20. Jahrgang | Sonderausgabe | 30. Oktober 2017

Krieg und Revolution

von Erhard Crome

Die russischen Revolutionen von 1917 waren geprägt von der Rückständigkeit des Landes im Vergleich zu den führenden Industriemächten, der anhaltenden politischen Krise nach der gescheiterten Revolution von 1905 sowie den Niederlagen an den Fronten des ersten Weltkrieges. Gleichwohl bedarf der Blick auf den Zusammenhang von Krieg und Revolution zunächst der Erinnerung an die politischen Zusammenhänge und Entwicklungslinien, die in den Ersten Weltkrieg gemündet waren.

Europäische Staatenordnung

Die Einigung Italiens und die deutsche Reichseinigung hatten die europäische Mächtekonstellation, wie sie seit dem Wiener Kongress 1815 die internationale Politik bestimmt hatte, verändert. Bismarcks Politik war es, innerhalb der europäischen „Pentarchie“ immer Sorge zu tragen, dass Deutschland mit zwei der anderen Mächte im Einvernehmen und Frankreich isoliert blieb. Er selbst jedoch hatte die Beziehungen zu Großbritannien ab Mitte der 1880er Jahre absichtlich verschlechtert, weil er befürchtete, ein Kaiser Friedrich würde unter dem Einfluss seiner englischen Frau das deutsche politische System parlamentarisieren. Mit der „Lombardsperre“ (1887) vertrieb er die russische Nachfrage nach Krediten vom Berliner Kapitalmarkt. Die wanderte dann nach Paris, wo sie bis zum ersten Weltkrieg blieb
Da Wilhelm II. den Rückversicherungsvertrag mit Russland 1890 nicht erneuerte und Russland befürchtete, ohne Bündnispartner dazustehen, schloss es mit Frankreich 1892 eine Militärkonvention und 1894 einen förmlichen Bündnisvertrag. Damit war die Zweifrontenlage, die Bismarck für Deutschland immer hatte verhindern wollen, definitiv hergestellt.
Angebote Großbritanniens zu engerer Zusammenarbeit schlug die deutsche Regierung ebenfalls aus; im Gegenteil, die deutsche Flottenrüstung belastete die beiderseitigen Beziehungen dauerhaft.
Das Bündnis mit Österreich-Ungarn, dann auch mit Italien (Dreibund) stellte das deutsche außenpolitische Hinterland dar.
Zugleich glaubten die Außenpolitiker in Berlin – der Außenminister und spätere Reichskanzler von Bülow wie die „Graue Eminenz“ Friedrich von Holstein – dass die weltpolitische Konkurrenz zwischen Großbritannien und Russland deren Zusammengehen auf Dauer verhindern werde. Die kolonialpolitische Konkurrenz zwischen Großbritannien und Frankreich wiederum schien deren Zusammengehen ebenso dauerhaft auszuschließen. All das würde dazu führen, dass Deutschland weltpolitisch freie Hand hätte.
Großbritannien als die entscheidende imperiale Macht sah sich Ende des 19. Jahrhunderts in einer komplizierten Lage. Der Burenkrieg (1899–1902) zur „Abrundung“ der Kapkolonie im Süden Afrikas hatte statt der ursprünglich veranschlagten 10 Millionen Pfund 230 Millionen gekostet. Großbritannien brauchte 400.000 Mann an Truppen aus Großbritannien, dazu 50.000 Mann aus Kanada, Neuseeland, Australien und Indien sowie 30.000 Schwarzafrikaner, um 50.000 Buren zu besiegen.[1] Da ein großer Teil des politischen Personals, vor allem auch der jüngeren Generation in Großbritannien sozialdarwinistischen Gedanken anhing, wurde dies als Signal gesehen, dass es Zeit wäre, die „splendid isolation“ zu beenden. König Edward VII. war es, der – seine konstitutionellen Kompetenzen zum Teil deutlich überdehnend – 1903 die Einigung mit Frankreich vorbereitete, die dann 1904 als Abkommen zur „Entente cordiale“ gemacht wurde. Zeitgleich intensivierte Großbritannien die Zusammenarbeit mit Japan, das dann im Fernen Osten Russland besiegte. Danach war dieses 1907 auch zu einer Einigung mit Großbritannien bereit. Damit war die Pentarchie zuungunsten Deutschlands ausgeschlagen. Und da Italien insgeheim unterschiedliche Vereinbarungen mit den Entente-Mächten geschlossen hatte, war der Dreibund nicht wirklich zuverlässig. Deutschland war auf das Bündnis mit Österreich-Ungarn (Zweibund) verwiesen.

Russland und der Krieg

Russland hatte sich nach dem Abwerfen des „Tatarenjochs“ und seit den Eroberungen unter Zar Iwan IV. („der Schreckliche“) und Peter I. („der Große“) immer weiter ausgedehnt. Es wurde zum größten territorial zusammenhängenden Staat in der Welt. Durch die Kriege gegen Schweden erlangte es den Zugang zur Ostsee, eroberte das Baltikum und Finnland, durch die polnischen Teilungen kam es in Richtung Mitteleuropa bis an die Grenzen Österreichs und Preußens, durch die russisch-türkischen Kriege zum Schwarzen Meer, erweiterte seine Territorien im Kaukasus, in Zentralasien und im Fernen Osten. Seit dem 19. Jahrhundert war es ein wichtiges Ziel der russischen Politik, das Osmanische Reich so weit zu schwächen, dass Russland die Meerengen zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer (Bosporus und Dardanellen) erobern und besetzen konnte. Mit dem zehnten russisch-türkischen Krieg 1853 wurde der Versuch gemacht, dies zu erreichen. Großbritannien und Frankreich sahen jedoch einen solchen Sieg Russlands als eine empfindliche Störung des europäischen Gleichgewichts an und traten auf Seiten des Osmanischen Reiches in den Krieg ein. Dieser „Krimkrieg“ dauerte bis 1856 und endete mit der Niederlage Russlands. Im Ergebnis des Friedens von Paris 1856 wurde das Schwarze Meer neutralisiert, Russland durfte keine Flotte und keine Seebefestigungen am Schwarzen Meer unterhalten. Die Dardanellen durften nur osmanische Kriegsschiffe und die verbündeter Staaten passieren. Die Bestimmungen zur Neutralität des Schwarzen Meeres wurden allerdings mit dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 wieder aufgehoben, Russland konnte erneut eine Schwarzmeerflotte bauen und Kriegshäfen befestigen. Die Festlegungen über die Durchfahrtsrechte durch die Meerengen blieben jedoch erhalten.
Im Gefolge des Krimkrieges war offen zutage getreten, dass der wirtschaftliche und soziale Rückstand Russlands eine wesentliche Ursache für die Niederlage war. Es folgten die Aufhebung der Leibeigenschaft (1861), der Bau tausender Kilometer Eisenbahn, am Ende bis zum Pazifischen Ozean, eine sich beschleunigende Industrialisierung und eine Reihe von Reformen in Verwaltung, Gesellschaft und Militär Russlands.
Diese Entwicklungen, die auch auf der Auflösung der agrarischen Gesellschaft, sozialem Wandel und Urbanisierung beruhten, führten zugleich zu wachsenden sozialen, kulturellen und ideologischen Spannungen. Der zaristische Staat war jedoch nicht bereit, auf das Prinzip der „Selbstherrschaft“ des Zaren zu verzichten. Militär, Verwaltung und Geheimdienst wurden ausgebaut. Auf die Bombenanschläge der „Nihilisten“, denen 1881 auch Zar Alexander II. zum Opfer fiel, wurde mit verstärkter Repression reagiert. Der russische Nationalismus wurde verstärkt, Antisemitismus gefördert und der Panslawismus als Fürsorgepflicht des russischen Staates gegenüber den „slawischen Brüdern“ – vor allem auf dem Balkan, unter dem „Joch“ der Türken und Österreicher – war Instrument der Außen- wie Innenpolitik.
In seiner Arbeit über den russischen Imperialismus hatte bereits Dietrich Geyer darauf hingewiesen, dass der russische Staat nach dem Krimkrieg bewusst nicht auf ein „Primat der Innenpolitik“ gesetzt, sondern der imperialen Politik die Aufgabe zugemessen hatte, der Positionsminderung entgegenzuwirken.[2] Das führte zur Expansion Russlands im Kaukasus und in Zentralasien, zu Lasten des Osmanischen Reiches und Persiens.
Großbritannien sah das Vordringen Russlands in Asien, bis nach Afghanistan als Bedrohung seiner Kolonialinteressen in Indien an, so dass die Spannungen beider Reiche im „Great Game“ als eine Konstante der internationalen Politik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt. Zugleich baute Russland seine Positionen im Fernen Osten aus und schuf sich Einflusszonen in China und Korea. Das brachte Russland in Widerspruch zu Japan, das sich gerade als neue Kolonialmacht zu etablieren bestrebte. Das Ergebnis war die Niederlage Russlands im russisch-japanischen Krieg 1904/05.[3] Die wiederum trug zur Russischen Revolution von 1905 bei, die vom Zarenregime jedoch am Ende mit Gewalt niedergeschlagen wurde.
Rechneten nahezu alle zeitgenössischen Beobachter 1905 damit, dass Russland Jahrzehnte brauchen werde, bis es sich von diesen Rückschlägen erholte, verlief der Prozess des Wiedererstarkens vergleichsweise rasch. Eine wesentliche Folge der Niederlage im Fernen Osten war, dass sich Russland wieder verstärkt nach Westen wandte. Die wachsenden Spannungen mit Österreich-Ungarn waren eine Folge dessen. Die andere war, dass die Beherrschung der Meerengen wieder zu einem zentralen Ziel wurde.
Der russische Außenminister Sergej D. Sasonow hatte 1912 in einem Memorandum geschrieben, die Eroberung Konstantinopels würde Russland eine Stellung in der Welt geben, „welche die natürliche Krönung der Anstrengungen und Opfer bilden würde, die wir in den letzten Jahrzehnten unserer Geschichte erbracht haben“[4]. Das war jedoch nicht nur Romantik. Ungefähr die Hälfte der russischen Exporte ging über das Schwarze Meer und kam durch die Meerengen auf die Weltmärkte, darunter fast 90 Prozent der russischen Getreideexporte, sowie ein Großteil der Importe für die sich entwickelnde Schwerindustrie in der Ukraine. Als während des Türkisch-Italienischen Krieges 1912 die Türkei die Meerengen für den gesamten Schiffsverkehr sperrte, sanken die russischen Exporteinnahmen um dreißig Prozent.[5] Insofern war aus russischer Sicht die Meerengen-Problematik von weitreichender Bedeutung.
Das Osmanische Reich setzte im Sinne der jungtürkischen Konzepte auf eine rasche Erneuerung der militärischen Kapazitäten. Der deutsche General Liman von Sanders wurde zum Kommandeur der türkischen Truppen gemacht, die die Meerengen zu verteidigen hatten. Bei Krupp wurden modernste Kanonen geordert. Gleichzeitig gab die Türkei im Januar 1914 den Bau von fünf großen Schlachtkreuzern in Auftrag, drei in Großbritannien und zwei in den USA, im April wurde mit einer britischen Werft der Kauf eines vierten Schlachtschiffes in der Dreadnought-Klasse vereinbart. Damit wäre die türkische Flotte der russischen Schwarzmeerflotte haushoch überlegen gewesen. Die Proteste St. Petersburgs in London ergaben nichts, Außenminister Edward Grey und Marineminister Winston Churchill gaben zu verstehen, dass der Staat sich nicht in privatwirtschaftliche Geschäfte einmische.[6]
Die letzte gemeinsame Planungssitzung von Heer und Marine Russlands vor der Julikrise befasste sich Februar 1914 unter Vorsitz von Außenminister Sasonow mit der Frage, die russischen Streitkräfte so aufzurüsten, dass sie in der Lage wären, Konstantinopel aus eigener Kraft zu erobern. Von Serbien war nicht die Rede.[7]

Im ersten Weltkrieg

Russland hatte, wie alle imperialistischen Mächte im ersten Weltkrieg, weitreichende Kriegsziele: Zerschlagung Österreich-Ungarns mit Zurückdrängung der Habsburger auf ihre Stammlande in Deutschösterreich und Ersetzung des restlichen Landes durch russlandfreundliche slawische Pufferstaaten; Auflösung des Deutschen Reiches bei Wiederherstellung der deutschen Einzelstaaten und Verkleinerung Preußens, insbesondere zugunsten Polens, das unter russischer Herrschaft bleiben sollte; Aufteilung des Osmanischen Reiches unter die Ententemächte, wobei Russland die Meerengen und Konstantinopel beanspruchte.[8]
Obwohl die Masse der Truppen an der Westfront eingesetzt war, vermochte es die deutsche Heeresleitung in der Anfangsphase des Krieges, „mit notdürftig zusammengekratzten, unterlegenen Kräften die ständig drohende Niederlage im Osten abzuwenden“[9] und 1915 zur Gegenoffensive überzugehen. Im Sommer 1915 eroberten deutsche Truppen Warschau, Brest-Litowsk und Vilnius. Mit der Brussilow-Offensive 1916 erzielte Russland Geländegewinne, erlitt jedoch hohe Verluste. Insgesamt verloren die russischen Armeen bis Anfang 1917 2,7 Millionen Tote und Verwundete sowie vier Millionen Kriegsgefangene.[10]
Die russische Kriegsindustrie hatte ihre Leistungen seit August 1914 deutlich erhöht. Dies beschleunigte jedoch die sozialen Widersprüche und eine wuchernde Urbanisierung. Hunger und Inflation vergrößerten das Elend. 1917 waren Soldaten und Zivilbevölkerung kriegsmüde. Die Herrschenden dagegen hatten keinerlei Verständnis für die Nöte des Volkes. Schon nach der verlustreichen Schlacht von Tannenberg in Ostpreußen im August 1914 hatte Großfürst Nikolai gegenüber dem französischen Militärattaché gesagt: „Wir sind glücklich, für unsere Verbündeten solche Opfer bringen zu dürfen.“[11] Nach den Niederlagen 1915 entzog Zar Nikolaus II. dem Großfürsten das Oberkommando und übernahm es selbst. Fortan war er nicht nur politisch, sondern unmittelbar persönlich für Niederlagen und Kriegsverluste verantwortlich. Das unterminierte das Ansehen der zaristischen Selbstherrschaft weiter und beschleunigte die politische Krise. Mit der Februarrevolution 1917 wurde der Zar gestürzt. Es bildeten sich die Provisorische Regierung und der Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten als eigenständige zentrale Machtorgane.
Die Provisorische Regierung unter Fürst Lwow bekannte sich jedoch zur Fortsetzung des Krieges und verschob die versprochene Landreform auf die Zeit danach. Die zentralen Forderungen der Februarrevolution – Land und Frieden – blieben unerfüllt. Außenminister Pawel Miljukow beeilte sich, den anderen Entente-Mächten zu versichern, Russland bleibe bei den Vereinbarungen von 1915, wonach es an dem Kampf um den erstrebten Siegfrieden teilnähme, einen Separatfrieden mit Deutschland ausschließe und dafür Konstantinopel, den Bosporus sowie die Dardanellen und Gebiete in Ostgalizien beanspruche. Der Petrograder Sowjet distanzierte sich sofort und öffentlich. Miljukow musste zurücktreten. Im April 1917 wurde eine Vereinbarung zwischen Regierung und Sowjet erzielt: Keine Annexionen, aber auch kein Separatfrieden, was hieß: Fortsetzung des Krieges.
Dies war politisch schizophren und historisch beispiellos – Führung eines Krieges, ohne von ihm etwas zu erwarten. Anders war die Zustimmung der Mehrheit des Sowjets zur Fortsetzung des Krieges jedoch nicht zu haben. Begründung war, man müsse erst über die Deutschen gesiegt haben, um dann den Frieden zu bekommen.
Alle wichtigen Parteien der Revolution, nicht nur die Bolschewiki, standen auf „Zimmerwalder Positionen“. Die Zimmerwalder Konferenz – 1915 in der Schweiz – hatte unter maßgeblicher Beteiligung von Lenin und Trotzki zur Neuformierung der Linken in Europa auf der Grundlage des Kampfes gegen den ersten Weltkrieg geführt und zu der Forderung nach einem Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, wie es damals hieß. Nachdem die von dem Sozialrevolutionär Alexander Kerenski, der zunächst aus dem Sowjet kam und dann Kriegsminister und später Chef der Provisorischen Regierung wurde, zu verantwortende Offensive im Sommer 1917 unter neuerlichen großen Verlusten gescheitert war, waren die Bolschewiki die einzige Partei, die weiter entschlossen die Position des Friedens vertrat. Ihr Sieg im Oktober 1917 war die logische Konsequenz.
Ungeachtet dessen, ob man die Oktoberrevolution – in der offiziellen sowjetischem Interpretation vor 1989 der große Wendepunkt der gesamten Menschheitsgeschichte – nun zu einem Putsch der Bolschewiki, die dazu parlamentarisch nicht legitimiert waren, uminterpretiert oder nicht, sie stand für den unbedingten Willen, das Morden des ersten Weltkrieges zu beenden. Lenin hatte bereits in seinen „April-Thesen“, die er gleich nach seiner Ankunft in Petrograd im April 1917 verkündete, betont, dass der Krieg „auch unter der neuen Regierung Lwow und Co. […] unbedingt ein räuberischer imperialistischer Krieg bleibt“, an den „auch die geringsten Zugeständnisse […] unzulässig“[12] sind. Folgerichtig war das „Dekret über den Frieden“ der erste politische Akt der neuen Arbeiter- und Bauernregierung. Es war von Lenin ausgearbeitet und vom II. Sowjetkongress am 26. Oktober 1917 (alter Kalender) einstimmig angenommen worden. Ziel war ein „gerechter und demokratischer Frieden“, „nach Auffassung der Regierung ein sofortiger Frieden ohne Annexionen (d.h. ohne Aneignung fremder Territorien, ohne gewaltsame Angliederung fremder Völkerschaften) und ohne Kontributionen“. Lenins Regierung schlug „allen kriegführenden Völkern vor, unverzüglich einen solchen Frieden zu schließen“[13].
Mit diesem Dekret war nicht nur die Idee Staatspolitik geworden, den Krieg zu beenden und einen sofortigen Waffenstillstand abzuschließen. Als neues Postulat für die Außenpolitik wurde zugleich der Grundsatz formuliert, dass die Eroberung fremder Territorien und die Ausbeutung anderer Völker kein außenpolitisches Ziel sein dürfen. Dieses Verdienst gebührt der Oktoberrevolution ungeachtet dessen, dass Stalins internationale Politik dem später nicht gefolgt ist. Adressat des Dekrets waren nicht nur die Regierungen, sondern auch die Völker. Alles das, was wir heute als Außenpolitik der Zivilgesellschaft kennen, wurde dort erstmals deklariert. Zudem hat das Dekret über den Frieden mit der Geheimdiplomatie der alten Mächte gebrochen. Die Sowjetregierung enthüllte die Geheimverträge zwischen den Entente-Mächten und die Dokumente über die imperialistischen Kriegsziele Russlands. McMeekin hat die Originaldokumente angesehen und bestätigt, sie wurden sachgerecht dokumentiert.[14] Definitiv erklärte die Sowjetregierung: Krieg ist „das größte Verbrechen an der Menschheit“[15]. Vom Dekret über den Frieden führt eine direkte Linie über den Kriegsächtungspakt („Briand-Kellogg-Pakt“) 1928 hin zum Friedensgebot der UNO-Charta 1945.

Revolution im Krieg geboren

Aktuelle politische Kämpfe werden oft in geborgten historischen Kleidern ausgetragen. Bekannt ist Marx‘ Einstieg in seinen berühmten Text zur Analyse der Errichtung der Herrschaft von Napoleon III. nach der französischen Revolution von 1848: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. So maskierte sich Luther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789–1814 drapierte sich abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaisertum, und die Revolution von 1848 wusste nichts Besseres zu tun, als hier 1789, dort die revolutionäre Überlieferung von 1793–1795 zu parodieren.“[16]
Die russische Revolution von 1917 bedurfte ebenfalls der Kostümierung. Die Revolution von 1905 hatte die zaristische Selbstherrschaft erschüttert, die war aber nicht gestürzt. Mit brutalen Mitteln waren die Macht gesichert und das Land wieder unter Kontrolle genommen worden. 1914 fühlten sich der Zar und die Regierung schon wieder stark genug, sich an dem Großen Krieg der Mächte zu beteiligen. Die Hoffnung im Volk auf eine epochale Veränderung aber blieb. Mit den riesigen Verlusten an der Front nahm die Unzufriedenheit im Lande schließlich systemsprengende Formen an.
Der Marxismus war nach 1872 mit Marx’ „Kapital“ nach Russland gekommen. Seither war unter russischen Intellektuellen und Revolutionären die Ansicht verbreitet, dass eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft auf der Grundlage wissenschaftlicher Analyse erreicht werden musste.[17] Lenin, der seit Ende des 19. Jahrhunderts voller Tatkraft an der Entwicklung einer revolutionären Partei zum Sturz der alten Ordnung in Russland gearbeitet hatte, als die dann die Partei der Bolschewiki agierte, war zugleich sein eigener erster Theoretiker. Bereits 1913 hatte er postuliert: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“[18] Damit ging es fortan nur noch darum, was die richtige Lehre ist – es gibt immer nur eine richtige und andere falsche. Und der eine, der über die richtige verfügt, ist der Allmächtige, und die anderen sind Verräter.
Im Weltkrieg befand sich Lenin in der Emigration in der Schweiz, das heißt außerhalb Russlands und der Kriegsschauplätze – unter Bedingungen, da er relativ unbehelligt theoretisch und politisch arbeiten konnte. Zu dieser Zeit entwickelte er in mehreren Schritten seine Konzeption von der Revolution. Der erste (politische) Schritt war der Aufruf an die Arbeiterklasse aller kriegsführenden Mächte, den Lenin bereits kurz nach Kriegsausbruch, im Herbst 1914, formulierte: „Die Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg ist die einzig richtige proletarische Losung. Das zeigt die Erfahrung der Kommune, das ist im Basler Manifest (1912) vorgesehen, und das ergibt sich aus den ganzen Bedingungen des imperialistischen Krieges zwischen den hochentwickelten bürgerlichen Ländern.“[19]
Die Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 waren seit Marx immer wieder als Erfahrung der ersten sozialistischen Revolution diskutiert worden.[20] Mit dem Basler Manifest ist das Friedensmanifest des Internationalen Sozialistenkongresses der Zweiten Internationale gemeint, der am 24. und 25. November 1912 in Basel getagt hatte. Der Kongress hatte für das internationale Proletariat die Ablehnung des kommenden Krieges bekundet und die Verpflichtung erklärt, sollte er dennoch ausbrechen, alles für seine rasche Beendigung und den Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft zu tun. Deshalb war die Unterstützung der Kriegspolitik der respektiven Regierungen durch die Sozialdemokratie der meisten kriegsführenden Staaten ein Bruch mit den 1912 eingegangenen Verpflichtungen und wurde von den revolutionären Sozialisten – darunter Lenin, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg – als Verrat geächtet.
Lenins zweiter (theoretischer) Schritt war die Charakterisierung des Imperialismus nicht einfach als kapitalistisches Weltsystem, das auf kolonialer Ausbeutung großer Teile der Welt und ihrer Bevölkerung durch die Bourgeoisie einiger entwickelter Länder, vor allem Europas, beruht, sondern als „höchstes Stadium des Kapitalismus“, als „parasitärer“, „in Fäulnis begriffener Kapitalismus“, „als sterbender Kapitalismus“[21]. Verstärkt durch den allgemeinen Ruin, den der Krieg hervorgerufen hatte, diagnostizierte er eine „weltweite revolutionäre Krise“, die nicht anders enden könne „als mit der proletarischen Revolution und deren Sieg“.[22]
Der dritte (wiederum theoretische) Schritt folgerte deshalb: Die „Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus. Hieraus folgt, dass der Sieg des Sozialismus zunächst in wenigen kapitalistischen Ländern oder sogar in einem einzeln genommenen Land möglich ist.“[23]
Lenin war – um Marxens Charakterisierung Luthers aufzunehmen – als der Marx des 20. Jahrhunderts maskiert und die russische Revolution von 1917 als Beginn der proletarischen Weltrevolution proklamiert.[24]
Die Frage, dass Russland dafür dem Grunde nach nicht reif war, wurde ausgeklammert, obwohl Lenin das wusste und in verschiedenen seiner Texte auch eingeräumt hatte. Der Zusammenbruch des Kapitalismus war aus dem Weltzustand, wie er im Weltkrieg zum Ausdruck kam, nicht aus einer Hochentwicklung kapitalistischer Verhältnisse in Russland abgeleitet. Das Ausbleiben der Revolution in den meisten anderen Ländern war damit nicht ein objektiv bedingter Vorgang, der den inneren Kräfteverhältnissen geschuldet war, sondern wurde – Lenin hatte ja die „Reife“ des gesamten weltkapitalistischen Systems für den Sozialismus diagnostiziert – als subjektiv verursacht interpretiert und in Verrats-Begriffen verhandelt. Die ständige Suche nach Verrätern in der Arbeiterbewegung, der Sozialdemokratie, selbst den eigenen Reihen der kommunistischen Parteien in der Sowjetunion, der Kommunistischen Internationale und der kommunistischen Weltbewegung, im Grunde bis in die 1980er Jahre hinein, war die logische Konsequenz einer solchen Weltsicht.
Eine rein russische Revolution – historisch eingeordnet: als im Vergleich zur französischen von 1789 nachholende – hätte nicht eine solche weltweite Wirkung und Resonanz erreicht, wie sie die Oktoberrevolution hatte. Insofern ist die Frage, ob denn die von Lenin geführte Revolution die im Sinne der Marxschen Lehre „richtig“ war, völlig verfehlt. Sie war ein wirkungsmächtiger Bruch mit dem und eine Alternative zum bisher allein herrschenden kapitalistischen System, und deshalb wurde die Sowjetunion jahrzehntelang in aller Welt unterstützt. Sie hat bleibende Veränderungen im Weltsystem bewirkt. Dazu gehören insbesondere:

  • Der maßgebliche Anteil am Sieg über den Hitlerfaschismus im zweiten Weltkrieg.
  • Die industrielle Modernisierung Russlands, ohne die die Sowjetunion diesen Sieg nicht hätte erringen können. (Der wesentliche Grund für die Unterlegenheit Russlands gegenüber Deutschland im ersten Weltkrieg war der wirtschaftlichen und zivilisatorischen Rückständigkeit geschuldet.)
  • Die zentrale Rolle bei der Schaffung eines Völkerrechts in Gestalt der UNO-Charta, das auf dem Prinzip des Friedens beruht und ein „Recht auf Krieg“ ablehnt.
  • Die indirekte Wirkung des „Arbeiterstaates“ auf die westlichen Länder, ohne die der moderne Wohlfahrtsstaat nicht hätte erkämpft werden können.
  • Die direkte Unterstützung des Kampfes der kolonial unterdrückten Völker zur Zerschlagung des Kolonialjochs und die Verankerung des Rechtes der Völker auf Selbstbestimmung im Völkerrecht.

Die Rücknahme der Revolution durch die Rückkehr zu einem kapitalistischen Russland nach dem Ende der Sowjetunion, das einige Attribute des westlichen Parlamentarismus und die Wahl des Präsidenten – statt eines Zaren, der sein Amt qua Geburt ausübt – übernommen hat, machen deutlich, dass Russland von 1917 bis 1991 am Ende den längstmöglichen Weg des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus zurückgelegt hat. Ohne die Verkleidung in Gestalt ihrer sozialrevolutionären Programmatik hätten die Revolutionäre von 1917 aber ganz gewiss nicht die Kraft und nicht das Selbstvertrauen gehabt, die alte Ordnung mit einer solchen Entschlossenheit zu stürzen.

Russland 1917 und das Revolutionsproblem

Die russischen Revolutionen liegen nun einhundert Jahre zurück. Ihr Hauptergebnis war Sowjetrussland, dann die Sowjetunion, die eine der bewegenden Kräfte des 20. Jahrhunderts verkörperte.
Das Scheitern des Realsozialismus verführt die Ideologen der heute obwaltenden Verhältnisse dazu, Revolution überhaupt und für alle Zeiten zu verdammen. Demgegenüber gibt es wieder junge Leute, die meinen, aus „Notwehr gegen den Kapitalismus“ Steine werfen und Autos „abfackeln“ zu sollen; einige Ältere sorgen sich, eine nächste Generation an den Verhältnissen verzweifelnder Bürgerkinder würde in eine neuerliche RAF-Logik des Terrors schlittern. So ist das Thema Revolution nicht erledigt, schon aus ganz aktuellen Gründen – die „G20“-Proteste in Hamburg lassen grüßen.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich ein umgestülpter Stalinismus: Galt die Oktoberrevolution in der einstigen kommunistischen Partei- und Staatsideologie als das eigentliche Ereignis der Geschichte, die wichtigste Wendung im Schicksal der Menschheit seit der Entdeckung des Feuers, so glaubt man heute, sie einfach als ein Nebenereignis und den Beginn eines Irrweges abtun zu können – was gestern angebetet wurde, wird heute verteufelt.
Die Mystifizierung der Revolution geht dabei im Grunde bereits auf Karl Marx zurück. Er hatte die französische Revolution von 1789 und der Folgejahre genau studiert, ihre Ursachen, Verläufe und Ergebnisse, und war zu dem Schluss gekommen, die Ablösung des Kapitalismus durch den künftigen Kommunismus müsse durch eine Revolution, mit revolutionärer Gewalt erfolgen, so wie die französische Revolution den Kapitalismus von den feudalen Fesseln befreit hatte. Selbst noch im Sommer 1917, nach dem Sturz des Zaren und bevor Lenin und die Bolschewiki selbst die Macht ergriffen, hatten sie diese Schriften nochmals sehr genau studiert und als Anleitung für ihr Handeln genommen. Später wurde diese Revolutionsidee in der Ideologie für sakrosankt erklärt, und die kommunistischen Parteien warteten allerorts auf die Revolution, die sie denn meinten, machen zu sollen.
Zugespitzt und prägnant hatte Marx dies in dem Satz zum Ausdruck gebracht, Revolutionen seien „die Lokomotiven der Geschichte“.[25] Der Philosoph Walter Benjamin hatte dagegen eingewandt, dass das vielleicht ganz anders sei. „Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“[26] Schauen wir auf die russischen Verhältnisse und die Tatsache, dass der Sturz des Zaren im Februar 1917 die Hoffnungen auf ein Ausscheiden Russlands aus dem Gemetzel des ersten Weltkrieges und der Bauern auf eigenen Grund und Boden nicht erfüllt hatte und das Morden in den Schützengräben den Sommer und Herbst über weiterging, so spricht vieles dafür, dass die Oktoberrevolution von der Masse ihrer Akteure „als Notbremse“ gemacht wurde, während die Bolschewiki meinten, nun auf der „Lokomotive der Geschichte“ zu sitzen und den Zug der Menschheit dorthin bringen zu können, wo sie ihn hin haben wollten.
Dieses „heroische Selbst-Missverständnis“ steht am Beginn der Errichtung der Macht der Bolschewiki und ließ sie dann Schritt um Schritt ihre Diktatur errichten, verbunden mit dem Anspruch – oder der Autosuggestion – damit die ehernen Gesetze der Menschheitsgeschichte zu exekutieren. Auch nach dem Scheitern des Kommunismus[27] verbietet es sich jedoch, seine Geschichte nur vom Ende her, als Geschichte des Scheiterns zu denken. Immerhin hat die kommunistische Herrschaft in Russland das Land aus dem ersten Weltkrieg geführt, später wesentlich zur Vernichtung des deutschen Faschismus beigetragen und die Völker Asiens und Afrikas im Kampf gegen die europäische Kolonialherrschaft unterstützt.
Hier ist es allerdings wie mit dem Erbrecht nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch: Die heutige Linke in Deutschland und in Europa kann das Erbe der europäischen Linken nur als Ganzes annehmen oder als Ganzes ausschlagen, nicht aber sich lediglich einzelne Bestandteile herauspicken, die aktuell in die gemachte Tagespolitik passen, und andere geflissentlich weglassen. Zu diesem Erbe gehört auch das des osteuropäischen Kommunismus. Erben heißt hier aber nicht einfach annehmen, sondern kritisch aneignen. Und das beginnt bereits mit der Sicht auf die Oktoberrevolution. Walter Baier hat dazu festgestellt: „Akzeptiert man heute noch den historischen Anspruch der 1918 gegründeten Kommunistischen Internationale, den einzig authentischen Ausdruck der Revolution verkörpert zu haben, erübrigt sich jede weitere Differenzierung. Das 20. Jahrhundert wäre eine Abfolge von Siegen und Niederlagen, Fortschritten und Rückschlägen im Rahmen einer insgesamt linearen Entwicklung. Die aktuelle politische Aufgabe, die sich bei Bedarf mit einem selbstkritischen Habitus verbinden lässt, bestünde lediglich darin, das alte Banner wieder aufzunehmen, und die zwischenzeitlich versprengten Truppen von Neuem gegen den alten Gegner zu vereinigen.“ Dass die Kommunistischen Parteien „ihren politischen Alleinvertretungsanspruch in der radikalen Linken während der vergangenen Jahrzehnte beinahe lückenlos durchsetzen konnten, erweise sich vom praktischen Ergebnis her nicht als der praktische Beweis für seine Richtigkeit, sondern als ein Pyrrhus-Sieg“, der die Kommunisten in der Rückschau zum Hauptverantwortlichen für sämtliche Niederlagen der Linken im 20. Jahrhundert machte. In diesem Zusammenhang betont Baier: „Bezeichnenderweise sind sich heutige Apologeten des Stalinismus mit den Antikommunisten im allerwichtigsten Punkt einig: Der Verlauf, den die russische Revolution unter Stalin genommen hat, sei der einzig mögliche, entspreche historischen Gesetzmäßigkeiten und folge überdies aus den Theorien von Lenin (möglicherweise schon von Marx). Ein Versuch, differenziert über den Kommunismus und sein Erbe zu sprechen, erfordert daher, mit einer ganzen Reihe von Mythen aufzuräumen.“[28] Das beginnt bereits beim Mythos „Oktoberrevolution“ und seiner Rolle in der kommunistischen Staatsideologie bis 1989.
Das heißt andererseits aber gerade nicht, dass sich das „Reservoir an Revolutionen“ in der Geschichte erschöpft hätte. Zweierlei ist hervorzuheben: Erstens gab es große politische Revolutionen, die die Menschengeschichte vorangebracht haben, wie die englische von 1642 oder die französische von 1789. Zweitens sind tatsächliche Revolutionen nicht von selbsternannten Avantgarden gemacht worden, sondern entstanden, weil relevante Mehrheiten der jeweiligen Bevölkerungen die alte Macht satt hatten, die „unten“ nicht mehr wie vorher leben wollten und die „oben“ nicht mehr in der gewohnten Weise herrschen konnten. Lenin beschrieb eine solche „revolutionäre Situation“ so: „Damit es zur Revolution kommt, genügt es in der Regel nicht, dass die ‚unteren Schichten’ in der alten Weise ‚nicht leben wollen’, es ist noch erforderlich, dass die ‚oberen Schichten’ in der alten Weise ‚nicht leben können’.“ In einer solchen Lage „steigert sich erheblich die Aktivität der Massen“ und es kommt „zu revolutionären Massenaktionen, genügend stark, um die alte Regierung zu stürzen (oder zu erschüttern), die niemals, nicht einmal in einer Krisenepoche, ‚zu Fall kommt’, wenn man sie nicht ‚zu Fall bringt‘.“[29]
Insofern haben Lenin und die Bolschewiki die Oktoberrevolution nicht „gemacht“, sondern angesichts eines historischen „Gelegenheitsfensters“ die Möglichkeit beim Schopfe gepackt.

[1] – Vgl. Andreas Rose: „Unsichtbare Feinde“: Großbritanniens Feldzug gegen die Buren, in: Tanja Bührer / Christian Stachelbeck / Dierk Walter: Imperialkriege von 1500 bis heute, Paderborn u.a. 2011, S. 238.

[2] – Siehe Dietrich Geyer: Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1860-1914, Göttingen 1977, S. 31.

[3] – Vgl. ebenda, S. 143ff.

[4] – Zitiert nach Sean McMeekin, Russlands Weg in den Krieg. Der Erste Weltkrieg – Ursprung der Jahrhundertkatastrophe, Berlin 2014, S. 51.

[5] – Vgl. ebenda, S. 55f.

[6] – Vgl. ebenda, S. 57-61, 67-72.

[7] – Vgl. ebenda, S. 62, 66.

[8] – Vgl. ebenda, S. 45, 51, 60, 95, 147, 156.

[9] – Sebastian Haffner: Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg, Bergisch Gladbach 2001, S. 48.

[10] – Vgl. Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges, München 2014, S. 667.

[11] – Zitiert nach Sean McMeekin, a.a.O., S. 394.

[12] – W.I. Lenin: Aprilthesen, in: ders.: Werke (LW), Bd. 24, Berlin 1959, S. 3.

[13] – LW, Bd. 26, Berlin 1972, S. 239.

[14] – Vgl. Sean McMeekin, a.a.O., S. 18, 378.

[15] – LW, Bd. 26, S. 240.

[16] – Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx, Engels: Werke (MEW), Bd. 8, Berlin 2009, S. 115.

[17] – Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 2008, S. 152ff.

[18] – W. I. Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, in: LW, Bd. 19, Berlin 1977, S. 3.

[19] – Ders.: Der Krieg und die russische Sozialdemokratie, in: LW, Bd. 21, Berlin 1972, S. 20.

[20] – Vgl. Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW, Bd. 17, Berlin 1999, S. 313-362.

[21] – W.I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: LW, Bd. 22, Berlin 1964, S. 305, 307.

[22] – Ebenda, S. 196.

[23] – Ders.: Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa, in: LW, Bd. 21, a.a.O., S. 342.

[24] – Michael Brie kommt zu einer ähnlichen Darstellung der Leninschen Theorieentwicklung. Vgl. ders.: Lenin neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zur Dialektik der Revolution & Metaphysik der Herrschaft, Hamburg 2017.

[25] – Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: MEW, Bd. 7, Berlin 1990, S. 85.

[26] – Walter Benjamin: Notizen zum Begriff der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften I.3., Frankfurt am Main 1991, S. 1232.

[27] – Der Begriff Kommunismus wird hier weder pejorativ noch nur auf den kommunistischen Parteitypus bezogen benutzt. Er beschreibt präzise das, was da von 1917 und 1945 bis 1989/91 historisch absolviert wurde. Der ursprüngliche Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus ist nicht der, der von Marx kam und später unter Stalin dogmatisiert wurde, nämlich einer von zwei Phasen einer Gesamtentwicklung der Gesellschaft in der Geschichte. Die ursprüngliche Differenz, wie sie Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa allgemein bekannt war, ist die zwischen zwei unterschiedlichen politischen und Gesellschaftskonzepten: Mit dem Heraufkommen der Industrie hatte sich die soziale Frage als die Frage nach dem Anteil der Besitzlosen, der Proletarier an der Gesellschaft neu gestellt. Die „kommunistische Antwort“ auf diese soziale Frage waren die Enteignung des privaten Produktivvermögens und der Versuch, die Produktion anders zu organisieren. Die Kommunisten, die 1917 in Russland und mit dem zweiten Weltkrieg in anderen osteuropäischen Ländern an die Macht kamen, sahen folgerichtig im Staat das Instrument zu deren Durchsetzung und in der Diktatur, mithin der Abschaffung der Freiheit und der Demokratie das Mittel, dies zu verwirklichen. „Sozialismus“ dagegen ist die „systematische Entwicklung der Idee des Kapitals, des Eigentums, der Familie, der Gesellschaft und des Staates unter der Herrschaft der Arbeit“ (Lorenz Stein. Auf diese Unterscheidung hat in der neueren sozialtheoretischen Literatur vor allem Peter Ruben hingewiesen.) Danach ist Kommunismus die Herstellung einer Gemeinschaftsordnung, die auf dem Prinzip der Abschaffung des persönlichen Produktivvermögens wie des über elementare persönliche Bedürfnisse hinausgehenden Privateigentums schlechthin beruht, Sozialismus dagegen eine Gesellschaftsordnung, die die Institutionen der Gesellschaft nicht abzuschaffen, sondern zu nutzen trachtet, um sie den Interessen der Mehrheit, die nicht über großes Kapitaleigentum verfügt, nutzbar zu machen.

[28] – Walter Baier: Prinzip „EntTäuschung“. Von den großen Erzählungen zur neuen Sprache der Politik, Hamburg 2007, S. 15-17.

[29] – W.I. Lenin: Der Zusammenbruch der II. Internationale (1915), in: LW, Bd. 21, a.a.O., S. 206f.