von Hans-Peter Götz
Dieser kurze historische Rückblick auf die Anfänge einer Normalisierung der Beziehungen zwischen der BRD und der DDR ab 1969 könnte auch „Willy Brandt in Erfurt“ betitelt sein.
Die erste sozial-liberale Bundesregierung unter Willy Brandt Bereits machte sofort nach ihrem Regierungsantritt, der auf die Bundestagswahl vom 28. September 1969 folgte, Ernst gegenüber der UdSSR, Polen und der DDR mit dem schon länger erklärten Willen der SPD-Führung, einen nachhaltigen Wandel von der Konfrontation der vorangegangenen Jahrzehnte zu einem friedlichen Nebeneinander herbeizuführen. Diese neue Ostpolitik, deren maßgeblicher Vordenker Egon Bahr war, führte binnen weniger Jahre zu den Verträgen von Moskau und Warschau sowie zum Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten.
Dabei kam es seitens der SPD-Führung bereits unmittelbar nach der Bundestagswahl zu erster Sondierungen gegenüber der DDR, um einen flankierenden offiziellen, aber verdeckten Kanal zu installieren, über den besonders diffizile Fragen im Vorfeld besprochen und geklärt werden sollten, um künftige öffentliche Kontakte nicht mit dem Risiko zu belasten, an strittigen Fragen zu scheitern.
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Einschub: Es ging um das, „was die Amerikaner einen ‚back channel’ nennen, eine offizielle, aber verdeckte Verbindung zwischen Entscheidungsträgern. Sie muß verlässlich und dicht sein, dicht gegenüber den beiderseitigen Bürokratien und der Öffentlichkeit; denn nur dann kann sie weitgehend frei von dem üblichen Prestigebedürfnis der ‚Chefs’ gehalten werden und so das wichtigste Element produzieren: große Offenheit und Vertrauen“, resümierte später Egon Bahr. (Ders., Vorwort, in: Wjatscheslaw Keworkow: Der geheime Kanal. Moskau, der KGB und die Bonner Ostpolitik, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 9.).
Seitens der Sowjetunion erging auf Initiative des damaligen KGB-Chefs Juri Andropow – in Abstimmung mit dem damaligen Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breshnew, – am Heiligabend 1969 ein entsprechendes Angebot an die SPD – über Egon Bahr –, das zu einem solchen Kanal führte. Der funktionierte viele Jahre, und zwar nach Einschätzung der Beteiligten von beiden Seiten höchst effizient.
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Direkte Kanal-Offerten an die DDR-Führung unterbreiteten Egon Bahr, mit Regierungsantritt Brandts Staatssekretär im Kanzleramt, und Horst Ehmke, Chef des Kanzleramtes. Beide wurden sowohl selbst aktiv, setzten aber als Mittler auch den damaligen Westberlin-Korrespondenten der FAZ, Dettmar Cramer, ein.
Als Ansprechpartner aufseiten der DDR fungierte Hermann von Berg, der in den frühen 60er Jahren den Westbereich im Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrates geleitet hatte, dann an die Akademie für Gesellschaftswissenschaften und später an die Sektion Wirtschaftswissenschaften der Humboldt-Universität gewechselt war. Den Agierenden aufseiten der SPD war von Berg als Emissär in deutsch-deutschen Fragen unterhalb der offiziellen Ebene – etwa im Vorfeld der ersten Passierscheinregelungen zwischen der DDR und dem Senat von Westberlin 1963-64 – bekannt. Sie gingen davon aus, dass von Berg, da Kontakte zu ihm jederzeit möglich waren, mit den notwendigen Verbindungen zu den relevanten Schaltstellen in der DDR, auch über den Ministerrat hinaus, ausgestattet war. Cramer und von Berg kannten sich zum damaligen Zeitpunkt auch bereits länger persönlich.
Um die Ernsthaftigkeit der Bemühungen um einen inoffiziellen Kanal zu unterstreichen, lud Bahr von Berg nach Bonn ein, um ihm die erste Regierungserklärung Brandts zu erläutern, bevor die Rede am 28. Oktober 1969 im Bundestag gehalten wurde. (Das hätte, wäre es ruchbar geworden, zu einem politischen Skandal sondergleichen geführt und die Koalition mit der FDP, die seinerzeit in schweren Flügelkämpfen steckte, womöglich gleich am Start vor eine Zerreißprobe gestellt.) Das Treffen fand statt, und Bahr informierte seinen Gast unter anderem darüber, dass in Brandt Regierungserklärung der Begriff „Wiedervereinigung“ nicht vorkommen werde.
In der Folgezeit funktionierte der inoffizielle Kanal jedoch aus Sicht der SPD-Beteiligten zu keinem Zeitpunkt zufrieden stellend und blieb vor allem während der äußerst schwierigen Verhandlungen zur Vorbereitung des ersten deutsch-deutschen Gipfeltreffens zwischen Brandt und Ministerpräsident Willy Stoph eine Einbahnstraße. Diese Verhandlungen begannen nach der offiziellen Einladung Stophs an Brandt, die in Bonn am 12. Februar 1970 übergeben worden war. Beide Seiten waren für Berlin als Austragungsort. Die DDR wollte mit einer Visite in ihrer Hauptstadt den Staatsbesuch-Charakter unterstreichen und ihrem Begehr nach voller diplomatischer Anerkennung durch Bonn Nachdruck verleihen. Die Bundesregierung wollte durch die An- oder Abreise Brandts über Westberlin dessen Zugehörigkeit zur BRD demonstrieren, was für die DDR unannehmbar war. Deren Position: Westberlin ist gemäß Festlegungen der Alliierten eine besondere politische Einheit auf dem Territorium der DDR und kein Bestandteil der BRD. Brandt sollte daher über die DDR ein- und ausreisen, ohne Westberlin zu berühren. Die Verhandlungen gingen hin und her. DDR-Führung hätte das Treffen an dieser Frage womöglich scheitern lassen. Zeitlich parallel verhandelte Bahr in Moskau mit dem sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko die ersten Schritte zum späteren Moskauer Vertrag und informierte die sowjetische Seite „brühwarm“ und meist deutlich früher, als die DDR dies tat, über die aktuellen Stolpersteine in den deutsch-deutschen Verhandlungen. Aus Moskau erging schließlich ein klares Signal an die SED-Führung, sich kompromissbereit zu zeigen. So konnte das Treffen Stoph – Brandt am 19. März 1970 doch stattfinden – grenznah, in Erfurt.
Der Kanal erfüllte die seitens des Kanzleramtes in ihn gesetzten Erwartungen ebenfalls nicht, als die Bonner Seite nach dem 12. März 1969 – an diesem Tag wurden die protokollarischen und technischen Verhandlungen für das Treffen abgeschlossen –unterhalb der offiziellen Ebene inhaltliche Fragen abstimmen wollte. Ehmke hatte dazu gegenüber von Berg ein Treffen in Bonn vorgeschlagen. Von Berg meldete sich am 13. März telefonisch: „Nach einem Vermerk der Staatssicherheit sollte Berg dem Kanzleramtsminister mitteilen, dass er ihn zurzeit nicht in Bonn aufsuchen könne, ‚da er ungeheuer stark in die Vorbereitungen des Treffens eingespannt sei‘. Ehmke meinte, ‚daß es doch keinen Zweck hätte, wenn sich die Chefs gegenseitig Überraschungen bereiten würden, denn das könnte ins Auge gehen‘. Es wäre deshalb gut, wenn es vorab zu Gesprächen komme, um Umwege auszuschalten. Ehmke unterbreitete erneut das Angebot, vorab alles zu sagen, was die Bundesregierung in Erfurt vortragen wolle. Berg versprach, diese Information weiterzuleiten. Abschließend sagte Ehmke, ‚wenn sich die DDR-Seite nicht wieder meldet, wird sich auch Bonn nicht wieder melden‘. Die DDR schwieg. Der erhoffte geheime Kanal erwies sich wieder als Sackgasse.“ (Jan Schönfelder / Rainer Erices: Willy Brandt in Erfurt, Chr. Links Verlag, Berlin 2010, S. 131)
Persönlich lernte Bundeskanzler Brandt von Berg – von dem zu vermuten ist, dass er als inoffizieller Emissär von der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit geführt wurde, was wiederum mit seiner zeitweiligen Funktion als Chef des Westbereiches im Presseamt des DDR-Ministerrates zu tun gehabt haben dürfte – erst auf der Zugfahrt von der deutsch-deutschen Grenze nach Erfurt kennen. Offiziell begrüßt wurde die bundesdeutsche Delegation an der Grenze von Michael Kohl, Staatssekretär beim Ministerrat der DDR und späterer Verhandlungspartner Bahrs beim Grundlagenvertrag, und Horst Hain, Protokollchef des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA). Auch mit an Bord – Hermann von Berg, dessen Mitfahrt offenbar so geheim war, dass sie noch in den erst 2002 publizierten Erinnerungen „Berlin-Bonner Balance“ von Karl Seidel, der als seit 1969 stellvertretender und seit 1970 Leiter der BRD-Abteilung im MfAA von Amts wegen mit den Erfurter Treffen befasst war, keine Erwähnung fand. Von Berg wurde Brandt vorgestellt und wechselte dann mit dessen Pressechef Conrad Ahlers in ein anderes Abteil, wo beide die Wortlaute der Erfurter Eröffnungsreden ihrer jeweiligen Chefs austauschten.
In Erfurt selbst kam Brandt während eines zweistündigen Vieraugengespräches mit Stoph auch auf die Kanal-Problematik zu sprechen. „Brandt fragte nach eigenen Angaben Stoph, ob der DDR-Unterhändler Hermann von Berg […] eine ‚offiziöse Verbindungsaufgabe‘ zur Vorbereitung des nächsten Treffens bekommen könnte. Stoph zögerte mit einer Antwort. Schließlich schlug er […] einen dauerhaften Kontakt zwischen Horst Ehmke und Michael Kohl vor. Konkret wurde nichts verabredet.“ (Schönfelder / Erices, S. 239; vgl. auch: Punkt 18 der „Aufzeichnung des Bundeskanzlers Brandt über das Vieraugengespräch mit dem Ministerpräsidenten der DDR Stoph, Erfurt, 19.März 1970“, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, Reihe VI, Bd. 1, 1969/70, München 2002, S. 441).
Dass Stoph auf die Anfrage Brandts, von Berg betreffend, ausweichend antwortete, obwohl die DDR der Nutzung verdeckter Kanäle keineswegs grundsätzlich ablehnend gegenüber stand, hatte verschiedene Gründe. Zum einen berechtigte Stophs Stellung im Gefüge der Macht- und Zuständigkeitsteilung an der DDR-Spitze ihn nicht, auf ein solches Angebot einzugehen. (Derartige Entscheidungen traf damals ausschließlich Staats- und Parteichef Walter Ulbricht. Ulbricht eindeutig nachgeordnet waren in diesem Fall auch Erich Honecker als für Sicherheitsfragen zuständiges Mitglied des SED-Politbüros und Erich Mielke als Minister für Staatssicherheit.) Darüber hinaus hatte Stoph vermutlich keine Kenntnis von der Zug-Mitfahrt von Bergs und auch nicht davon, wie der Vorab-Austausch seines Eröffnungsstatements gegen das von Brandt bewerkstelligt worden war.
Was in dieser Gemengelage auch zum Ausdruck kam und der näheren Untersuchung wert wäre, ist Folgendes: In der Führung der SED und im Ministerrat galt zwar eine von Ulbricht bestimmte und übrigens durchaus wechselnde Linie; bei deren Realisierung allerdings gab es, auch durch die jeweilige Zweckbestimmung bedingt, nicht miteinander abgestimmte und auch nicht zu vereinbarende Aktivitäten, wie zum Beispiel:
– die politisch-propagandistische „Westarbeit“ der SED einschließlich der Unterstützung von KPD/DKP in der BRD und des SED-Ablegers in Westberlin,
– die spezielle Kontaktpolitik der HVA, aber auch anderer Diensteinheiten des MfS,
– die Bemühungen des MfAA, seiner Rolle auch gegenüber der BRD gerecht zu werden,
– die Mitwirkung von Institutionen und Personen der DDR in international bedeutenden, aber nichtstaatlichen Organisationen wie zum Beispiel der WFUNA (World Federation of United Nations Associations) oder im Internationalen Roten Kreuz,
– nicht zu vergessen die Rolle von Redaktionen diverser DDR-Medien und einzelner Journalisten, insbesondere des Westbereichs im Presseamt des Ministerrates, bei der Wahrnehmung ihrer eigentlichen Aufgaben, aber auch darüber hinaus, und
– Kontakte auf wissenschaftlicher Ebene.
Von herausgehobener Bedeutung von Anfang an war nicht zuletzt der halblegale „Innerdeutsche Handel“ mit ganz enger politischer Verflechtung, was wiederum unter dem Aspekt der inneren Sicherheit beider Staaten teilweise zu merkwürdigen Blüten führte.
Bleibt die Frage, warum die bundesdeutschen Kanal-Offerten an die DDR-Führung letztlich ins Leere liefen. Die Ursache dafür lag meines Erachtens im damals grundverschiedenen Herangehen in Moskau und Berlin. Die sowjetische Führung wollte aktiv ausloten, ob der Regierungswechsel in Bonn Chancen für Veränderungen in den zwischenstaatlichen Beziehungen bot. In der Partei- und Staatsführung der DDR hingegen überwog nach wie vor die Linie der Abgrenzung von der BRD und der Bekämpfung der „Aggression auf Filzlatschen“ (so DDR-Außenminister Otto Winzer über das von Bahr entwickelte SPD-Konzept eines „Wandels durch Annäherung“). Unter diesen Voraussetzungen bestand kein substanzieller Bedarf an gegenseitiger verdeckter Kanalarbeit. „Die Sowjetunion wünscht nicht, dass der Besuch zustande kommt, also Honecker wird nicht kommen.“ (Hier zit. nach: K.-R. Korte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982 – 1989. Geschichte der deutschen Einheit, Band I, Stuttgart 1998, S. 206.)
Jahre später, nach der Regierungsübernahme durch die CDU/CSU-FDP-Regierung unter Helmut Kohl, änderte sich dies. Da kam ein „florierender“ Kanal zustande, der DDR-seitig über Alexander Schalck-Golodkowski lief und in Bonn im Kanzleramt angesiedelt – nacheinander bei den Amtsministern Philipp Jenninger und Wolfgang Schäuble – sowie mit einer „Anschlussschaltung“ nach München zu Franz-Josef Strauß versehen war. Doch das ist eine andere Geschichte.
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Nachbemerkung: Offizielle verdeckte Kanäle zwischen Berlin und Bonn entwickelten in späteren Jahren auf unterschiedlichen Ebenen und wurden für unterschiedliche Zwecke genutzt. Zum Beispiel ging, als Erich Honecker 1984 seinen geplanten Staatsbesuch in der BRD auf Druck aus Moskau absagen musste, der offiziellen Information an die Bundesregierung am 4. September 1984 durch den Ständigen Vertreter der DDR in Bonn, Ewald Moldt, folgende inoffizielle voraus: Ein Mitarbeiter der „Arbeitsgruppe des Ministerrates im IPW“ (Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR) – gern gesehener Gast in der Ständigen Vertretung der BRD – lud seinen dortigen protokollmäßigen Partner aus der Leitung der Vertretung auf einen Kaffee ins Palasthotel vis-à-vis vom Berliner Dom ein. Das mag angesichts der Unterschiedlichkeit der Institutionen bemerkenswert erscheinen, war aber seinerzeit, was das IPW anbetraf, nicht außergewöhnlich. Das Treffen kam binnen einer Stunde zustande. Was im Restaurant ablief, schilderte einer der Beteiligten dem Autor Jahre später folgendermaßen: Während des Gespräches präsentierte der IPW-Mann ein Blatt Papier ohne jegliche Herkunftskennzeichnung. Es enthielt den BRD-Entwurf für ein Kommuniqué zum Abschluss des bevorstehenden Honecker-Besuches. Der IPW-Mann deutete an, dass Papier zerreißen zu wollen. Darauf der Herr aus der Ständigen Vertretung ohne zu zögern: „Wir können über alles im Text reden – Sie können mir hier Ihren gewünschten Entwurf aufschreiben. Wir würden auf Vieles eingehen.“ Daraufhin steckte sein Gegenüber das Blatt wieder ein und erwiderte sinngemäß: Er schreibe nur sehr ungern Nutzloses. Da hatte der Bonner Spitzendiplomat – enttäuscht – verstanden: Es ging nicht um Änderungen; für längere Zeit würde es vielmehr eines solchen Kommuniqués nicht bedürfen.
Kurz darauf telefonierte übrigens auch Golodkowski mit Jenninger und übermittelte: „Die Sowjetunion wünscht nicht, dass der Besuch zustande kommt, also Honecker wird nicht kommen.“ (Hier zit. nach: K.-R. Korte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982-1989. Geschichte der deutschen Einheit, Band I, Stuttgart 1998, S. 206.)
* – So der Titel der 1968 erschienenen Lebenserinnerungen von Ernst Lemmer (CDU), deutscher Journalist und Politiker, unter anderem nach Kriegsende in führender Position beim FDGB in der Sowjetischen Besatzungszone, später Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen (1957 – 1962). Wir entlehnen den Titel für eine unregelmäßige Reihe historischer deutsch-deutscher Reminiszenzen. Die ersten Beiträge erschienen in den Ausgaben 4 und 7 / 2012.
Schlagwörter: BRD, DDR, Erfurt, Hans-Peter Goetz, Ostpolitik, Willi Stoph, Willy Brandt