14. Jahrgang | Nummer 20 | 3. Oktober 2011

Bemerkungen

Herbstbeginn

Wenn Motorsensen klangvoll nachgewachsenes Gras und Unkraut  an den Bordsteinen der Fußwege absäbeln,
wenn dröhnende Motorsägen das Gesträuch in den Vorgärten auf winterliches Überlebensmaß zurückstutzen,
wenn röhrende Laubblasgeräte die gefallenen Blätter zur Straße hin treiben und
wenn dann unüberhörbar motorisierte Sammelfahrzeuge mit der Akustik eines Düsentriebwerkes dieses Laub per stählernem Elefantenrüssel in sich aufsaugen,
dann weiß unsereins:
der beschauliche Herbst ist in die Stadt eingekehrt.

HWK

Kamminke 2011

Die Gemeinde Kamminke im östlichen Teil Usedoms ist eines der ältesten Fischerdörfer der Insel. Für jene Usedom-Fans, die Natur, Ruhe und Beschaulichkeit dem unruhigen Flair der Kaiserbäder vorziehen ist der kleine Ort am Nordufer des Stettiner Haffs allweil anziehend: Was für Segler dabei das ausgedehnte Haff ist, ist für Wanderer der Golm, jene mit alten Buchen und Eichen bestandene Hügelkette um den mit 69 Metern Höhe höchsten Berg der Insel. Dieser Golm ist zugleich aber auch eine Gedenkstätte, befindet sich auf seinen Hängen doch einer der größten Kriegsopferfriedhöfe Deutschlands. Zumeist in Massengräbern liegen hier die sterblichen Überreste von über 20.000 Menschen, die im denkbar nahen Swinemünde (heute Świnoujście) dem amerikanischen Bombenangriff nur eines Tages, dem 12. März 1945, zum Opfer gefallen waren.
Wurde dieser Friedhof auch durch die DDR als Mahnmal gestaltet und gepflegt, so hat vor allem ersteres gewiss noch gewonnen, seit sich die Deutsche Kriegsgräberfürsorge nachwendig des Objektes angenommen hat. Dem Staat ist also in dieser Hinsicht kein Vorwurf zu machen, wenn die jährlich 30- bis 40.000 Besucher dieser Stätte heute zur Kenntnis nehmen müssen, dass nach dem Diebstahl mehrerer der 28 bronzenen Gedenkplatten für die Kriegsopfer die verbliebenen nun demontiert werden mussten, um sie vor Raub und Zerstörung zu bewahren.
Wenn dies auch wenig wahrscheinlich ist: Mag hier unter Umständen „nur“ Bereicherung durch den Diebstahl von Edelmetall obwaltet haben – beim Vandalismus im Ringbau als zentralem Punkt der Gedenkstätte war eindeutig politkriminelle Energie zugange. Denn die dort aus den Wänden gerissenen Schriftzeichen mit der Zeile aus Bechers DDR-Hymne „daß nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint“ wurden eben nicht abtransportiert, sondern demonstrativ über den Wiesen mit den symbolischen Kreuzgruppen verteilt. Wer im Spätsommer dieses Jahres auf Usedom weilte und wahrnehmen konnte, mit welcher Massivität die NPD dort Wahlwerbung für sich gemacht hat, dürfte mehr als eine Ahnung davon haben, inwieweit denn doch die gesellschaftlichen Gegebenheiten unserer Tage als Straftaten begünstigend mitverantwortlich sind.

Karla Walser

 No comment

Vier Jahre lang hat der Bundesnachrichtendienst den ehemaligen NS-Verbrecher Walther Rauff beschäftigt. Nach SPIEGEL-Informationen sollte der Erfinder der mobilen Gaskammer Fidel Castro ausspionieren. Heute distanziert sich der BND
Hamburg  – Der Bundesnachrichtendienst hat nach SPIEGEL-Informationen den ehemaligen SS-Standartenführer und NS-Verbrecher Walther Rauff zwischen 1958 und 1962 als Agenten beschäftigt. Der damals in Chile lebende Rauff hatte 1941 mobile Gaskammern entwickelt und deren Einsatz koordiniert.
Für den BND sollte Rauff Informationen aus Kuba besorgen; er erhielt vom BND insgesamt mehr als 70.000 Mark und wurde von diesem gedeckt. Obwohl ein Haftbefehl vorlag, schulte der Dienst Rauff in der Bundesrepublik.
Heute distanziert sich der BND von seinem ehemaligen Mitarbeiter. Die Anwerbung Rauffs sei “politisch und moralisch in keiner Hinsicht vertretbar”, erklärte Bodo Hechelhammer, Leiter der Forschungs- und Arbeitsgruppe Geschichte des BND gegenüber dem SPIEGEL.

Marktwirtschaftliches Kulturverständnis

Ach, wie sind im damaligen Westen Deutschlands die politisch Unbequemen in dessen Osten doch hofiert worden. Von Politik und Feuilleton als Dissident eingeordnet zu werden, kam einem Ritterschlag gleich.
Abgesehen davon, dass sich das abrupt änderte, wenn sich solcherart Geadelte – wie etwa im Falle Stefan Heyms – dann auch für die politische Klasse des vereinten Deutschland als unbequem Gebliebene zu erkennen gaben – auch mit beharrlichen Dissidenten unter westelbisch Geborenen geht man heute schlicht rüde um, wenn sie sich dem Mainstream der politischen Meinungsführerschaft nicht anschließen. Das betrifft freilich nicht Hinz und Kunz, jene aber umso mehr, deren Profession mit öffentlich wahrgenommener Publizität zu tun hat.
Peter Handke ist ein solcher, nicht erst seit heute. Vor allem wird dem Literaten und Dramatiker nicht verziehen, dass er sich nicht auf die Schwarz-Weiß-Konturierung des Balkankrieges einzulassen gedenkt; jenes Krieges, bei dem Deutschland durch seine damals rot-grünen Politprotagonisten nach 1945 – ohne Not – erstmals wieder aktiv in einen Krieg hineingezogen worden ist.
Nun werden Auszeichnungen für Literaten nur selten von der Politik selbst vergeben. Aber diese hat ja durchaus willige Vollstrecker, wenn es darum geht, Unbequeme und Unliebsame zu ächten. Peter Handke, dem soeben der Mindener „Candide“-Preis zugedacht war, wird ihn jedenfalls nun nicht erhalten, da der finanzielle Sponsor des Preises, ein Maschinenhersteller, dank Handkes abweichender Haltung zu Serbien um seine amerikanischen Kunden fürchtet; Chapeau! Immerhin soll Handke, der auf ein Beisein des beschämenden Geschehens verzichtet hat, der Preis noch ideell zugedacht werden…
Sehr ähnliches ist Peter Handke erst vor fünf Jahren widerfahren, als ihm der „Heinrich-Heine-Preis“ der Stadt Düsseldorf verliehen werden sollte. Zwar hatte Handke schon vor der finalen Ablehnung durch den Stadtrat seinen Verzicht bekundet, da er seine Person und sein Werk “nicht wieder und wieder Pöbeleien solcher wie solcher Parteipolitiker ausgesetzt sehen” wolle. Zu kommentieren blieb dem Blättchen damals nur mit Heines Worten aus dem „Wintermärchen“, was auch heute gilt, selbst wenn es diesmal nicht um diesen Dichter geht, sondern vielmehr der „Candide“-Schöpfer Voltaire sich ganzkörperekeln würde, wenn er erführe, wie in der „besten aller Welten“ mit seinem Namen verfahren wird:
Sie haben dir übel mitgespielt,
Die Herren vom Hohen Rate
Wer hieß Dich auch reden so
Rücksichtslos
Von der Kirche und vom Staate!

Herbert Jahn

Kommunismusdämmerung

Das Feuilleton rauscht sorgenvoll und furchterregend: Nun kandidiert Sarah Wagenknecht also für den Parteivorstand der Linken. Wenn auch nur vielleicht, aber immerhin: Eine bekennende Kommunistin! Und da nicht nur die Christdemokraten vor AntichristInnen drei abwehrende Kreuze schlagen, wenn sie selbige schon nicht selbst ans Kreuz nageln können, weil´s die der Zeitgeist  nicht zulässt, wird wenigstens schon mal Grusel verbreitet.
Nun muss man mit Sarah Wagenknecht und den kommunistischen Plattform-Ihren ja keineswegs deckungsgleich sein, auch dann nicht, wenn mittlerweile selbst marktwirtschaftskonforme Geistesgrößen namhafter Couleur der Linken attestiert, die Substanz der Finanz-, Wirtschafts- und Politikkrise am ehesten durchschaut zu haben. Dennoch hätte ich gegen Sarah Wagenknecht in einer gehobeneren Position bei den Linken nichts einzuwenden. Und sei es auch nur dessentwegen, worin ich dem so hellsichtigen Karl Kraus absolut folge:
„Der Kommunismus als Realität ist nur das Widerspiel ihrer eigenen lebensschänderischen Ideologie, immerhin von Gnaden eines reineren ideellen Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel zum reineren ideellen Zweck – der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle anderen zu deren Bewahrung und mit dem Trost, dass das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde, damit die Gesellschaft der ausschließlich Genussberechtigten, die da glaubt, dass die ihr botmäßige Menschheit genug der Liebe habe, wenn sie von ihnen die Syphilis bekommt, wenigstens doch auch mit einem Alpdruck zu Bett gehe! Damit ihnen wenigstens die Lust vergehe, ihren Opfern Moral zu predigen, und der Humor, über sie Witze zu machen.“

HWK

Zauberhaftes

Die Zahl der Bundesbürger mit mehreren Beschäftigungsverhältnissen hat sich in den letzten sieben Jahren verdoppelt, war jüngst u. a. in der Saarbrücker Zeitung zu lesen. Waren es im Juni 2003 nur rund 1,2 Millionen Arbeitnehmer, die einen oder mehrere Nebenjobs hatten, so waren es im Juni 2010 fast 2,4 Millionen. Entsprechend stieg auch der Anteil der Arbeitnehmer mit Doppeljobs an allen Arbeitnehmern von 4,3 auf 8,5 Prozent. Irgendwie erinnert mich das realsozialistische Zeiten, wo nicht nur der Westen sondern auch wir sozial so kuschlig abgefederten Ostdeutschen mit Häme oder wenigstens Spott auf die ungarischen Klassenbrüder herabschauten, bei denen das damals schon gang und gäbe war. Wer sich an Ulrich Theins ungarischen Partner Istvan in der DEFA- Komödie „Anton der Zauberer“ erinnert, wird wissen, was ich meine. Nun werden mehr und mehr Deutsche zu Ungarn – auch so kann Europa zusammenwachsen.

Helge Jürgs

Schulen von Berlin und Babelsberg

Seit wenigen Jahren haben es die Filmkritiker internationaler Festivals mit der rumänischen „Nouvelle Vague“ zu tun. Durchaus diskutable Filme kommen jetzt wieder aus dem Land, das einst mit Popescu-Gopo eine künstlerische Filmblüte erlebte. Ein gut Teil davon zeigt uns Stücke vom Alltag, wie er ist, eng angelehnt an das, was man bei uns die „Berliner Schule“ nennt. Ein solcher Film, erfolgreich in Cannes gelaufen, kommt nun in deutsche Kinos. Zunächst verwundert, warum ein rumänischer Film, der auf deutsch „Dienstag nach Weihnachten“ heißt, hier unter dem auch noch falsch geschriebenen Titel „Tuesday, after Christmas“ läuft. Von diesem Dienstag ist mehrfach die Rede in der Geschichte, in deren Mittelpunkt Paul steht. Er ist ein durchschnittlicher Typ in mittleren Jahren mit mittlerem Bauch und ebensolchem Gemächt in einem durchschnittlichen Beruf. Wie es nicht selten ist, hat er eine nette Frau, die eine modische Brille trägt, und eine junge Freundin, die am besten gar nichts trägt. Doch ganz so oberflächlich, wie es sich anhört, ist es nicht. Regisseur Radu Muntean lässt in langen Einstellungen ahnen, dass Paul ein tiefes Gefühl für seine Freundin ergriffen hat, obwohl er Frau und Tochter nicht lassen möchte. Eine Stunde lang gibt es lange Gespräche über Weihnachtsgeschenke und Kieferprobleme. So lange braucht Muntean, um den dramatischen Moment auszukosten, wenn Paul seiner Frau endlich sagt, dass es eine andere gibt. Nach diesem kurzen Höhepunkt versandet alles wieder. Der Regisseur, ein Enddreißiger, baut lange Einstellungen, in denen die dialogführende Person nicht einmal zu sehen ist, und man sich ganz auf das statische Szenenbild konzentrieren kann. Tatsächlich wird hier ein Stück rumänischer Alltag deutlich, aber der Erkenntnisgewinn hält sich in Grenzen. Gesellschaftliche Umstände können bestenfalls erahnt werden. Maren Ades handlungsarmer Film „Alle anderen“ aus der „Berliner Schule“ wurde ja trotz seiner Sprödigkeit ein Überraschungserfolg. Dieser Dienstag-Film scheint mir für keine Überraschung gut.
(Ab 6. Oktober in ausgewählten Kinos)
Die „Babelsberger Schule“ erweist sich recht deutlich in dem neuen Film „Vergiss dein Ende“ nach einem Szenarium von Nico Woche, in Schwerin ausgezeichnet mit dem Förderpreis der DEFA-Stiftung. HFF-Absolvent Andreas Kannengießer hat seinen Abschlussfilm einem Thema gewidmet, das zunehmend an Brisanz gewinnt: die Altersdemenz. Im Mittelpunkt steht bei ihm nicht der Kranke (eindrucksvoll von Hermann Beyer gespielt), sondern seine Umwelt. Renate Krößner gibt seine verzweifelte, aber auch etwas verrückte Frau, die aus dem Alltag ausbricht und ihrem spröden Nachbarn (Dieter Mann) hinterherreist, der ein eigenes Geheimnis mit sich trägt. Kurios, dass die Familie von Leuten gespielt wird, die wirklich Teile von (heute neu gemischten) Familien sind: Eugen Krößner, der Sohn von Hermann Beyer und Renate Krößner, gibt als Sohn Heiko ein beachtliches Kino-Debüt. Kannengießer, der – nicht immer geschmackssicher – das Format eines Andreas Dresen noch nicht erreicht, bevorzugt eine verschachtelte, diskontinuierliche Erzählweise, doch wer Kreuzworträtsel gern hat, wird den Film mögen.
(Seit Ende September in zahlreichen Kinos).

F.-B. Habel

Volkstheater

Die Berliner Volksbühne der achtziger Jahre scheint am Kurfürstendamm wieder auferstanden: Charlie Risse inszeniert in der Komödie mit Walli Schmitt und Florian „Otto“ Martens (der in den Achtzigern noch nicht der Otto aus dem „Starken Team“ war) und mit Achim Wolf (damals am Potsdamer Hans-Otto-Theater) ein Paradestück von Sean O´Casey. In „Das Ende vom Anfang“ zerlegt ein besserwisserischer Ehemann mit Hilfe seines tolpatschigen Freundes unversehens seine Wohnküche, während er seine Frau die Landarbeit verrichten lässt. Risse wäre nicht Risse, wenn er sich auf die Slapstickelemente des Einakters verlassen hätte. Er lässt Walfriede Schmitt und Achim Wolf Raum, ihre kleinen Leute aus dem Volke und deren sozialen Gestus auszuspielen, gewinnt Wolf und Martens urkomische Wirkungen ab, wenn sie gemeinsam turnen oder fröhlich, aber schräg musizieren. Die liebevolle Ausstattung von Anna Cumin hilft ihnen dabei. Allerdings erweist sich der Sparzwang im Hause Wölffer als hinderlich. Dass der Einakter auf einen ganzen Abend mit Pause gestreckt wird (der Pächter der Bar will ja auch verdienen!), bedeutet auch, Leerlauf in Kauf zu nehmen. Aber bei mehr Tempo hätte man einen zweiten Einakter gebraucht. Schade um diese (Fehl)Entscheidung!

Frank Burkhard