von Erhard Crome
Den Beschluss des Bundestages zum Atomausstieg kommentierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung als „Ende des dreißigjährigen Krieges“. Dreißig Jahre lang habe ein „Atom-Krieg“ im Lande geherrscht – jetzt wissen wir endlich, was das ist: nicht der Atombombenabwurf der USA gegen Hiroshima und Nagasaki oder die drohende gegenseitige Vernichtung mittels Atomwaffen in Zeiten des kalten Krieges, sondern die Auseinandersetzungen zwischen Atomkraftbefürwortern und -gegnern in Deutschland, mit Demonstrationen, Wasserwerfern, Liedern, Sitzblockaden und Polizeiknüppeln, das war der „Atom-Krieg“. Zumindest in Deutschland. Der ist jetzt vorbei. Jetzt herrscht der „Atom-Friede von Berlin“, beschlossen und verkündet, und Angela Merkel ist die Mutter des Atomausstiegs. Von den Grünen beneidet, weil jetzt sie in den Geschichtsbüchern stehen werde, nicht die grünen Vorkämpfer, die seit dreißig Jahren … Das meint zumindest der Kommentator mit Namen Berthold Köhler.
Dies sei, so Köhler weiter, „das Ende der letzten ideologischen … Schlacht der Deutschen“ gewesen: „Der Streit um die Kernkraft war der letzte Überlebende einer Zeit, in der über die Grundzüge der neu begründeten deutschen Staatlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg gerungen wurde, von der Wiederbewaffnung über die Notstandsgesetze und die Ostpolitik bis hin zur Wiedervereinigung.“ Eine solche Interpretation hat es in sich, und sie hat mehrere Dimensionen. Die erste ist, es gab eine neu begründete Staatlichkeit, die in der alten Bundesrepublik stattgefunden hat – das zumindest legt die Aufzählung der historischen Schnittpunkte nahe. Es gab also nicht eine zeitgleiche, miteinander verwobene deutsche Zweistaatlichkeit von 1949 bis 1990, sondern eine Neubegründung in Gestalt der BRD. Die Erstreckung auf die vorherige DDR in Gestalt der „Wiedervereinigung“ ist sozusagen der Abschluss der „neu begründeten deutschen Staatlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg“.
Die zweite Dimension ist, dass der deutsche „Atom-Krieg“ der Nachklang jener Epoche war. Nun ist sie endgültig abgeschlossen, und die Deutschen können sich hoffnungsfroh neuen Horizonten zuwenden. Mit anderen Worten: die Epoche der Neubegründung Deutschlands ist jetzt abgeschlossen, nicht irgendwann, sondern in diesen Zeiten, die andere für unsicher halten. „Wir sind wieder wer“, und zwar ab jetzt. Und dazu haben wir einen „politischen Konsens“.
Zugleich erklärt diese Interpretation, und das ist gleichsam die dritte Dimension, all jene Kämpfe, die sich in der Aufzählung zusammengefasst finden, zu „ideologischen“. Es gab also keine wirkliche Auseinandersetzung um deutsche Friedens- oder Außenpolitik, die in der um Wiederbewaffnung oder Ostpolitik kulminierte, auch keine um die künftige demokratische Verfasstheit des Landes, die im Hintergrund der Kämpfe gegen die Notstandsgesetze stand, sondern das waren alles „ideologische“ Kämpfe. Und Ideologie ist ohnehin schlecht. Jetzt ist diese Zeit vorbei. Der „Atom-Krieg“ war der letzte der ideologischen Kämpfe. Hier kommen Fragen der Gleichheit und der Gerechtigkeit erst gar nicht vor, in der ganzen Aufzählung nicht. Es gibt keine soziale Frage, weder früher noch heute. Dafür gibt es den Konsens, in dem die soziale Frage nicht aufkommt. Und wenn die letzte Kampflinie die zwischen CDU und Grünen im „Atom-Krieg“ war, spielt darin die Linke ohnehin keine Rolle, schon wegen des Nichtvorhandenseins der sozialen Frage. Man braucht sie für diesen Konsens nicht.
Diese eigenartige, überhöhte Geschichtsinterpretation scheint bodenlos, wenn man sie nicht in den Zusammenhang der gegenwärtigen Weltlage stellt. Deutschland bleibt „Exportweltmeister“ Nummer zwei nach China. Es ist stärker aus der Weltwirtschaftskrise herausgekommen als die meisten anderen Industrieländer, so wie übrigens China, Indien, Brasilien. Die Ungleichgewichte innerhalb der EU sind wesentlich der Exportstärke Deutschlands im Verhältnis zu den anderen EU-Ländern geschuldet. Griechenland hat seine Souveränität mittlerweile bei dem Protektoratsregime abgegeben, das EU und Internationaler Währungsfonds über das Land errichtet haben. 1990 redeten alle über das „europäische Deutschland“, das wir statt eines „deutschen Europas“ haben wollten. Heute haben wir das europäische Deutschland, das das deutsche Europa bestimmt. Die EU-Einbindung ist nicht mehr ein Wert an sich, sondern die Voraussetzung für eine neue Weltgeltung Deutschlands, die sich auf die starke Position im Welthandel stützt, oder, mit anderen Worten, die Dominanz Deutschlands in der EU ist die Grundlage für die Expansion im globalen Handel. Die Enthaltung zur Libyen-Resolution des UNO-Sicherheitsrates gegen den Willen der USA, Frankreichs und Großbritanniens und gemeinsam mit Russland, China, Indien und Brasilien war das symbolische Signal an die westlichen Siegermächte, dass Deutschland auch ihnen gegenüber jetzt endgültig emanzipiert ist, auch wenn die USA-hörige Fraktion in den deutschen Medien dies zu denunzieren versuchte.
Der Aufschwung im Export hat eine Vergrößerung der Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland zur Folge. „Es geht aufwärts“, obwohl die Hälfte der neuen Arbeitsplätze prekäre sind. Eine der Folgen ist, dass die Fähigkeit der deutschen Arbeiter zur Solidarität etwa mit den gebeutelten Griechen oder mit den Protestierenden in Portugal niedriger ist als vor einhundert Jahren in vergleichbaren Lagen, trotz aller gegenteiligen Bekundungen. Das Mediengerede von den „faulen Griechen“ zeitigt Wirkungen. Der FAZ-Spruch von dem neuen nationalen Konsens meint nicht nur den Atomausstieg, sondern die Schaffung eines ideologischen Unterbaus in der Gesellschaft für die neue Weltgeltung Deutschlands.
In diesen Zusammenhang gehört auch die diesjährige Geschichtspolitik. 2011 jährte sich bekanntlich der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion zum 70. Mal. Der Cicero, der unter der Chefredaktion von Michael Naumann, des ehemaligen Kultur-Staatsministers in der Regierung Schröder und früheren Spitzenkandidaten der SPD für das Hamburger Bürgermeisteramt, zu einem ernsthaften Medium der bürgerlichen Selbstverständigung in Deutschland wurde, titelte: „Was Hitler wirklich wollte“. Drinnen heißen die Überschriften: „Braune Phantasien“, „Hitlers Griff nach dem Globus“, „Der Herr der Welt“. Andere bürgerliche Großmedien waren nicht viel anders. Wenn der eigentliche Vorgang die „deutsche Neubegründung“ nach dem zweiten Weltkrieg war, muss man nicht die damaligen Untaten beschönigen. Im Gegenteil, je stärker die heutige bürgerliche Klasse Hitler ob seiner Untaten oder seiner „phantastischen“, sprich irrealen Kriegsziele, geißelt, in desto besserem Licht steht sie. Dass die Kriegsziele, die das bürgerliche Deutschland mit dem ersten Weltkrieg verband (nicht dem zweiten!), stark der weltpolitischen Position glichen, die das heutige Deutschland bereits inne hat, verschwindet im Dunst der geschichtlichen Interpretationen.
Insofern standen sowohl diejenigen konservativen Historiker auf verlorenem Posten, die immer noch einmal die deutsche Kriegsschuld relativieren wollten, die sich mit dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 verband, wie jene „linken“ Interpreten, die noch immer die Schemata ihrer Parteischulung der SED von 1957 im Kopf haben und alle Texte, die sie auch in den vergangenen zwanzig Jahren gelesen haben, scheinbar stets unter jenen Auspizien aufnahmen. Benötigt wird aber ein sinnvoller Beitrag zur heutigen Analyse. Wir brauchen eine neue Debatte zu Imperialismus und Weltpolitik im 21. Jahrhundert, die auf eine neue Solidarität der Linken zielt. Der von der FAZ propagierte neue nationale Konsens ist Bestandteil und Voraussetzung der neuen Weltgeltung. Deshalb sollte die Linke ihn stören, und nicht die Schlachten von vorgestern nachzustellen versuchen.
Schlagwörter: Atomausstieg, BRD, DDR, Erhard Crome, EU, Geschichtspolitik, Griechenland