von Peter Linke
In entwickelten Industriestaaten, so ein im Westen weit verbreiteter Glaube, seien Neuunternehmen, sogenannte Startups, die ultimativen Impulsgeber für Innovation und Produktivität. Der Staat solle ihnen daher nicht in die Quere kommen, sondern sich auf die Schaffung „günstiger Rahmenbedingungen“ für deren gedeihliche Entwicklung konzentrieren …
Überraschen kann eine derartige Sichtweise kaum, in einer Zeit dumpfer Zukunftsverweigerung, wo in Höchstgeschwindigkeit realisierte Individualprofite als Nonplusultra erfolgreichen Wirtschaftens gelten, strategische Innovation nicht wirklich passiert, weil sich der Staat als einzig möglicher Organisator entsprechender Prozesse seit Jahren in einem Zustand permanenter Demontage befindet.
Eine fatale Entwicklung, gegen die sich freilich auch Widerstand formiert: Unternehmergeist, unterstreicht Mariana Mazzucato in ihrem 2013 veröffentlichen Bestseller „The Entrepreneurial State“ („Der Unternehmerstaat“), habe nicht nur mit Startups, Wagniskapital und „Garagenbastlern“ zu tun. Er hänge auch mit der Bereitschaft und Fähigkeit der wirtschaftlichen Akteure zusammen, Risiken einzugehen und sich auf echte Unsicherheit, das wirklich Unbekannte einzulassen. Dem Staat, so die Professorin für Wissenschafts- und Technologiepolitik an der Universität Sussex, komme dabei eine entscheidende Rolle zu. Und sie zitiert aus John Maynard Keynes‘ bereits 1926 erschienenen Klassiker „The End of Laissez-Faire“: „Die wichtigsten Agenden des Staates betreffen nicht die Tätigkeiten, die bereits von Privatpersonen geleistet werden, sondern jene Funktionen, jene Entscheidungen, die niemand trifft, wenn der Staat sie nicht trifft.“ Dies freilich erfordere laut Mazzucato nicht nur bürokratische Fähigkeiten, sondern vor allem echtes technologie- und sektorspezifisches Fachwissen, das sich wiederum nur rekrutieren lasse, wenn die Vision des Staates Begeisterung wecke und neue Horizonte eröffne.
Was in den Ohren westlicher Unternehmer – und Politiker – (noch) schrill klingen mag, ist anderswo längst gängige Praxis. Vor allem in Ostasien, wo kaum jemand die Notwendigkeit aktiver staatlicher Innovationspolitik je in Frage gestellt hat.
Etwa in China, wo der Staat seit mehr als 40 Jahren mit einigem Erfolg entsprechende Strategien verfolgt. Jüngstes Beispiel: sein „Mittel- und Langfristiger Plan zur Entwicklung von Wissenschaft und Technologie“ aus dem Jahre 2006, mit dem die Absicht verfolgt wird, das Reich der Mitte bis 2020 in eine „innovative Gesellschaft“ zu verwandeln sowie bis 2050 als „weltweit führende Wissenschafts- und Technologiemacht“ zu etablieren. Dafür soll innerhalb weniger Jahre Chinas Abhängigkeit von ausländischer Technologie um 30 Prozent gesenkt, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung drastisch erhöht sowie ausländische Konkurrenten aus „strategischen Wachstumsbereichen“ (wie Apparatebau, Biotechnologie, Energiespartechnik, Informationstechnologie und Materialforschung) verdrängt werden. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, berücksichtigt man die enormen staatlichen Anstrengungen allein zur Reformierung des Hochschulsektors sowie zur Unterstützung strategischer Startup-Acceleratoren wie der „Traumstadt“ in Hangzhou.
In Südkorea ist die Schaffung einer „Kreativen Wirtschaft“ seit 2013 offizielle Regierungspolitik. Zentrale Elemente sind die Förderung des südlich von Seoul gelegene Pangyo-Clusters, diverse komplementäre Finanzierungsmodelle (Matching-Funds) zur Kultivierung einer vielfältigen Startup-Landschaft sowie die Eröffnung von 17 „Zentren für kreative Wirtschaft und Innovation“, die in enger Kooperation mit führenden Unternehmensnetzwerken (Chaebols) wie denen von Samsung oder Hyundai strategische Technologieförderung betreiben. Darüberhinaus ist die südkoreanische Regierung bemüht, mit Programmen wie „K-Startup Grand Challenge“ oder „OASIS Start Up Visa“ ausländische Gründer ins Land zu holen. Inzwischen existieren bereits gut 60 Startup-Acceleratoren unterschiedlichster Ausrichtung. Was Richard Min, Gründer und Geschäftsführer der bekannten Hightech-Veranstaltungsagentur „+822“, unlängst zu der Aussage bewegte, das größte Startup-Unternehmen in Südkorea sei Südkorea selbst, geführt von seiner Regierung.
Last but not least, Japan. Auch hier hat sich in Sachen Startup-Kultur entgegen aller Unkenrufe einiges getan. Indikatoren dafür sind eine wachsende Zusammenarbeit zwischen staatlichen Universitäten und der Industrie, universitätsnahe Wagniskapital-Funds, verstärkte Nutzung von Startup-Knowhow durch Großkonzerne und Aufkauf japanischer Techno-Startups durch ausländische Firmen. All dies wird ermöglicht auch und vor allem durch aktive staatliche Intervention und Steuerung, etwa über die 2009 mit einer Laufzeit von 15 Jahren von der Regierung gemeinsam mit 19 Großkonzernen (von Toyota über Sumitomo bis Mitsubishi) aus der Taufe gehobene „Innovationsnetzwerkgesellschaft Japans (INCJ)“.
Mit anderen Worten: Der Fähigkeit zu Innovation wird in den Ländern Ostasiens erhebliche Aufmerksamkeit gewidmet, wobei dem Staat (unverändert) eine Schlüsselrolle zukommt.
Was aber bedeuten diese Entwicklungen für den Rest der Welt? Auf was müssen wir vorbereitet sein? Spätestens hier stellt sich die eigentlich interessante Frage, nämlich die nach dem Verhältnis von Innovation und Kreativität, eine Frage, der sich nicht nur hierzulande politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger seit Jahrzehnten beharrlich verweigern.
Erinnern wir uns: Japan in den 1980ern: Nach gut hundert Jahren hört das Land auf, ausschließlich im Westen nach neuen Ideen und wissenschaftlicher Erkenntnis zu suchen, will nicht länger „Nachahmer“ sein, sondern eigene Formen von Kreativität entwickeln. Es sind subtilere, weniger sichtbare Formen als die im Westen kultivierten: aufgrund beschränkter Ressourcen setzt man vor allem auf adaptive Kreativität durch kollektives „Recyceln“ von Ideen zwecks Produktverfeinerung.
Ein insbesondere buddhistischen Einflüssen geschuldetes „krauses“, „intuitives“ Denken ermöglicht den Japanern, neue Wege in der Grundlagenforschung zu beschreiten, indem es ihnen hilft, einander widersprechende Ideen und Konzepte „spielerisch“ miteinander zu vernetzen. Vor allem jedoch erlaubt es ihnen, innovative, hybride Technologien zu entwickeln, die ihrerseits alternative Formen regionalen Technologie-Austauschs befördern.
Der Westen begegnete all dem mit erschütternder Ignoranz. Während Japan systematisch von Imitation auf Innovation umstellte, beklagte US-Technologie-Analyst Sheridan Tatsuno in seinem 1990 erschienenen Buch „Created in Japan – From Imitators to World-Class Innovators“, dass die USA es vorzögen „zu glauben, dass japanische Firmen lediglich zu Massenproduktion fähig sind, und die Vereinigten Staaten in der Grundlagenforschung und Produktinnovation noch immer die Nase vorn haben […].“
Klingt vertraut? In der Tat! Nur heute sind es die Chinesen, denen westliche „Experten“ unterstellen, nicht wirklich das Zeug zu echter Innovation zu haben.
Erneut läuft der Westen Gefahr, fundamentale Entwicklungen zu verschlafen, weil er nach wie vor ungewohnte Formen von Kreativität nicht als solche zu erkennen vermag. Trends bemerkt er erst, wenn sie ihm auf die Füße fallen. Er reagiert, aber er antizipiert nicht.
Zu viele westliche „Strategieplaner“ sehen sich außerstande, einigermaßen verlässlich zu prognostizieren, was von Ländern wie China, Südkorea oder Japan mittel- bis langfristig zu erwarten ist. Weil sie nicht nur keine Ahnung haben, sondern keine Ahnung haben wollen. Weil sie – wie die meisten ihrer Zeitgenossen in den westlichen Industriestaaten – die Gegenwart am liebsten ins Unendliche verlängern möchten. Weil sie Angst vor der Zukunft haben.
Verängstigte Menschen jedoch sind nicht kreativ. Weil wirklich neue Ideen „Mut zur Konvergenz“ erfordern, wie es Isaac Asimov auf den Punkt brachte. Die Japaner haben in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts diesen Mut bewiesen – unbemerkt vom Rest der Welt.
Mit seiner Forderung, von den Japanern zu lernen und die eigenen, individualistischen Vorstellungen von Kreativität, um nicht-westliche, kollektive Vorstellungen zu erweitern, erwies sich Tatsuno vor 25 Jahren als einsamer Rufer in der Wüste. „Created in Japan“ sollte seine erste und letzte Wortmeldung zum Thema bleiben. Heute schreibt er Drehbücher. Angesichts der allgemein vorherrschenden Ignoranz keine schlechte Alternative. Oder?
Schlagwörter: China, Entwicklung, Forschung, Innovation, Innovationspolitik, Japan, Kreativität, Peter Linke, Staat, Start-Up, Südkorea