15. Jahrgang | Nummer 22 | 29. Oktober 2012

Verwelkter Frühling

von Erhard Crome

Ermüdet von den weltgeschichtlichen Kämpfen des 20. Jahrhunderts schauten viele europäische Linke mit leuchtenden Augen auf die arabischen Länder, als die diktatorischen Präsidenten Tunesiens und Ägyptens gestürzt wurden. Nachdem die Frankfurter Allgemeine Zeitung von „Arabellion“ schrieb, schien auch das bürgerliche Lager in die Begeisterung einzustimmen. Die „netzaffine Gemeinschaft“ der mit dem Computer Verwachsenen fühlte sich bestätigt, als von „Facebook-Revolution“ die Rede war – dann wären die französische Revolution von 1789 eine Pamphlet- und Zeitungsrevolution und die russischen Revolutionen von 1917 Telegraphenrevolutionen gewesen. Sagt das etwas über den Inhalt? Außerdem mussten die Menschen auf den Tahrir-Platz in Kairo gehen, um dem Protest Ausdruck zu verleihen, den „Gefällt mir“-Knopf zu drücken, reichte nicht.
Nun sind die umstürzenden Entwicklungen bald zwei Jahre her. In einer Reihe von Ländern wurden die Protestbewegungen durch eine Kombination von politischem Taktieren, partiellen Zugeständnissen und Polizeimaßnahmen entschärft und kanalisiert. Die Macht – etwa in Marokko oder Jordanien – blieb am Ende unangetastet. In einigen Ländern brauchte es einige Zeit und kostete Opfer, wie im Jemen, in anderen wurde nachgeholfen, wie in Bahrein durch Saudi-Arabien und in Libyen durch den Krieg des Westens. Mit den kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien scheinen nun die letzten Hoffnungen begraben zu werden. Dem westlich kulturalisierten Menschen, welcher politischen Couleur auch immer, scheint sich die überkommene Unübersichtlichkeit der arabischen Welt wiederhergestellt zu haben. Tatsächlich reiben sich die westlichen Geopolitiker die Hände: Die arabischen Länder bleiben unter der Hegemonie der USA und der EU, das Öl fließt weiter und bleibt westlich kontrolliert, die Flüchtlinge aus den Armutsregionen Asiens und Afrika werden abgewehrt, die Wirtschaften der Länder sind dem Zugriff des Neoliberalismus noch offener zugänglich, als zur Zeit der „Diktatoren“.
Das zentrale Land der arabischen Welt war und bleibt Ägypten. Dort haben Wahlen stattgefunden, der Muslimbruder Mursi ist gewählter Präsident. Die Muslimbrüder präsentieren sich als „gemäßigt“, gleichwohl wollen sie eine islamistische Verfassungs- und Gesetzgebung durchsetzen. Dabei können sie sich auf die so genannten Salafisten berufen, die ganz offen den Gottesstaat wollen, während der gesamte säkulare Teil des politischen Spektrums, von richtig links bis konservativ-bürgerlich, den anderen Rand bildet. Dazwischen erscheinen die Muslimbrüder als die mäßige Mitte. Ihr Aufstieg wurde von den USA präferiert, Katar und Saudi-Arabien haben finanzielle Mittel bereitgestellt, mehr noch jedoch für die Salafisten. Mit der ägyptischen Militärführung wurde eine Vereinbarung getroffen: Sie behält ihre Privilegien und akzeptiert die Muslimbrüder an der politischen Macht.
Unter der Bevölkerung machen sich Verzweiflung und Enttäuschung breit: „Man hat uns unsere Revolution gestohlen!“ Der Staat ist kaum noch präsent – die Sicherheitsorgane Mubaraks haben sich zurückgezogen, mit der Folge, dass die normale Polizei angesichts von Kriminalität oder gewaltsamen Anschlägen nicht zu sehen ist. Die Produktion ist gesunken, Arbeitslosigkeit und Inflationsrate steigen. Die Muslimbrüder reden von Ankurbelung der Wirtschaft, haben aber vor allem eine weitere Veräußerung von Staatseigentum an Käufer aus dem Westen und den Golfstaaten im Sinn. Die Proteste im Lande, nun gegen die neue Regierung, reißen nicht ab. Streikende Arbeiter und Gewerkschafter werden wieder drastisch bestraft und ins Gefängnis geworfen. Derweil setzt die Regierung die „Muslimbrüderisierung“ des Staates und der Gesellschaft fort; auf einer Liste von Schaltstellen, die sie im Staatsapparat besetzen will, stehen etwa 14.000 Positionen.
Die Sorge um die Entwicklungen im nahöstlichen Raum ist allenthalben zu spüren. In der Türkei wird sie zudem überlagert von der drohenden Gefahr eines Krieges gegen Syrien. Dort weiß man, wie tief der türkische Staat inzwischen in den Krieg verstrickt ist. Die bewaffneten Formationen der so genannten Opposition ruhen sich am Tage in den Flüchtlingslagern auf türkischem Gebiet aus, schleichen sich des Nachts über die Grenze zu ihren Waffen, die auf syrischem Gebiet liegen und im Zusammenspiel westlicher Geheimdienste, der Golfstaaten und islamistischer Netzwerke bereitgestellt wurden, und verüben Angriffe. Wenn das syrische Militär zurückschießt, wallen die Medienproteste auf.
So war es kürzlich auf einer Nahost-Konferenz, die die türkischen Linken in Istanbul veranstaltet hatten, zu hören. Das im Thema bereits angelegte Spannungsfeld lautete: „Das Verlangen der Völker nach Gerechtigkeit und Freiheit und die Interventionen“. Weitgehende Überstimmung bestand, dass der Westen weiter die geopolitische und die Kontrolle über das Öl und die anderen Rohstoffe ausüben und den Zugang zu Märkten und Eigentum erweitern will. Da stören Forderungen nach Freiheit, Demokratie, Würde und sozialer Gerechtigkeit. Demokratie soll auf formales Wählen reduziert bleiben, die neuen Regimes sollen wurzellos über der Gesellschaft schweben und vor allem nicht in den Aufständen verankert sein.
Antworten auf die Frage nach den Ursachen für die Lage gibt es viele. Welche sind stichhaltig? Vertreter traditioneller linker Parteien, die es auch noch gibt, meinen, die Revolutionen hätten nicht die richtige Führung gehabt. Wenn es eine richtige Avantgarde gegeben hätte, mit den richtigen Zielen und dem richtigen Programm, dann hätte die Revolution auch zu den richtigen Ergebnissen kommen können. Ja, dachte ich, aber wer sagt denn hier, was wirklich „richtig“ war und ist?
Andere verwiesen auf das Treiben der verschiedenen Geheimdienste. Aber wissen wir nicht aus der europäischen Geschichte, dass nach der „Wende“ von 1989/90 auch die alten Erzählungen wieder aufgewärmt wurden, Lenin sei am Ende nur ein Agent des deutschen Generalstabes, von Ludendorff, gewesen, um Russland aus der Entente mittels Revolution herauszubrechen und für Deutschland den Albtraum des Zweifrontenkrieges zu beenden? Es gab auch verschiedene Bücher, in denen dargetan wurde, dass die deutsche Einheit am Ende ein Komplott der Geheimdienste der USA und der Sowjetunion war. Geheimdienste gibt es immer. Aber Revolutionen können sie nicht nach Belieben herbeiführen oder steuern. Das hat immer noch mit den Massen des Volkes zu tun. Lenins instrumentelle Definition der „revolutionären Situation“ war zu erinnern: Sie tritt ein, wenn die oben nicht mehr in der alten Weise herrschen können und die unten sich nicht in der bisherigen Weise beherrschen lassen wollen.
Auch etwas anderes ist keine Besonderheit der Ausgänge der arabischen Entwicklungen: Die, die eine Revolution begonnen haben, waren in aller Regel nicht die, die am Ende an den Schalthebeln der Macht saßen. Und es ist, unter Verweis auf Slavoj Zizek*, der sich wiederum auf Foucault und Badiou bezieht, zu betonen: Jede Revolution ist ein authentisches Ereignis, in dem es den kurzen Moment gibt, da die alte Macht nicht mehr besteht, und die neue noch nicht herrscht. Das ist der Moment, in dem eine kurzzeitige Öffnung erfolgt, ein historischer Augenblick, in dem „alles möglich scheint“, in dem eine fieberhafte Aktivität einsetzt, intensive Debatten geführt und utopische Pläne entwickelt werden. Und beendet werden derartige Momente, wenn etwa nach der iranischen Revolution die Mullahs kommen oder nach der ägyptischen die Muslimbrüder. Sowohl die neuen Herren selbst als auch die zynischen Revolutionsablehner unter den Beobachtern im Westen erklären dann beflissen, dass es nur so kommen konnte, wie es kam.
Doch für die Beteiligten des Aufstandes, der Revolution und ihre nachfolgenden Generationen bleibt die Erinnerung an diese Phase der historischen Öffnung das Entscheidende, das weitergetragen wird in der Geschichte und in den nächsten Aufständen wieder Platz greift. An eine Hauswand in Berlin wurde nach der Kohlwahl zur Volkskammer der DDR 1990 gepinselt: „Das Chaos ist aufgebraucht, es war die schönste Zeit.“

* – Siehe S. Zizek: Die bösen Geister des himmlischen Bereichs. Der linke Kampf um das 21. Jahrhundert, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011.