt. Zusätzlich unterstützten in der Zentrale in Eindhoven weitere Bundeswehrangehörige den Libyenkrieg.
Dabei war Deutschland am Libyenkrieg offiziell gar nicht beteiligt. Der Bundestag erteilte folglich auch kein Mandat für die Teilnahme deutscher Soldaten an diesem Krieg. Dennoch waren über hundert deutsche Soldaten in NATO-Stäben eingesetzt, die explizit für die Unterstützung des Libyen-Krieges eingerichtet worden waren. Die Parlamentsbeteiligung und damit die demokratische Kontrolle der Bundeswehr werden durch solche indirekten Kriegseinsätze im Zuge der militärischen Integration immer weiter ausgehöhlt.
Das Ende der Parlamentsarmee
Das EATC ist zwar nicht das einzige militärische Integrationsprojekt der EU, es gehört jedoch neben dem prominentesten Beispiel, den Europäischen Battlegroups, zu den am weitesten vorangeschrittenen Projekten für das „Pooling“ europäischer militärischer Ressourcen. Während das EATC sich bereits als „kriegstauglich“ erwiesen hat, steht dieser „Praxistest“ den Battlegroups eventuell bald bevor. Diese meist multinationalen Gefechtsverbände mit 1.500 bis 3.000 Soldaten stehen für jeweils ein halbes Jahr für globale Militärinterventionen zur Verfügung. Das Ziel, die Battlegroups innerhalb von weniger als zehn Tagen einsetzen zu können, ist nach Auskunft des Vorsitzenden des EU-Militärkomitees Haakan Syrén inzwischen erreicht.9
Deutschland hat in drei weiteren Projekten die Federführung übernommen: bei der Errichtung eines multinationalen Hauptquartiers in Ulm (Multinational Joint Headquarters), beim Aufbau eines Pools von Flugzeugen zur Überwachung des Seeraumes sowie bei einer Militärgeographischen Unterstützungsgruppe. Jedes dieser multinationalen Projekte könnte vor einem Militäreinsatz zumindest theoretisch durch ein nationales Veto gestoppt werden. In den meisten Ländern müsste das Veto von der Regierung kommen, nur in wenigen Ländern hat das Parlament dabei die entscheidende Stimme. Parlamentarische Entscheidung bedeuten immer auch öffentliche Debatten über Sinn und Unsinn von Einsätzen. Deswegen sieht der Lissabon-Vertrag der EU in Protokoll 10 auch vor, die parlamentarischen Entscheidungswege im Zuge der ständigen strukturierten Zusammenarbeit „anzupassen“, so dass einer kurzfristigen Verfügbarkeit der nationalen Militärbeiträge nichts mehr im Wege steht.
Die Möglichkeit für Grundsatzentscheidungen über Krieg und Frieden werden zunehmend durch Effizienzerwägungen ausgehebelt, wie die Vorschläge von Andreas Schockenhoff, dem stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zeigen: „Wichtig ist, dass wir wie unsere Verbündeten auf Kommando-, Logistik, Aufklärungs- oder Ausbildungseinheiten, die ,geteilt’ werden, verlässlich zugreifen können. […] Eine wirkungsvolle GSVP [Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik – Anm. C.H.] wird die militärischen Fähigkeiten der einzelnen Staaten in so starkem Maße zusammenlegen und unter geteilte Führung stellen, dass es nicht möglich sein wird, nationale Vorbehalte als Einzelmeinung durchzusetzen. Deutsche Soldaten könnten damit in einen EU-Einsatz gehen, den die deutsche Regierung und der Deutsche Bundestag allein aus eigener Initiative nicht beschlossen hätten.“10
Fazit
Das EATC und andere „Pooling-und-Sharing“-Projekte stellen Schritte auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Armee dar. Wer diese will, spricht sich damit für einen Abschied von der Parlamentsarmee aus. Die Bundeswehr im Einsatz ist bereits heute, mit den noch existierenden Möglichkeiten der Parlamentsbeteiligung, kaum zu kontrollieren. Doch je mehr eine europäische Armee Realität wird, umso stärker werden die letzten Kontrollmöglichkeiten verschwinden. Bereits schon die Tatsache, dass in der Öffentlichkeit nur über das angebliche Sparpotential einer EUropäischen Integration, nicht aber über das Demokratieproblem diskutiert wird, sollte nachdenklich stimmen. Einen konkreten Vorgeschmack auf die Auswirkungen der militärischen Integrationspolitik liefert das EATC, in dessen Rahmen Bundeswehrangehörige umfangreiche Kriegsunterstützung leisten – ohne öffentliche Debatte, ohne vorherige Information der Abgeordneten und ohne Entscheidung des Bundestages.
IMI-Analyse 2012/023, Erstveröffentlichung in: Wissenschaft & Frieden 4/2012. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
- Vgl. European Defence Agency: EDA’s Pooling and Sharing. Fact Sheet vom 20.1.2012. ↑
- Insgesamt wurden vom EU-Militärstab 18 Projekte mit Potential für eine engere Kooperation identifiziert, auf die hier aber nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. ↑
- Claudia Major: Mehr Europa in der NATO. SWP-Aktuell 2012/A 52, September 2012. ↑
- European Defence Agency: Defence Data Portal – 2005-2010; eda.europa.eu/DefenceData. ↑
- Bundesministerium der Verteidigung: Erläuterungen und Vergleiche zum Regierungsentwurf des Verteidigungshaushalts 2013, August 2012, S.32. ↑
- Vgl. „ Schlussfolgerungen zur Bündelung und gemeinsamen Nutzung militärischer Fähigkeiten“ in: Rat der Europäischen Union: Mitteilungen an die Presse. 3157. Tagung des Rates, Auswärtige Angelegenheiten, Brüssel, den 22. und 23. März 2012. ↑
- Mitteilung Staatssekretär Thomas Kossendey an den Verteidigungsausschuss vom 6.3.2012, S.4. ↑
- PowerPoint-Präsentation von Generalmajor Jochen Both, 29.11.2011. ↑
- Myrto Hatzigeorgopoulos: The Role of EU Battlegroups in European Defense. ISIS Europe, European Security Review no 56, June 2012, S.1f. ↑
- Schockenhoff, Andreas/Kiesewetter, Roderich: Impulse für Europas Sicherheitspolitik. Internationale Politik, September/Oktober 2012, S.88-97. ↑
Schlagwörter: Bundestag, Claudia Haydt, EATC, EU, European Air Transport Command, Krieg, Militär, NATO, Pooling, Sharing