19. Jahrgang | Nummer 25 | 5. Dezember 2016

Neue Chancen für Rüstungskontrolle in Europa?

von Jerry Sommer

„Es droht eine neuartige, gefährliche Rüstungsspirale.“ „Deshalb brauchen wir konkrete Sicherheitsinitiativen“ – so lauten die Kernsätze eines im August in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichen Artikels von Außenminister Steinmeier. Die NATO hat nach dem Vorgehen Russlands auf der Krim und in der Ostukraine konkrete Rüstungsmaßnahmen zur sogenannten Rückversicherung der östlichen Alliierten beschlossen. Die praktische Kooperation mit Moskau wurde eingestellt. Russland will mit eigenen militärischer Aufrüstungsmaßnahmen an den Grenzen antworten. Es ist daher höchste Zeit für einen neuen sicherheitspolitischen Dialog mit Moskau, findet der Sicherheitsexperte Hans-Joachim Schmidt von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK): „Abschreckung allein ist nicht ausreichend, zumal wir alle wissen, Abschreckung kann auch einmal scheitern. Sie muss zugleich auch von Entspannung und von Gesprächen über Rüstungskontrolle und militärischer Vertrauensbildung begleitet werden.“
Es ist strittig, ob Russland die baltischen NATO-Staaten wirklich militärisch bedroht. Mit dem Bedrohungsargument rechtfertigt die NATO die Vorneverlegung von Truppen und die vermehrten Militärübungen in der Nähe der russischen Grenzen. Russland weist die NATO-Behauptung zurück. Nicht ganz zu Unrecht, meint der Oberst a.D. Wolfgang Richter von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik: „Russland sagt, es gäbe überhaupt kein vernünftiges Rational, einen NATO-Staat anzugreifen. Russland sei sich bewusst, dass solch ein Angriff einen Bündniskrieg auslösen würde. Vor dem Hintergrund der Existenz von Nuklearwaffen und der konventionellen Unterlegenheit Russlands in Gesamteuropa wäre diese Option völlig irrwitzig. Ich glaube, an dieser Begründung ist etwas dran.“
Inzwischen gibt es eine sogenannte „Gruppe von gleichgesinnten Staaten“, die die Rüstungskontrollinitiative von Steinmeier unterstützt und über Möglichkeiten nachdenkt, sie auszufüllen. Neben Deutschland beteiligen sich daran unter anderem Frankreich, Spanien, Italien sowie neutrale Staaten wie Österreich und die Schweiz. Innerhalb der NATO ist diese Initiative jedoch sehr umstritten. Polen und die baltischen Staaten zum Beispiel sind dagegen, sagt Hans-Joachim Schmidt: „Die sagen, wir setzen in erster Linie auf Aufrüstung und Stationierung amerikanischer Truppen für unsere Sicherheit und Rüstungskontrolle ist da weniger wichtig.“
Auch die Obama-Administration unterstützt die Steinmeier-Initiative nicht. Schmidt: „Die Amerikaner sind eher zurückhaltend. Sie möchten diese Initiative so schnell wie möglich in die existierenden OSZE-Foren integrieren, wobei aus meiner Sicht dahinter ein Stück weit auch die Absicht steht, das Ganze zu verzögern, weil in den OSZE-Gremien auf Grund der Vielzahl der Staaten und der Sichtweisen es eher schwieriger ist, dieses Thema zu erörtern.“
Die NATO hat zwar Vorschläge für mehr Transparenz in Europa gemacht: So sollen auch kleinere Übungen sowie sogenannte „Alarmübungen“ in Grenznähe künftig frühzeitig angekündigt werden, um überraschende Truppenkonzentrationen zu vermeiden. Eigentlich durchaus sinnvolle Maßnahmen, meint Sicherheitsexperte Wolfgang Richter. Allerdings seien die NATO-Vorschläge zu einseitig: „Der Versuch, die Transparenz zu erhöhen, bezieht sich auf die Transparenz russischer Streitkräfte. Und Russland sagt, wir wollen nicht, dass ihr mit eurer militärischen Infrastruktur näher an die russischen Grenzen und schon gar nicht in die Nähe von St. Petersburg vorrückt. Wir brauchen da konkrete Abkommen der Begrenzung. Diese beiden Pole der Transparenz und der Begrenzung bedingen sich gegenseitig.“
Verhandlungen, so Wolfgang Richter, könnten nur erfolgreich sein, wenn über Obergrenzen und Transparenz in Europa gleichzeitig gesprochen werde. Das strebt auch Außenminister Steinmeier mit seiner umfassenden Rüstungskontrollinitiative an. Doch dagegen gibt es in der NATO starken Widerstand. Dies könnte sich aber mit dem kommenden US-Präsidenten Donald Trump ändern. Er hat sich für eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland ausgesprochen und im Wahlkampf die NATO für überholt erklärt. Die neue US-Administration könnte die Rüstungskontrolle wiederbeleben, glaubt Lukasz Kulesa vom „European Leadership Network“ – einem Thinktank für die gesamteuropäische Sicherheit: „Wenn sich die US-Regierung  für einen Neustart der Beziehungen zu Russland entscheidet, dann könnte die Rüstungskontrolle ein Bestandteil sein. Es könnten zum Beispiel die Nuklearwaffen und die Raketenabwehr verringert werden. Allerdings: Für US-Präsidenten, US-Außen- und Verteidigungsminister hatte die europäische Rüstungskontrolle bisher nie Priorität. Das ist natürlich schade, eröffnet aber zugleich anderen Staaten die Chance, hier kreativ initiativ zu werden.“
Daher auch das Vorgehen von Außenminister Steinmeier. Zwar ist noch offen, ob Trump zum Beispiel zu bisherigen Beschlüssen der USA und der NATO über die Vornestationierung von Soldaten in Osteuropa auf Distanz geht oder ob er zumindest weitergehende Aufrüstungen ablehnt. Eine politische Entspannung könnte jedenfalls sicherlich helfen, die durch die Steinmeier-Initiative angestrebte militärische Entspannung zu fördern. Zudem würde sie den europäischen NATO-Staaten ermöglichen, mehr Sicherheit durch Rüstungskontrolle zu erreichen statt durch weitere Aufrüstungsmaßnahmen, die Rüstungsspirale weiter anzuheizen.
Neben Maßnahmen zur Transparenz müsste das Hauptziel einer Rüstungskontrollvereinbarung sein, die Lage an den Grenzen zwischen NATO-Staaten und Russland im baltischen Raum und im Gebiet des Schwarzen Meeres zu stabilisieren. Doch wie könnte das konkret erreicht werden? Hans-Joachim Schmidt: „Auf beiden Seiten müsste die Stationierung neuer Streitkräfte der NATO und Russlands begrenzt werden. Auf beiden Seiten müsste man sich in Grenznähe auch Aktivitätsbeschränkungen überlegen.“
Die NATO-Russland-Grundakte von 1997 könnte dabei nach wie vor als Grundlage dienen. Dort heißt es nämlich, dass in den neuen NATO-Staaten nicht „zusätzlich substanzielle Kampftruppen dauerhaft stationiert“ werden sollen. Russland hat sich im Gegenzug verpflichtet, auch in seinen Randregionen entsprechende Zurückhaltung zu üben. Allerdings ist bisher nicht definiert, was „substanzielle Kampftruppen“ sind. Dies müsste dringend geschehen, fordert die russische Sicherheitsexpertin Nadeshda Arbatova vom IMEMO-Institut in Moskau: „Russland hat der NATO vorgeschlagen, diesen Begriff zu definieren. Da NATO-Streitkräfte nun näher an unsere Grenzen heranrücken, ist das der wichtigste Punkt unserer Beziehungen zur NATO. Wir warten auf die NATO-Antwort. Deshalb denke ich denke, liegt der Ball im Feld der NATO.“
Dort liegt er schon lange, weil unter anderem die baltischen Staaten bisher jede entsprechende Definition ablehnen. Offenbar will man den Begriff bewusst vage halten. Außenminister Steinmeier hält dagegen einen Dialog hierüber und auch über Truppenbegrenzungen für sinnvoll.
In Moskau wurde Steinmeiers Initiative verhalten positiv aufgenommen. Russland sei offen für einen Dialog, werde aber erst einmal nicht initiativ werden, ließ der Kreml verlauten. Der russische Vertreter Mikhail Ulyanow ergänzte Anfang Oktober in der UN-Generalversammlung wörtlich: „Wir werden sehen, wie Deutschlands NATO-Alliierte diese Initiative beantworten.“ Diese abwartende Haltung geht nach Einschätzung des Konfliktforschers Hans-Joachim Schmidt auch auf Meinungsverschiedenheiten zwischen Verteidigungs- und Außenministerium in Moskau zurück. Seine Schlussfolgerung: „Ohne dass die NATO hier wirklich konstruktive Vorschläge macht, sehe ich nicht, wie man die bisherige Blockade auf der russischen Seite überwinden kann.“
Steinmeiers Rüstungskontrollinitiative hat einen Dialog angestoßen. Aber sie trifft vor allem bei NATO-Verbündeten auf Widerstand. Diese Vorbehalte könnten vielleicht durch eine neue Russland-Politik von Donald Trump überwunden werden. Ob es aber schon bald zu konstruktiven NATO-Vorschlägen kommen wird, ist noch völlig offen.

Der Artikel ist eine leicht veränderte Version seines Beitrages für „Streitkräfte und Strategien“ (NDR-Info, 19.11.2016).