20. Jahrgang | Nummer 22 | 23. Oktober 2017

Neue Rechte, alte Kriminalfälle und Goethe in Wörlitz

von Wolfgang Brauer

Thomas Wagners Buch erscheint wie ein vorweggenommener Kommentar der handgreiflichen Auseinandersetzungen rund um den Stand des Antaios-Verlages aus Schnellroda auf der Frankfurter Buchmesse. Antaios wird von Götz Kubitschek betrieben. Der gilt als einer der wichtigsten intellektuellen Strippenzieher der Neuen Rechten. Die ist mitnichten der AfD gleichzusetzen, aber es gibt Schnittmengen. Nun kam es Wagner mit seiner gründlich recherchierten Schrift weniger auf eine Detail-Analyse der unter diesem Begriff zusammengefassten, bei genauer Draufsicht sehr differenziert zu betrachtenden rechtsextremen Strömungen an. Der Autor untersuchte vielmehr deren Beziehungen zu den einst als Inkarnation der Linken gegolten habenden „68ern“. Von denen wechselten tatsächlich einige das Ufer. Der Anwalt Horst Mahler ist sicher nur das prominenteste Beispiel. Sehr viel aufschlussreicher sind Wagners Befunde hinsichtlich der Übernahme traditionell linker politischer Ansätze und ebensolcher Protestformen durch die Neue Rechte. Deren Vertreter haben – Wagner belegt dies – „ihren“ Gramsci ebenso genau gelesen wie die heutige Linke ihn ebenso konsequent vergessen hat. Und wenn vor wenigen Jahren noch in der Auseinandersetzung linker Theoretiker mit Armin Mohlers Theorem der „Konservativer Revolution“ Arthur Moeller van den Brucks „Volkssozialismus“ als abgestandener, natürlich brauner kalter Kaffee abgetan wurde, so deckt Wagner hier eine der wichtigen Wurzeln heutigen neurechten Denkens auf. Auch wenn die in einer merkwürdigen Vermischung mit Ernst Jüngers elitären Ansätzen daherkommt. Dazu kommen diverse Ingredienzien französischen Ursprungs, Jean Raspail zum Beispiel, und die erheblichen Einflüsse aus dem Umfeld der italienischen „Casa Pound“, deren Vertreter sich offen als „Faschisten des dritten Millenniums“ betrachten. Wagners Hinweis auf die „Casa Pound“ ist wichtig, um die Strategien der Neuen Rechten besser verstehen zu können. Selbstverständlich lehnen diese Leute die tradierte parlamentarische Vertreterdemokratie ab und treten nachdrücklich für plebiszitäre Ansätze ein. Thomas Wagner liefert Belege dafür, dass das durchaus ernst gemeint ist. Auch die antikapitalistische Grundausrichtung der jüngeren Vertreter der Neuen Rechten scheint mehr als nur rhetorische Blase zu sein. Wagner stellt in dem Zusammenhang die Frage, wie es geschehen konnte, dass der Linken offenbar ihre Kernkompetenz abhandenkam. Er zitiert Dirk Jörke und Nils Heisterhagen: Die von Akademikern geprägten Linken seien „ohne es zu begreifen, in die Falle der Identitätspolitik gelaufen. Den Bezug zu ihrer traditionellen Wählerklientel haben sie verloren, vor allem die zu den Arbeitern.“ Deren politische Potenziale greifen inzwischen zunehmend die Neuen Rechten ab. Mehr noch: „Dreh- und Angelpunkt ihrer Politik von unten ist die soziale Frage“, stellt Wagner fest. Zum plumpen NS-Rassismus der NPD geht man zunehmend auf Abstand. Auch in Sachen Europa – manche Alt-Linke betrachten die Europäische Union immer noch als Teufelswerk – gewinnt man zunehmend Positionen, die aus faschistischer Sicht geeignet scheinen, „den nationalen Chauvinismus der alten Rechten“ (Wagner) zu überwinden. Dass man dabei auch auf den bekennenden französischen Faschisten und Nazi-Kollaborateur Pierre Drieu la Rouchelle zurückgreift, ist nur auf den ersten Blick erstaunlich. Thomas Wagners Buch liefert wichtige Bausteine zum Verständnis dieser Prozesse, die Europa zunehmend nach rechts treiben.
Wer seinen Befunden aufmerksam folgt versteht, dass dem allein mit lautstarken „Gegenkundgebungen“ nicht mehr zu begegnen ist. Thomas Wagner hat in sein Buch ein Gespräch mit Ellen Kositza und Götz Kubitschek über politische Gewalt aufgenommen. Das zu lesen lohnt in diesem Zusammenhang. „Mit Faschisten redet man nicht“, wird mir jetzt entgegenschallen. Möglich. Aber man sollte wissen, wie sie denken und fühlen, was ihre Absichten sind und welche Mittel sie favorisieren, wenn man ihnen entgegentreten will. Andernfalls soll man es sein lassen. Ein wertvolles Buch.

Thomas Wagner: Die Angstmacher. 1968 und die Neue Rechte, aufbau, Berlin 2017, 351 Seiten, 19,95 Euro.

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An dieser Stelle haben wir schon des Öfteren auf die historischen Arbeiten des Blättchen-Autors Frank-Rainer Schurich aufmerksam gemacht. Alte Kriminalfälle haben Konjunktur, im Fernsehen bringen sie sichere Einschaltquoten und im Falle der alten „Polizeirufe“ – und der „Stahlnetz“-Folgen… – ein dem geschichtlichen Abstand geschuldetes leichtes Überlegenheitsgefühl. Das ist angenehm, und wir können getrost hinterher noch ein Gläschen schlürfen, ohne Albträume befürchten zu müssen. Aber es gibt beim „Polizeiruf“ Ausnahmen. Der gruslige „Mit dem Anruf kommt der Tod“ (Thomas Jacob/1991) gehört dazu. Über den Film kann man sich streiten, er lehnt sich jedoch an einen authentischen Fall an, der Mitte der 80er Jahre in Berlin-Marzahn Angst und Schrecken verbreitete. Remo Kroll und Frank-Rainer Schurich breiten die Geschichte des „Telefonmörders von Marzahn“ – das ist leicht übertrieben, durch glückliche Zufälle starb keines der Opfer dieses Täters – auf der Grundlage solider Quellenrecherche vor uns aus. Selbst die nüchterne Erzählung der beiden Kriminalisten jagte uns beim Lesen noch Schauer über den Rücken. Dasselbe betrifft das Handeln des Täters im dritten Kapitel des Bandes „Hippokratischer Verrat“, dessen psychische Abgründe im Verlaufe der Ermittlungen immer dunkler zu werden schienen.
Etwas anders kommt der missratene Held in „Postraub am Spreekanal“ daher. Der an einer merkwürdigen Melange aus Minderwertigkeitskomplexen und kaum zu toppender Selbstüberschätzung leidende Täter plante – das gibt es nicht nur bei Alfred Hitchcock oder Agatha Christie – das perfekte Verbrechen. Beinahe wäre ihm das auch gelungen, wenn… Aber den Schluss von Krimis sollte man nicht vorab preisgeben, auch wenn es sich um reale Fälle handelt. Der große Unterschied zwischen Krolls und Schurichs Buch und der sonstigen Meterware „historischer Kriminalfälle aus der DDR“ besteht darin, dass die Autoren uns akribisch genau die Ermittlungstätigkeit der Kriminalisten verfolgen lassen. Manchmal möchte man ob länger geratener kriminaltechnischer Protokolle aus der Lektüre aussteigen – wir haben es nie bereut, zu Ende gelesen zu haben. Das Dranbleiben lohnt sich auf jeden Fall!

Remo Kroll / Frank-Rainer Schurich: Postraub am Spreekanal und zwei weitere authentische Kriminalfälle aus der DDR, Bild und Heimat, Berlin 2017, 250 Seiten, 12,90 Euro.

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Nach so viel politischem und individuellem Elend zieht es uns in die Natur. Die weite Traumlandschaft der Dessau-Wörlitzer Anlagen hat es uns schon immer angetan, und so wurden wir natürlich neugierig auf ein Buch aus der Feder des profunden Weimar-Kenners Detlef Jena über „Goethe, Weimar und das Wörlitzer Gartenparadies“ – so der Untertitel des Buches. Das klingt gelehrt und zutiefst langweilig. Jena zitiert jedoch als Titel Goethes Tagebucheintrag vom 13. Mai 1778 – Herzog Carl August von Sachsen-Weimar machte auf der Reise nach Berlin auf Zureden von Freund Franz (Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, „Vater Franz“) Station in Wörlitz. Goethe musste mit. Nach dem Mittagessen regnete es, aber Franzens zweites Lieblingsprojekt, die Parkanlagen, waren Pflicht. Goethe notierte knapp: „Wie das Vorüberschweben eines leisen Traumbilds“. Er hatte Recht, schöner als in einem milden Maienregen kann man den Park nicht erleben. Und schöner als in diesem Tagebucheintrag kann man ihn wohl auch nicht beschreiben. Nun liefert uns Detlef Jena mitnichten das x-te Wörlitz-Buch mit Goetheschen Schwärmereien. Die Tour nach Berlin diente anderen Zwecken, nämlich dem politischen Lieblingsprojekt des Dessauer Fürsten, der Herstellung eines Fürstenbundes, um so ein Gegengewicht gegen die preußischen respektive habsburgischen Vormachtbestrebungen zu schaffen. Fürst Franz glaubte, das Gewicht der Mittelstaaten genügte, die Reichsverfassung zu erhalten und zugleich die beiden Großmächte von einem neuen Waffengang abzuhalten. Was er nicht wusste: Zumindest Friedrich II. von Preußen war über jeden Schritt der fürstlichen Verschwörer informiert. Goethe selbst tat das ihm Mögliche, den Weimarer Herzog vor unbedachten Schritten ab- und ihn aus der ganzen Sache herauszuhalten. Dieses, sich über mehrere Jahre hinziehende politische Possenspiel brachte ihm immerhin eine intensive Beziehung zu Wörlitz ein – die durchaus kritischer Natur war. Und vermutlich trug es das Seinige zur Italienflucht des Jahres 1786 bei. Der Autor breitet vor uns einen beeindruckend geknüpften Bildteppich der mitteldeutschen Politik- und Kulturlandschaft des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts aus. Es ist eine Lust ihm zu folgen. Und dieses Buch macht Lust, dem Goethe zu folgen: nach Wörlitz, in den Weimarer Ilmpark, nach Tiefurt – und auch nach Schlesien. Auch dorthin muss Goethe 1790 seinem Herzog folgen. Schade, dass Detlef Jena die dortige heftige Affäre des Weimarer Ministers mit der jungen Henriette von Lüttwitz unterschlägt. Aber Goethe hat die auch zeitlebens verschwiegen. Eine „Schlesische Reise“ hat er nie geschrieben.

Detlef Jena: „Wie das Vorüberschweben eines leisen Traumbilds“. Goethe, Weimar und das Wörlitzer Gartenparadies, Weimarer Verlagsgesellschaft – Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2017, 272 Seiten, 24,00 Euro.