von Ulrike Steglich
Als ich in diesem Sommer Victor Klemperers „LTI“ zum zweiten Mal las, muß Thilo Sarrazins Buch gerade durch die Druckmaschine gerauscht sein.250.000 Exemplare, das war binnen kürzester Zeit die Auflage des neuesten Druckwerks des einstigen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin, es heißt „Deutschland schafft sich ab“ und wurde von Sarrazins Gattin, einer Berliner Grundschullehrerin, lektoriert. Welche von diesen drei Tatsachen eigentlich am unerträglichsten ist, ist schwer zu sagen.
„LTI“: Lingua Tertii Imperii – Die Sprache des Dritten Reiches. So heißt jenes kluge Buch des Dresdner Philologen Victor Klemperer, der als Jude zusammen mit seiner nichtjüdischen Frau den Holocaust überlebt hatte und sich nach all der Demütigung, der Verfolgung, dem Terror, der Mißhandlungen, der Todesangst, der Dresdner Brandnacht keine Ruhe gönnte, um gleich 1946 dieses Buch zu schreiben. Darin erzählt der Sprachforscher, was den jüdischen Bürgern angetan worden war, er analysiert als Wissenschaftler die Sprache der Nazis, ihre rhetorische Methodik und ihre Symbolik.
Als ich das erste Mal Klemperers Buch gelesen hatte, war ich erschrocken. Ich war etwa 15 Jahre alt, ich lebte in der DDR, und einiges, was ich bei Klemperer las, erinnerte mich auf erschreckende Weise an das Land, in dem ich lebte – auch wenn es anders war als das Land, das Klemperer beschrieb. Es war in keiner Weise gleichzusetzen mit dem mörderischen System der Nazis, und dennoch entdeckte man sprachliche, symbolische Parallelen: die aufgeblähte Sprache, die Aufmärsche, den Fahnenkult.
Auch Sarrazin ist kein Nazi. Aber die Auflage, die er macht, verdankt er nicht den von ihm aufgezählten Fakten, sondern wohlplazierten Ressentiments. Und es war schon bemerkenswert zu sehen, wie erst alle renommierten, seriösen Medien anbissen und Sarrazins Buch promoteten, um dann – wie der SPIEGEL – ziemlich erschrocken zurückzurudern; erschrocken über die ressentimentgeladene Resonanz.
Faktische Argumente sind seitdem in großer Zahl erwidert worden. Aber wer liest diese klugen Texte nun noch? Begeistert hatte der deutsche Stammtisch gerufen: „Endlich wagt es mal jemand, die Dinge beim Namen zu nennen“, und man kann davon ausgehen, daß sich dieser Stammtisch nach den Sarrazin-Häppchen gewiß nicht mehr beispielsweise mit den demografischen Fakten eines Reiner Klingholz auseinandersetzen wird. Der Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung und Demografie-Experte hatte im SPIEGEL minutiös dargelegt, warum Deutschland eher ein Auswanderungsland ist – und die eigentlich notwendige Zuwanderung gar nicht stattfindet.
Zu spät. Stattdessen hat u.a. der SPIEGEL Sarrazins Buch einen enormen Auflagenzuwachs beschert. Dessen substantielle Ausbeute ist eher dürftig: Daß dieses Land eine vernünftige Integrationspolitik versäumt hat, ist ja ein alter Hut. Seit mindestens zwanzig Jahren wird darüber debattiert. Daß es viele Probleme gibt, streitet kaum noch jemand ab. Und eher saukomisch ist es, wenn sich der Autor über mangelnde Bildung und politisches Versagen beschwert: Anders als viele Medien können wir uns nämlich noch ganz gut daran erinnern, daß Thilo Sarrazin noch vor kurzer Zeit auch ein Politiker war, nämlich ein sparversessener Berliner Finanzsenator – und damit maßgeblich verantwortlich für massive Kürzungen bei Schulen, Bibliotheken, Bildungseinrichtungen, Fördermaßnahmen. Wie viele Bibliotheken allein in Berlin-Mitte, inklusive der sogenannten Problembezirke Moabit und Wedding, in den letzten Jahren geschlossen wurden, möchte man lieber nicht nachzählen. Und seit Jahren krepeln erfolgsversprechende Integrationsmaßnahmen in Berliner „Problemkiezen“ dank seiner damaligen Haushaltspolitik am Rande der Existenz – getreu Sarrazins Auffassung: Bildungsbürgertum (wie sein eigenes) kostet eben viel, und der Rest der Bevölkerung soll sich gefälligst einen warmen Pullover anziehen, wenn es für die Heizkosten nicht reicht.
Eigentlich wären sogar Sarrazins Behauptungen genetisch bedingten Intelligenzmangels einfach lächerlich – aber sie sind es eben nicht nur. Denn (und da schließt sich der Kreis zu Klemperers klugen Beobachtungen in „LTI“) letztlich zündelt Sarrazin mit einem sehr gefährlichen Stoff, und dessen ist sich der Autor, der sich am meisten auf seine eigene Bildung einbildet, auch sehr wohl bewußt. Er kokelt verbal mit Stereotypen, er präsentiert absurde wie unhaltbare Thesen über genetisch bedingten Intelligenzmangel, die unter Intellektuellen und Wissenschaftlern schnell ad acta gelegt sein mögen. Aber die Büchse der Pandora ist dennoch geöffnet. Sie birgt eine neue Hemmungslosigkeit, um über alles „Fremde“ herziehen zu können – und endlich einmal jedes krude Ressentiment auszustoßen, das dem Stammtisch so durch den Kopf geht. Früher gab es das Stereotyp des schmierigen Juden, heute gibt es das Klischee des gewalttätigen Türken oder Arabers. Und gern klatscht Henryk M. Broder, der immer dabei ist, wenn es gegen Muslime geht, mit den dämlichsten Rechtfertigungen Beifall: Sarrazin habe mit den Genen doch bloß spezifische „Kulturen“ gemeint! – Ach. Hätte Thilo ja auch schreiben können.
Aber warum eigentlich der plötzliche Sarrazin-Hype, mal abgesehen vom Verkaufsinteresse des Autors und Verlags? Sarrazin hat mit diesem Unfug doch schon viel früher begonnen – erinnern wir uns nur an die „Kopftuchmädchen“ –, und immer mußte er noch eins draufsetzen. Die Berliner kennen die Sarrazin-Provokationen zur Genüge.
Viel schlimmer ist, was sich alltäglich in unseren Wortschatz eingräbt: Das ganze Gerede über das „Prekariat“, über die sogenannte „Unterschicht“ ist geistiges Gift, das (man denke an „LTI“) unseren Sprachgebrauch schleichend infiziert hat. Aber wer, bitte, bestimmt, wer definiert, was eine „Unterschicht“, was ein „Prekariat“ ist“? Ist „Unterschicht“ der türkische Techniker, der Taxi fährt, weil eine absurde Politik nicht zuläßt, daß seine langjährige Ausbildung hier anerkannt wird? Oder die alleinerziehende Freiberuflerin, die sich mit zwei kleinen Kindern durchschlägt? Die arbeitslose Professorin, die sich mit Projekten und Hartz-IV über Wasser hält? Der arbeitslose Bergarbeiter? Wo fangen wir denn an mit der Definition der „Unterschicht“? Bei welchem Bildungsabschluß soll das losgehen, bei welcher Herkunft, Einkommensklasse, Verhaltensweise? Wie schwachsinnig ist eigentlich ein solcher Begriff, und warum hat dieses Land nicht darüber geredet?
Das geistige Gift beginnt mit Worten, die sich unter anderem in Medien ausbreiten, leider weitgehend undiskutiert. Darauf setzen Sarrazins populistische Ressentiments. Daß sich Sarrazin nun selbst als „Michael Kohlhaas der Politik“ bezeichnet, sollte sämtliche Alarmglocken läuten lassen: Sarrazin fängt gerade erst richtig an. Das aktuelle Buch ist nur der jüngste Auswuchs einer zunehmend asozialen Atmosphäre in diesem Land. Asozial, verstanden als der Gesellschaft abgewandt.
Man achte auf die Sprache. Das kann man bei Klemperer noch heute lernen.
Schlagwörter: Henryk M. Broder, LTI, Sprache, Thilo Sarrazin, Ulrike Steglich, Victor Klemperer