von Bernhard Romeike
Die „Kommunismus-Debatte“ im Deutschland des Jahres 2011 wird in den Geschichtsbüchern vermerkt bleiben. Sie hat mehrere Ebenen, manche liegen auf der Hand, manche sind hysterisch und skurril und manche liegen etwas verdeckt. Allerdings ist noch nicht endgültig klar, wer auf welcher Ebene welches Spiel gespielt hat. Beginnen wir mit der sachlichen Ebene.
Betrachtet man den Auslöser der Debatte, den Abdruck eines Beitrages der Linkspartei-Vorsitzenden Gesine Lötzsch mit dem Titel: „Wege zum Kommunismus“, als Marketing-Maßnahme der jungen Welt, dann wird der Zeitung ein Erfolg nicht abzusprechen sein: Wohl noch nie seit der Wende und ihrem Ende als Zentralorgan der Freien Deutschen Jugend (FDJ) ist das Blatt so oft zitiert worden, wie jetzt. (FDJ – für die Jüngeren und die Wessis: Das war die offizielle sozialistische Jugendorganisation unter Führung der SED in der DDR. Sie hatte in den achtziger Jahren über 2,3 Millionen Mitglieder. Die Junge Welt – damals noch mit großem „J“ – war in der DDR die Tageszeitung mit der höchsten Auflage, die nach der Wende aber rasch schrumpfte.) Wenn man zugleich davon ausgeht, dass es einen faktischen Wettlauf zwischen den Zeitungen Neues Deutschland und junge Welt gibt, wer der größere Reichweite unter den linken Lesern in Deutschland hat, dann dürfte jW als eine maßgebliche Trägerin der Debatte um gesellschaftliche Alternativen jetzt ein paar Punkte gutgemacht haben: Sie war in aller Munde; sie hatte die „Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz“ organisiert, auf der über den Kommunismus diskutiert worden war, wie landauf landab überall festgestellt, gepriesen oder verteufelt wurde. Dass es inzwischen die 16. Konferenz war, blieb meist unerwähnt. Diese hatte „mit etwa 2.500 Teilnehmenden einen Besucherrekord“ (Fazit junge Welt). Der „Antikommunismus stellt Nachdenken über die Zukunft unter Generalverdacht“, resümierte schließlich Geschäftsführer Dietmar Koschmieder. Das dürfte der eigentliche Grund der Aufregung sein: Verunsichert durch die Finanzkrise und die selbst durch Regierungen und Wirtschaftsfachleute auf dem Höhepunkt der Krise gestellte Systemfrage wabert im Hintergrund des politischen und wirtschaftlichen Tagesgeschehens die Angst der Spekulanten und Krisengewinnler, es könnte am Ende doch das Kasino geschlossen werden.
Lothar Bisky, Oskar Lafontaine, auch Gesine Lötzsch waren bereits auf früheren Rosa-Luxemburg-Konferenzen, ohne dass die bürgerlichen Medien davon so viel Aufhebens gemacht hätten, wie es jetzt geschah. Gesine Lötzsch war der Einladung der Veranstalter gefolgt, auf der diesjährigen Rosa-Luxemburg-Konferenz zum Thema Kommunismus zu reden. Wenn man eingeladen wird zu reden, und man will zusagen, folgt man in der Regel dem Vorschlag der Einlader, was das Thema betrifft. Als Vortragende oder Vortragender entscheidet man am Ende aber selbst, wozu man spricht. („Sie bestimmen die Fragen, ich bestimme die Antworten.“) Wer dieses Procedere kennt, wundert sich dann nicht, dass es in der Rede von Gesine Lötzsch einen kurzen Rekurs auf das gestellte Thema und dann lange Ausführungen zum „demokratischen Sozialismus“ gab – was bekanntlich nicht dasselbe ist. War nun von vornherein klar, dass dies für die Linkspartei ein Verlierer-Thema sein musste? Nein. Und es ist auch nicht klar, ob es auf die Dauer gesehen ein Verlierer-Thema ist. Die Frage der grundsätzlichen Gesellschaftsveränderung war plötzlich in aller Munde, auch wenn niemand den „Kommunismus“ Stalins will. Am Ende haben die Linken – nicht zuletzt unter Einsatz von Oskar Lafontaine – deutlich gemacht, dass Gesellschaftsveränderung eben nicht Diktatur, Erschießungskommandos und Abschaffung der staatsbürgerlichen Freiheiten heißt, sondern nur über deren Schutz und Erweiterung geht. Zugleich hat die Konferenz selbst gezeigt, dass am Ende auch die verbliebenen Kommunisten in Deutschland, hier vertreten durch die DKP-Vorsitzende Bettina Jürgensen, kein Konzept zur unverzüglichen Errichtung einer Parteidiktatur haben, was die identitäre Abgrenzung von der Linkspartei um so schwieriger macht.
Der Verschwörungstheoretiker Mathias Bröckers schrieb im Vorwort für sein Buch über „die Geheimnisse“ des 11. Septembers 2001 und die Rolle der US-Regierung unter Bush jun. dabei: „Ohne angemessene Verschwörungstheorien… lässt sich unsere hochgradig komplexe und konspirative Welt gar nicht mehr verstehen.“ Versuchen wir also mal, verschwörungstheoretisch auf die Ereignisse zu schauen. Dabei gehört zu den unterstellten Voraussetzungen, dass sich in den linken Parteien etliche Agenten des deutschen Verfassungsschutzes und anderer Dienste tummeln. (Ein enttarnter britischer Polizeiagent, der als Agent Provocateur auch in deutschen linken Organisationen agiert hatte, ging gerade durch die Presse.) Bei den rechten Parteien, die diese Leute beobachten und in denen sie an Aktionen mitwirken, haben sie es leichter, weil sie sich in ihrem eigenen Denken und in der Terminologie nicht viel ändern müssen, während bei den Linken die Sprache, der Gestus und das habituell Übliche extra angeeignet werden müssen – was auch ein relativ hohes intellektuelles Niveau erfordert, das beim Einsatz unter Rechten nicht in dem Maße erforderlich ist.
Die zweite unterstellte Voraussetzung ist, dass man von den Praktiken der US-Geheimdienste in Lateinamerika weiß, dass sie moderate linke Parteien oder Bewegungen – die also die Gesellschaft auf dem Wege von Wahlen und unter Nutzung von Recht und Gesetz ändern wollen, was hierzulande auf die Linkspartei zuträfe – dadurch bekämpfen, dass sie extreme Positionen vertretende Agents Provocateurs einschleusen, die den zuvor erfolgreichen Parteiführern und ihrer Politik vorwerfen, zu lasch, zu kompromisslerisch, nicht links genug aufzutreten, und die am Ende den bewaffneten Kampf predigen, was es den Kräften der Reaktion dann erleichtert, die Bewegung insgesamt außerhalb des Gesetzes zu stellen und, statt die politische Auseinandersetzung zu führen, auf die polizeiliche und geheimdienstliche Unterdrückung zu setzen (Hierzu passt die rasche Forderung einschlägig bekannter Christdemokraten, die Linkspartei gehöre sofort verboten, was aber schon auf Grund der eingeschleusten Geheimdienstleute vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern könnte.) In diesem Sinne wäre es dann das Kalkül gewesen, die Linke zu schwächen, indem man ihr kommunistische Umsturzabsichten und die Errichtung einer „kommunistischen“, sprich stalinistischen Diktatur unterstellt. Wenn man ihren Aufstieg auf politischem Wege nicht aufhalten kann, soll wenigstens dies versucht werden, und sei es nur zu dem Zwecke, bei SPD und Grünen Zähneklappern zu erreichen, um eine Koalition auf Bundesebene auf absehbare Zeit zu verunmöglichen.
Bleibt die Frage nach einer Perspektive der Gesellschaftsveränderung. Auch von scheinbar freundlich argumentierenden Kommentatoren, die meinen, sich in der Sache zu äußern, wird in diesem Zusammenhang mit Halbwahrheiten und Unterstellungen gearbeitet, und es herrscht die einseitige Sicht vor, die typisch ist dafür, wie der postmoderne Bildungsbürger sich die Welt so denkt. (Exemplarisch zu nennen wäre hier ein Kommentar des Autors Ambros Waibel in der TAZ vom 17. Januar.) Geführt werden muss diese Diskussion aber, wenn das politische Potential für eine Veränderung der real existierenden Gesellschaft in diesem Deutschland relevant vergrößert werden soll.
Da ist zunächst die Behauptung, Kommunismus sei ein „veralteter und provinzieller Begriff“. Nein – wenn man bei Marx nachschaut, meint dieser Begriff eine Gesellschaft auf höchstem produktiven Niveau, die zugleich eine höchster persönlicher Freiheit ist. Das wäre gleichsam das, was bei den Christen das Paradies, die Welt jenseits des Fegefeuers ist. Die Frage heute ist, ob das überhaupt geht, und ob unsere gegenwärtigen Probleme mit dem Blick auf eine solche Perspektive zu fassen sind – geistig, analytisch und praktisch. Wenn das mit Nein zu beantworten ist, taugt der Kommunismus-Begriff nicht für die Gegenwart, aber nicht weil er veraltet ist, sondern weil die Verhältnisse so nicht sind. Der nächste Einwand ist, relevant sei „nur der ethisch durchdachte und demokratisch verankerte Fortschritt“. Das ist – gelinde gesagt – Unsinn; wer sich je mit Geschichte, der politischen Geschichte, der Geschichte von Industrie und Technik und der Geschichte der Weltwirtschaft befasst hat, weiß, dass der Fortschritt nie auf geraden Alleen voranschritt, sondern immer auf krummen Wegen, die oft auch Umwege waren, und dass er über historische Kämpfe erfolgte und nicht auf der Agora beschlossen wurde.
Schließlich die Unterstellung, „es brauche die große Katastrophe, aus der dann eine neue, bessere Gesellschaftsordnung erwachse, die jedes Verbrechen rechtfertige“. Hier werden Ursache und Wirkung vertauscht. Die russische Oktoberrevolution hat nicht die Katastrophe des ersten Weltkrieges herbeigeführt, um sich anschließend in den Sattel zu setzen und das Pferd der Geschichte zu reiten, sondern die Kapitalisten in ihrer Gier und die Regierungen der europäischen Großmächte haben den ersten Weltkrieg angezettelt, aus dem die russische Revolution dann hervorging. Da es mit dem zweiten Weltkrieg, der Errichtung der Macht weiterer kommunistischer Parteien in Osteuropa und den Revolutionen in Jugoslawien und China ähnlich war, schien es einen Zusammenhang zwischen den vom Kapitalismus verursachten Kriegen und Katastrophen und der Errichtung kommunistischer Regime zu geben. Aber selbst in den ideologischen Lehrbüchern des „Wissenschaftlichen Kommunismus“ in der DDR stand immer der alte Hinweis von Marx und Engels, dass die sozialistische Partei lieber über Wahlen und im Frieden an die Macht kommt. Dass die Verbrechen des ersten Weltkrieges dann zur Rechtfertigung jener der bolschewistischen Partei dienten (die natürlich nicht als solche bezeichnet wurden), war dann bereits die geistige Volte der Partei an der Macht, die diese unter allen Umständen, auch in einem Land, nämlich Sowjetrussland, und unter „kapitalistischer Umkreisung“, Intervention und Krieg halten wollte. Diesen Vorgang haben nicht nur Karl Kautsky und andere Sozialdemokraten nach 1918 kritisiert, sondern auch Rosa Luxemburg. Texte, wie der von Waibel, bestätigen auf ihre Weise die Sinnhaftigkeit, weiter über Perspektiven und Wege der Gesellschaftsveränderung im 21. Jahrhundert zu diskutieren. Ohne den Lötzsch-Beitrag hätte diese Diskussion jetzt aber wohl nicht stattgefunden.
Schlagwörter: Bernhard Romeike, Gesellschaftsveränderung, Gesine Lötzsch, Kommunismus, Revolution, SED, Stalin