15. Jahrgang | Nummer 26 | 24. Dezember 2012

Januskopf – oder: geschönte Erinnerungen?

von Alfons Markuske und Korff

Vor einigen Wochen hatte die Berichterstattung über „50 Jahre Spiegel-Affäre“ im gleichnamigen Magazin Aufschlussreiches über Planspiele zum so genannten vorbeugenden Atomschlag („preemptive strike“) unter der Verantwortung des damaligen Bundesverteidigungsministers Franz-Josef-Strauß im Jahre 1961/62 zu Tage gefördert. Blättchen-Autor Korff hatte sich damit in den Ausgaben 23 und 24 auseinandergesetzt.
Daraufhin holte einer unserer Redakteure Straußens Memoiren aus seinem Bücherschrank und fand darin die folgende Passage: „[…] Die Gespräche im NATO-Hauptquartier in Paris sind in kurzen Abständen wiederholt und fortgesetzt worden. Eines Tages kam Foertsch (Friedrich Foertsch war von 1959 bis 1961 stellvertretender Planungschef im NATO-Hauptquartier SHAPE in Paris. Im  April 1961 wurde er zum Generalinspekteur der Bundeswehr ernannt. – Anm. d. Red.) zu mir – es muß nach der Auseinandersetzung mit den Engländern gewesen sein, bei der sich die Franzosen im übrigen ziemlich zurückhaltend gaben –, um mir aufgeregt das Neueste aus dem NATO-Hauptquartier zu berichten. An dem Gespräch nahmen meiner Erinnerung nach nur General Schnez und Staatssekretär Hopf teil. Für den Fall, dass der von den Amerikanern geplante Vorstoß zu Lande nach Berlin von der Sowjetunion aufgrund ihrer Überlegenheit aufgehalten werde, hätten die USA die Absicht, so Foertsch, bevor es zum großen Schlag gegen die Sowjetunion komme, eine Atombombe zu werfen und zwar im Gebiet der DDR. Ich fragte nach. ,Im Gebiet der Sowjetunion?’ Nein, so die Antwort, im Gebiet der DDR.
Die Amerikaner brachten diesen Gedanken ernsthaft ins Gespräch, was schon daraus hervorgeht, daß sie uns nicht nur allgemein gefragt haben, sondern daß sie von uns wissen wollten, welches Ziel wir empfehlen. Das war die kritischste Frage, die mir je gestellt wurde. Ich sagte, diese Verantwortung könne niemand übernehmen. Ein Ziel wie Hiroshima oder Nagasaki komme, so meine eiserne Position, nicht in Betracht, damit würden wir uns trotz eines eventuellen Erfolges, nämlich Erzwingung der Zugänge zu Berlin, eine solche Last auferlegen, daß der Preis in keinem Verhältnis stünde zum Ergebnis. Es war dann von einem russischen Truppenübungsplatz die Rede, auf dem große Mengen russischer Truppen konzentriert waren. Wenn diese Atombombe präzise geworfen und wenn sie einen begrenzten Wirkungsradius haben würde, dann wären die Opfer unter der zivilen Bevölkerung weitgehend auf die Menschen beschränkt, die auf diesem Truppenübungsplatz arbeiteten. Einen Truppenübungsplatz, den ich kannte, habe ich namentlich genannt – ich war dort im Jahre 1942 eine Zeitlang bei der Aufstellung einer neuen deutschen Panzerflakeinheit. Dies erschien mir, wenn es schon dazu kommen mußte und wir den Amerikanern nicht in den Arm fallen konnten, unter den gegebenen Übeln das Geringste zu sein, obwohl es noch immer schlimm genug war.
Der amerikanische Gedanke eines Atombombenabwurfs auf einen sowjetischen Truppenübungsplatz hätte, wäre er verwirklicht worden, den Tod von Tausenden sowjetischer Soldaten bedeutet. Das wäre der Dritte Weltkrieg gewesen. Die Amerikaner wagten einen solchen Gedanken, weil sie sehr genau wußten, daß die Sowjets damals noch nicht über präzise treffende und zuverlässig funktionsfähige Interkontinentalraketen verfügten, auch nicht über einsatzgenaue Mittelstreckenraketen, die in Stellung zu bringen gewesen wären. Der Krieg hätte also weitgehend in Europa stattgefunden, und zwar als konventioneller Krieg, dem die USA eine nukleare Komponente hinzufügen konnten. Solche Überlegungen sind am Sonntag, dem 13. August 1961, zum Glück Makulatur geworden. […]“
War Strauß also nicht nur kein potenzieller atomarer Angriffskrieger, sondern vielmehr ein -verhinderer sowie noch dazu, und zwar aus diesem Grunde, ein Befürworter der Mauer? Welches Bild stimmt? Oder gibt es eine dritte Wahrheit?

Alfons Markuske

Auf die rhetorische Frage der Redaktion nach einer möglicherweise „dritten Wahrheit“ hätte Adenauer – der sich selbst als „diktatorisch, nur mit stark demokratischen Einschlag“ sah und bekannte, „Ich weiß gar nicht, ob ich noch meiner Meinung bin“ – womöglich so geantwortet: „Wie mein Freund Pferdmenges unterscheide ich drei Steigerungen der Wahrheit: Die einfache, die reine und die lautere Wahrheit. Ich will Ihnen jetzt die reine Wahrheit sagen…“
Die herbeigezogenen Strauß-Memoiren heißen, vom Verlag mit Zustimmung des Autors bewusst gewählt, „Die Erinnerungen“. Und die sind bekanntlich frei.
Wohl nicht zufällig hat Der Spiegel seine Erinnerungsgeschichte mit neu erschlossenen Dokumenten eingeleitet, ohne auf die Strauß-Variationen auch nur einzugehen, obwohl die dort vermutlich mindestens so bekannt sind wie hier.
Meine Darstellung hob nicht so sehr auf mögliche Widersprüche zwischen den USA und der Bundesrepublik Anfang der 60er Jahre ab, wer, wie, wo und wann atomare Waffen gegen die DDR und die CSSR einsetzen wollte – mit verheerenden Auswirkungen auch auf die Bundesrepublik und deren angrenzende westliche Nachbarstaaten –, sondern darauf dass dies eine ernstliche Konzeption war, und zwar nicht etwa als Antwort auf eine Aggression der Gegenseite, sondern als „preemtive strike“, das heißt, bereits auf die Annahme hin, dass der Gegner demnächst etwas Übles von Zaune brechen könnte. Und diese Feststellung wird durch „beide Wahrheiten“ bestätigt. Zudem: Dass sich Menschen, Charaktere und deren Verhalten infolge veränderter Umstände und Erkenntnisse auch ändern können, ist so ungewöhnlich nicht. Im Beitrag von Herbert Bertsch über sein Gespräch mit Robert McNamara hat das Blättchen in Ausgabe 22 ein bezeichnendes Beispiel vorgestellt, wenn auch mit dem Unterton „zu spät“ im sachlich notwendigen richtigen Nachhall der Redaktion in den Antworten in Ausgabe Nr. 23.
Nun, so auf „Die Erinnerungen“ von Strauß aufmerksam gemacht, möchte ich zusätzlich seine Vermutung zitieren, dass die damaligen westlichen Erwägungen zu einem Kernwaffeneinsatz im grenznahen Bereich zwischen NATO und Warschauer Vertrag sowie dessen möglichen Folgen von UdSSR und DDR unterschiedlich bewertet wurden, weil Strauß damit die entsprechenden Andeutungen von Werner Großmann stützt, die ich in meinem Beitrag in Ausgabe  24 zitiert hatte. Bei Strauß heißt es: Meine „Beurteilung, die sich als rundum richtig erwies, hat meine Glaubwürdigkeit in Ost-Berlin wesentlich gefestigt. Dass ich ihn meine Meinung frank und frei wissen ließ, hat mir Honecker anscheinend hoch angerechnet. Für die weiteren Beziehungen zu Ost-Berlin jedenfalls war dieser Vorgang von erheblicher Bedeutung. Ob die innenpolitische Lage bei uns von Ost-Berlin und Moskau in gleicher Weise falsch eingeschätzt wurde, oder ob es deutliche Unterschiede gab, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich glaubte zumindest unterschiedliche Nuancen herauszuhören.“
Wo Strauß mit seinen Erinnerungen, die nicht immer mit Wahrheit(en) identisch gewesen sein müssen, Recht hatte, hat er … Und was die spät begonnene, aber andauernde gegenseitige Achtung Honecker-Strauß anlangt: Das stimmt auch.

Korff