21. Jahrgang | Nummer 9 | 23. April 2018

Russischer Despotismus

von Bernhard Mankwald

Erhard Crome bemerkt in der Blättchen-Sonderausgabe 3/2017 treffend, Lenin habe sich „als der Marx des 20. Jahrhunderts maskiert“. Karl Marx selbst allerdings hätte einen solchen Doppelgänger wohl zumindest mit Misstrauen betrachtet. Seinen Zeitgenossen Michail Bakunin bezeichnete er einmal als „moskowitisches Kuckucksei“. Später bekämpfte er ihn energisch wegen seiner Pläne zum Aufbau einer hierarchisch gegliederten Geheimorganisation. Und Lenins Konzept einer „Organisation der Berufsrevolutionäre“ sah diesem Entwurf durchaus ähnlich.
Eine besondere Abneigung hegte Marx gegen den russischen Despotismus. Sein Freund Friedrich Engels beschrieb dieses Phänomen so: „Eine […] vollständige Isolierung der einzelnen Gemeinden voneinander, die im ganzen Lande zwar gleiche, aber das grade Gegenteil von gemeinsamen Interessen schafft, ist die naturwüchsige Grundlage für den orientalischen Despotismus; und von Indien bis Rußland hat diese Gesellschaftsform, wo sie vorherrschte, ihn stets produziert, stets in ihm ihre Ergänzung gefunden. Nicht bloß der russische Staat im allgemeinen, sondern sogar seine spezifische Form, der Zarendespotismus, statt in der Luft zu hängen, ist notwendiges und logisches Produkt der russischen Gesellschaftszustände.“
Lenin wuchs als Mitglied einer Klasse auf, die für den Dienst dieses Staates bestimmt war. Die ungarischen Soziologen György Konrád und Iván Szelényi schrieben über die damaligen Zustände: „In Rußland beispielsweise garantieren die oberen sieben der insgesamt vierzehn Rangstufen den Inhabern von zu ihrem Bereich gehörenden Ämtern automatisch den Adelsstand. Die Aufnahme in den Staatsdienst setzt also im allgemeinen das Adelsprädikat voraus, aber auch wenn von Fall zu Fall darauf verzichtet wird, so ist es doch zumindest eine damit verbundene Konsequenz. Selbst wenn sich eine geringe bürgerliche Intelligenz herausbildete, das System würde auch sie alsbald in den Adelsstand erheben.“
Dies galt auch für Lenins Vater, der Volksschuldirektor war. Er selbst geriet jedoch in Konflikt mit dem Despotismus, als sein Bruder wegen der Vorbereitung eines Attentats auf den Zaren verurteilt und hingerichtet wurde. Er wurde wegen eines geringfügigen Anlasses von der Universität verwiesen und musste sich auf sein juristisches Examen im Selbststudium vorbereiten.
Lenin schloss sich der entstehenden Arbeiterbewegung an und erhob bald einen Führungsanspruch. Im Kampf gegen die Polizei plädierte er für eine ebenso straff organisierte, elitäre Organisation, die damit in gewisser Weise vom Despotismus geprägt war – ähnlich wie eine Münze im Gegensatz zu den Stempeln steht, mit denen sie geprägt wird, aber doch das gleiche Bild zeigt. Diese Organisation ersetzte das orthodoxe Christentum durch den Mythos des Proletariats, sie lehnte den russischen Nationalismus ab und gab Angehörigen der anderen Nationalitäten mehr Rechte, sie ersetzte den Selbstherrscher durch ein gewähltes Zentralkomitee, das sich allerdings in der Praxis stets als Instrument der Herrschaft eines Einzelnen erweisen sollte. Sie übernahm das Prinzip der bürokratischen Hierarchie, die sie jedoch aufgrund ihrer fortschrittlicheren Grundsätze wesentlich effizienter gestalten konnte. Ihre Machtübernahme im Jahr 1917 war der Beginn einer Herrschaft, die immer stärker despotische Züge annahm. Lenin behielt sich in wichtigen Dingen die Entscheidung vor, suchte dabei jedoch oft Rat. Sein Nachfolger Stalin benahm sich wie ein orientalischer Despot, in dessen Gegenwart niemand weiß, wie fest sein Kopf noch auf den Schultern sitzt. Zugleich trieb er die Industrialisierung voran, die die von Engels beschriebenen Zustände grundlegend änderte. Unter Stalins Erben schließlich nahm das politische System gewisse konstitutionelle Züge an; es wurde möglich, dass ein Generalsekretär durch eine Abstimmung abgelöst wurde und den Rest seines Lebens als Privatmann verbrachte.
All diese Politiker bekämpften den Kapitalismus. Im Rückblick wird deutlich, dass erst sie ein solides Fundament für dieses Wirtschaftssystem legten, indem sie die Schmutzarbeit der „ursprünglichen Akkumulation“ leisteten. Diese Phase der Entwicklung war ja auch in westlichen Ländern mit unsäglichen Gräueln verbunden; Marx erwähnt hierzu „[d]ie Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute“.
Lenin und seine Nachfolger konnten also die Entwicklung des Kapitalismus nicht aufhalten, sondern letzten Endes nur verzögern. Unter Boris Jelzin dominierte dann ein hemmungsloser Privatkapitalismus, der unter Wladimir Putin durch die Vorherrschaft des Staatsapparats und des Staatskapitalismus gezügelt wurde. Auf die heutigen Zustände in Russland den Begriff „Despotismus“ anzuwenden, wäre anachronistisch, obwohl an manchen Stellen noch Relikte dieser Herrschaftsform die politische Landschaft prägen. Das ließe sich aber auch von anderen Ländern behaupten; etwa zum Beispiel von der Bundesrepublik.