von Erhard Crome
Das deutsche Bürgertum bleibt unterwürfig. Irgendwie taucht das seit seiner Niederlage in der Revolution von 1848/49 immer wieder auf. Erst ließ es sich von Bismarck in den deutschen Nationalstaat führen und dann in diesem beherrschen. Anschließend kam Wilhelm II., der führte Deutschland in den ersten Weltkrieg. Mit der aus der Revolution von 1918/19 geborenen Republik kam das deutsche Bürgertum nicht zurecht, und es folgten Hitler und die Niederlage im zweiten Weltkrieg. Dann kamen 45 Jahre deutscher Geschichte unter der Kontrolle der vier Besatzungsmächte. Mit dem „2+4-Vertrag“ wurde das dem deutschen Bürgertum überantwortete Deutschland in die Souveränität entlassen.
Und was will es jetzt? „Führung“.
Volker Perthes ist Direktor der „Stiftung für Wissenschaft und Politik“, das ist „das Deutsche Institut für Internationale Politik und Sicherheit“, also die Denkfabrik für die Bundesregierung und die gemachte deutsche Außenpolitik. Perthes schrieb kürzlich im Vorwort zu dem Buch eines seiner Mitarbeiter zur US-Außenpolitik (Peter Rudolf: Das „neue“ Amerika. Außenpolitik unter Barack Obama, Suhrkamp Verlag Berlin 2010): „Deutschland und die Europäische Union haben ein vitales Interesse an einer wohlwollenden amerikanischen Führung in der internationalen Politik.“ Nun ist Barack Obama unstreitig sympathischer als die oben Genannten. Aber sollte das Schicksal dieses Landes auch weiterhin anderen zwecks „Führung“ überantwortet werden, nur weil das deutsche Bürgertum auch weiter zu feige ist, das Land wirklich selbständig zu regieren oder Angst vor der eigenen Bevölkerung hat? Zudem ist das Geforderte schon unter historischer Perspektive ein sehr dünnes Eis; von „wohlwollender amerikanischer Führung“ war bereits schon einmal die Rede, als der nette Bill Clinton USA-Präsident war. Und dann kam George W. Bush, und es war Schluß mit dem Wohlwollen. Auch das verweist darauf, daß das eigentliche Problem die „Führung“ ist, nicht die Person im Weißen Haus.
Zur Begründung wird eine Rolle der USA in der Welt beschworen, die darauf hinausläuft, die Dinge so richten zu sollen, wie es den Interessen des deutschen Bürgertums frommt – die Unternehmerverbände hatten ja schon mehrfach gefordert, die internationale Politik des Westens solle gefälligst dafür sorgen, daß die deutsche Exportwirtschaft billige Rohstoffe erhält und nicht die chinesische. So schreibt Peter Rudolf, die USA blieben „der Staat mit den meisten Machtressourcen“. Dann heißt es in der geopolitischen Darstellung: „Ein wirklicher hegemonialer Rivale ist bisher noch nicht in Sicht. China hat zwar das Potential, die wirtschaftliche Stärke der USA im Laufe der nächsten Jahrzehnte zu erreichen. Doch selbst wenn das Reich der Mitte auch technologisch und militärisch aufholen sollte, so bliebe China doch in einem Punkt gegenüber den USA benachteiligt: durch seine geopolitische Lage, durch den Umstand, daß China an Staaten grenzt, die zu einer Gegenmachtbildung in der Lage sind.“
Weiß der Mann eigentlich, was er da sagt? Pakistan testete im November 2006 erneut seine Rakete Hataf V, die eine Reichweite von etwa 1 300 km hat und atomwaffenfähig ist. „Pakistan glaubt an einen Frieden, der aus einer Position der Stärke und der Einsatzbereitschaft heraus entsteht“, sagte damals der pakistanische Ministerpräsident. Mit anderen Worten: Alles, was wir über den Irrsinn der „Politik der Abschreckung“ aus Europa und aus der Zeit des kalten Krieges wissen, wird hier wiederholt. Inzwischen hat Pakistan Raketen mit 3 000 km Reichweite und arbeitet an der Entwicklung solcher mit über 4 000 km. Die Flugzeit einer mit einem Atomsprengkopf bestückten Rakete von Pakistan nach Indien und umgekehrt dauert drei bis fünf Minuten. Damit ist die Gefahr eines aus Versehen ausgelösten Atomkrieges sehr hoch.
Indien dagegen schaut nicht nur auf den Erzfeind Pakistan, sondern auch auf China. Anfang Februar 2010 testete Indien die Rakete „Agni III“ (Agni ist das Sanskritwort für Feuer), die eine Reichweite von über 3 000 km hat – und bis Shanghai reicht. An der Rakete mit 5 000 km Reichweite wird gearbeitet – die reicht dann bis Peking und darüber hinaus. Das angebliche oder tatsächliche Atom- und Raketenprogramm des Irans interessiert in Neu Delhi weniger: „Für uns ist der schlimmste Fall bereits eingetreten: Pakistan hat die Bombe.“
Der Iran hat schon eine Reihe von Kurzstreckenraketen, nach anderen Informationen verfügt er auch über Raketen bis 2 000 km Reichweite. In Verbindung mit der Mutmaßung, der Iran entwickele Atombomben, würde auch dies zu einer nuklear-strategischen Kapazität. „Iranische Raketen könnten im Falle einer militärischen Auseinandersetzung Nuklearanlagen in Israel treffen“, heißt es auf der Webseite hagalil.com. Dazu schreibt dann ein Leser bei hagalil in einem Kommentar, die Waffen stünden bereit, den Iran radioaktiv so zu verseuchen, daß er unbewohnbar wird. Israel gilt inzwischen als die fünfstärkste Nuklearmacht der Welt, hat 400 bis 500 nukleare Sprengköpfte und Raketen mit 1 800 km Reichweite. Die deutschen U-Boote der Dolphin-Klasse, die mit einem Brennstoffzellenantrieb wochenlangen Einsatz ohne Auftauchen ermöglichen – und diesen ausgerüstet mit Marschflugkörpern die Qualität einer strategischen Waffe verleihen, tragen ihrerseits zum israelischen Arsenal an Atomwaffen bei.
Hinzu kommen die Raketen Kim Jong Ils in Nordkorea, die nicht nur den Süden, sondern auch Japan bedrohen, das seinerseits bereits das chinesische Potential als Bedrohung ansieht und eine Debatte über seine künftige strategische Bewaffnung führt.
Damit ist das Bild noch nicht vollständig. Es zeigt aber, daß der wirtschaftliche Aufschwung in Asien inzwischen mit der Entwicklung eigenständiger militärischer Kapazitäten verbunden ist. Und es sind vielerlei bilaterale Rivalitäten, die den Prozeß befördern: China – Indien, Indien – Pakistan, Iran – Israel, Japan – China, Nordkorea – Südkorea und Japan usw. Die Fähigkeiten, einen Krieg führen zu können, haben in der Geschichte noch stets den Willen, es am Ende zu tun, eher beflügelt als gezähmt – mit der Ausnahme des kalten Krieges 1945 – 1990.
Der Westen müßte alles tun, um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken. Was aber tut er? Er treibt die Spannungen an: Druck auf den Iran und Kriegsdrohungen gegen ihn, einseitige Unterstützung Israels im Nahostkonflikt, Unterstützung Japans gegen China und Taiwans gegen China, Stationierung relevanter Truppen in Zentralasien und Afghanistan, die in Bezug auf China, wie Indien und Rußland eine strategische militärische Option bereithalten sollen, Druck auf Nordkorea, auch über den Kopf Chinas hinweg, Kooperation mit Pakistan gegen Indien wie mit Indien gegen China.
In vielem ähnelt die Situation in Asien heute der in Europa vor 1914. Die vielen Konfliktfelder waren schließlich nicht mehr beherrschbar, und der Kontinent schlitterte in den ersten Weltkrieg. Sind wirtschaftlich aufstrebende und prosperierende Länder dabei besonders kriegsanfällig? China, Indien, Rußland und Persien sind alte, nicht-westliche Kulturen. Jemand sagte mal, dort wird Schach gespielt, nicht Poker. Die Außenminister Chinas, Indiens und Rußlands trafen sich im Oktober 2009 im südindischen Bangalore zu ihrem neunten Treffen zu trilateralen, regionalen und globalen Fragen. Sie wollen die Verhältnisse in der Welt nicht eskalieren lassen.
Jedes westliche Konzept, das eigene Macht auf den Zwist der asiatischen Mächte bauen will, spielt nicht nur mit dem Feuer, sondern ist auch zum Scheitern verurteilt. Statt irgendwo „Führung“ zu erheischen, sollte deutsche Politik besser konkret zum Frieden beitragen.
Schlagwörter: Atomwaffen, Bürgertum, China, Erhard Crome, Indien, Iran, Nordkorea, Pakistan, Peter Rudolf, USA, Volker Perthes