von Erhard Crome
Kim Jong-il ist gestorben, wie mitgeteilt wurde am 17. Dezember 2011. Von Krankheiten und Schlaganfall war schon seit längerem die Rede. Jetzt überschlagen sich die westlichen Medien in pejorativen Zuschreibungen: Diktator, Wahnsinniger, Tyrann, Clan – unter dem wird es nicht gemacht. Wissen sie etwas? Haben die Schreiberlinge etwas verstanden?
Die ob ihrer für heutige Ohren politisch unkorrekten Sprache gern geschmähten Völkerkundler der Vergangenheit wussten meist eines: Man muss die anderen Völker aus sich heraus, aus ihrer Geschichte, ihren Wertvorstellungen, ihren Selbstzuschreibungen verstehen. Das ist in dem verallgemeinerten Geschwafel der Medien-, Politik- und Wissenschaftsleute, die aus dem Sinnen und Trachten des globalisierten Neoliberalismus nicht herauszudenken vermögen, längst abhanden gekommen. Jede andere Perspektive wird verschrien, die Kritik an diesem bürgerlichen Medienbetrieb unter „Linksextremismus“-Verdacht gestellt.
Ungeachtet dessen bedarf eine Annäherung an die koreanische Problematik der Hinzuziehung ihrer historischen Hintergründe. Korea musste sich in den Jahrhunderten seiner Existenz verschiedentlich der Eroberungsversuche der Kaiser von China und Japan erwehren, geriet Ende des 19. Jahrhunderts unter den Druck der europäischen imperialistischen Mächte und der USA und wurde 1910 japanische Kolonie. Als solche war es wichtiges Hinterland für die imperiale Expansion Japans in China und im pazifischen Raum. Für die Schlussphase des zweiten Weltkrieges hatten die USA und die Sowjetunion vereinbart, dass die Sowjetarmee im Sommer 1945 in den Krieg gegen Japan eintritt und die noch immer über eine halbe Million Mann starke Kwantung-Armee der Japaner zerschlägt, die in der Mandschurei, im Nordosten Chinas, und in Korea stationiert war. In Verbindung damit war auch verabredet, dass die Sowjetunion den Norden Koreas besetzt und die USA den Süden. Die Demarkationslinie sollte beim 38. Breitengrad liegen. Die Kapitulation Japans am 15. August 1945 war denn auch der Tag der Unabhängigkeit Koreas.
Die nachfolgende Geschichte vollzog sich im Kontext des beginnenden Kalten Krieges. Die Entwicklung im Norden stand unter Führung der Kommunistischen Partei, dann Partei der Arbeit Koreas (PdAK), deren führender Repräsentant Kim Il-sung wurde. Analog den Veränderungen in Osteuropa und im Osten Deutschlands wurden eine Bodenreform durchgeführt, die Industrie, Banken und Verkehr verstaatlicht sowie eine Bildungsreform ermöglicht. Aus Wahlen ging im Norden eine Regierung der PdAK mit Kim Il-sung als Ministerpräsident hervor, die am 8. September 1948 die Koreanische Demokratische Volksrepublik (KVDR) ausrief. Die USA hatten im Süden Separatwahlen veranstaltet, an denen die linken Parteien nicht teilgenommen hatten, und aus denen Rhee Syng-man als Präsident hervorgegangen war; dieser Regierung hatte die USA-Militärverwaltung bereits am 13. August 1948 die Regierungsgeschäfte im Süden übergeben. Die UNO hatte 1947 beschlossen, den Besatzungsstatus in Korea zu beenden und Wahlen durchzuführen, aus denen eine koreanische Regierung hervorgehen sollte, sowie die ausländischen Truppen abzuziehen. Kim Il-sung hatte für seine Regierung gefordert, dass die Truppen der USA und der Sowjetunion aus Korea abziehen sollten. Die UdSSR zog ihre Truppen bis Ende 1948 ab, während die US-Truppen bis heute in Südkorea verblieben.
Der Westen betrachtete Kim Il-sung als kommunistischen Diktator; der Osten Rhee Syng-man als antikommunistischen Autokraten. Beide Regierungen beanspruchten, die rechtmäßige zu sein und das ganze Land zu regieren. Die Folge war der Koreakrieg. Nach wechselseitigen Grenzverletzungen beider Seiten überschritten nordkoreanische Truppen am 25. Juni 1950 die Demarkationslinie, eroberten bald Seoul und rückten bis an die Südspitze der koreanischen Halbinsel vor. Die USA wollten eine Wiedervereinigung Koreas unter kommunistischer Vorherrschaft nicht dulden und erwirkten eine UNO-Resolution zum militärischen Eingreifen gegen Nordkorea, die den Sicherheitsrat passierte, weil die UdSSR dessen Sitzungen zu jener Zeit boykottierte. So landeten Kampftruppen der USA und weiterer Länder unter der UNO-Flagge in Korea, eroberten Seoul zurück, schnitten die Versorgungswege der Truppen der KDVR ab und rückten ihrerseits bis an die chinesische Grenze im Norden vor. Da die Volksrepublik China eine Wiedervereinigung Koreas unter US-amerikanischer Vorherrschaft nicht dulden wollte, entsandte Mao Zedong eine Armee chinesischer „Volksfreiwilliger“ in Stärke von fast einer halben Million Mann, die die US-Offensive zurückschlug. Am Ende stabilisierte sich die Front wieder in der Nähe des 38. Breitengrades. Der Krieg endete mit einem Waffenstillstand, der am 27. Juli 1953 in Panmunjom geschlossen wurde und den 38. Breitengrad als die Grenze zwischen Nord- und Südkorea festhielt.
Der Krieg forderte über drei Millionen Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, bei den Kampfhandlungen kamen mindestens 500.000 koreanische, 400.000 chinesische und 36.000 US-Soldaten ums Leben. 18 der 22 größeren Städte Nordkoreas waren durch Bombardements und Napalm-Einsätze der US-Luftwaffe weitgehend zustört worden, die Infrastruktur im Norden war vernichtet. Es wird geschätzt, dass etwa jeder zehnte Nordkoreaner in jenem Krieg ums Leben gekommen war.
Die politische Herrschaft im Norden war seit den 1950er Jahren zunehmend durch einen immer ausgeprägteren Personenkult um Kim Il-sung geprägt. Nach dem Wiederaufbau, der von den damaligen sozialistischen Ländern massiv unterstützt wurde, war Nordkorea bis Ende der 1960er Jahre dem Süden wirtschaftlich überlegen. In Südkorea erzwang die Bevölkerung schrittweise eine Demokratisierung des Landes und die Abschaffung der Militärdiktatur. Firmen der USA und Japans investierten in Südkorea, in dem schließlich eine eigenständige kapitalistische Entwicklung Platz griff, die Teil des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs in Asien wurde; Südkorea gilt jetzt als eine der zehn stärksten Wirtschaftsmächte der Welt. Nordkorea ist dagegen heute ein armes Land. Nach dem Bruch zwischen der Sowjetunion und China Anfang der 1960er Jahre lavierte Kim Il-sung die KVDR zwischen beiden und verkündete mit der „Dschudsche-Ideologie“ einen Kurs des Stützens auf die eigenen Kräfte, der schließlich in eine Isolierung führte. Wenn man Nordkorea heute nicht nur mit Südkorea, sondern auch mit China oder Vietnam vergleicht, muss die Schlussfolgerung wohl lauten, dass ein absichtlicher Verzicht auf Einbindung des Landes in die globalisierte Weltwirtschaft offensichtlich zum Zurückbleiben führt.
Derweil verselbständigte sich in der KDVR die Macht. Kim Il-sung, der 1994 starb, vermochte es, seinen Sohn Kim Jong-il zu seinem Nachfolger zu machen, der bis vorige Woche regierte. Ob es der Familie gelingt, dessen Sohn Kim Jong-un nun zum Nachfolger zu machen, wird sich zeigen müssen. Mit einem Verständnis des westlichen Marxismus von linker Politik hat eine solche dynastische Erbfolge als „kommunistische Herrschaft“ nichts zu tun. Gleichwohl ist dies offensichtlich eine Form der Reaktion auf die Situation des Landes. Der Krieg wurde mit einem Waffenstillstand beendet, aber einen Friedensvertrag gibt es nicht – das heißt, der Krieg ist ausgesetzt, nicht beendet. Im Süden stehen nicht nur die Truppen Südkoreas (etwa 685.000 Mann), sondern befinden sich auch Stützpunkte und Kampftruppen der USA in Stärke von über 20.000 Mann, während China und Russland Nordkorea zwar unterstützen, dies jedoch mehr oder weniger halbherzig und von Eigeninteressen geleitet tun, aber – aus nordkoreanischer Sicht – wohl kaum verlässliche Verbündete sind.
Insofern hat Nordkorea als inzwischen wirtschaftlich schwaches Land eine der größten Armeen der Welt (geschätzt 1,2 Millionen Mann, etwa 4,5 Prozent der Gesamtbevölkerung) und unter großen Anstrengungen eigene Raketenwaffen und Atomsprengköpfe entwickelt. Das hat nichts mit „Wahnsinn“ oder „Aggressivität“ zu tun, sondern ist unter der Wahrnehmungsperspektive der Führung des Landes die Rückversicherung gegen einen neuerlichen Krieg. Die Auswertung der Kriege des Westens gegen Saddam Hussein und Gaddafi hat gezeigt, dass nur Länder von Seiten des Westens angegriffen werden, die nicht über Atomwaffen verfügen. Es wird also eine Lösung für und mit Nordkorea nur geben, wenn das Land verlässliche Friedensgarantien erhält, von Seiten Südkoreas wie von Seiten der USA, Chinas, Russlands und Japans. Der Schlüssel für die Entschärfung der Koreafrage liegt nicht in Pjöngjang, sondern in der Politik des Westens und der anderen beteiligten Staaten. Und das gilt unabhängig davon, wer künftig die KVDR regiert.
Schlagwörter: China, Erhard Crome, Kim Jong Il, Nordkorea, Russland, Südkorea, USA