19. Jahrgang | Nummer 15 | 18. Juli 2016

Anmerkungen zum Brexit

von Erhard Crome

Fehleinschätzungen in der Außenpolitik schaden zuerst dem, der sie trifft. Das betrifft den gesamten Komplex Brexit. Es waren die deutschen und andere europäische Großmedien, die kurz vor dem Brexit-Entscheid der britischen Wählerschaft meinten, eigentlich sei es klar, dass Großbritannien in der EU verbleiben werde. Erstens sprächen die wirtschaftlichen Fakten dafür. Und zweitens ergäben alle Umfragen eine voraussichtliche Mehrheit für den Verbleib; die Cameron-Regierung streue nur Zweifel, um die Befürworter nicht in Sicherheit zu wiegen und sie an die Wahlurne zu bringen.
Nach dem Entscheid herrschte unter den politisch Verantwortlichen in Deutschland und der EU zunächst betretenes Schweigen. Offenbar hatte niemand damit gerechnet. Jean-Claude Juncker, der Präsident der EU-Kommission, wollte trotzig nun erst recht durchregieren und kündigte an, dass das Freihandelsabkommen mit Kanada CETA ohne Zustimmung der nationalen Parlamente durchgedrückt werden sollte. Der Wille von Juncker und der EU-Kommission, die Union verstärkt zentralistisch von Brüssel aus zu regieren, ist ungebrochen. Wahrscheinlich hat TTIP auch eine derartige, nach innen gerichtete Funktion: mit diesem Instrument kann die Union noch stärker in die einzelnen Länder hineinregieren als bisher.
Die österreichische Zeitung Der Standard schrieb dagegen: „Hat Juncker irgendetwas begriffen? Da verabschiedet sich mit der zweitgrößten Volkswirtschaft ein – oftmals verkannt – wegen seiner Fachexpertise und Bedeutung in der Welt unersetzbares Mitglied nicht zuletzt wegen der Brüsseler Zentralisierungstendenzen aus der Union, und die EU-Kommission reagiert darauf, indem sie die Nationalstaaten aufs Abstellgleis manövriert.“ Breite Proteste, man solle doch den Brexit-Entscheid auch als Kritik der Bevölkerung an fernen Brüsseler Beschlüssen ansehen, führten schließlich dazu, dass zu CETA nun auch die nationalen Parlamente entscheiden dürfen. Die konservative griechische Zeitung Dimokratia betonte: „All jenen, die den Auflösungsprozess der starren supranationalen Struktur beobachten, die Europäische Union genannt wird, ist klar, dass dieser auch auf eine Kaste von Deutschen wie Herrn Schäuble zurückzuführen ist. […] Das griechische Abenteuer, die mangelnde demokratische Legitimation der EU-Institutionen, der Brexit und die starre Haltung von Berlin haben Millionen Europäer zum Nachdenken gebracht. Sie wollen wieder die Herren in ihrem eigenen Land werden und diejenigen sein, die zusammen mit den gewählten Vertretern des Landes ihr Schicksal bestimmen. Nach dem Referendum könnten weitere stattfinden. Die Emanzipation der Länder und Völker ist nah.“ Entgegen der vorherrschenden Kommentierung des Brexit-Entscheids in Deutschland muss das Ergebnis augenscheinlich auch in diesem Sinne betrachtet werden.
Die Hintergründe in Großbritannien wurden ebenfalls pejorativ kommentiert. Zum Rücktritt von Nigel Farage als Vorsitzender der „Unabhängigkeitspartei“ (UKIP) hieß es, nun sei ein Clown abgetreten, der nicht damit gerechnet hätte, wirklich die Mehrheit zu erreichen, und sich nun vor der Verantwortung drücken wolle. Tatsächlich hatte Farage gesagt, mit dem Brexit-Entscheid habe er sein politisches Ziel erreicht und könne nun gehen. Zugleich wurden vielfältige Überlegungen angestellt, die Alten in Großbritannien hätten über die Jungen abgestimmt, die Engländer über die Schotten. Demonstrationen gegen den Brexit in London wurden als Bekundung interpretiert, die britischen Wähler hätten nun den Willen, die Abstimmung zu wiederholen. Vier Millionen Unterschriften einer Online-Petition wurden in diesem Sinne ins Feld geführt. In der Abstimmung am 23. Juni 2016 hatten 17,41 Millionen Wähler für den Austritt und 16,14 Millionen für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt, das heißt, nur etwa jeder vierte der Ja-Sager hat die Online-Petition unterzeichnet. Ganz in diesem Sinne hat die neue Premierministerin Theresa May als erstes erklärt: Brexit ist Brexit, kein Exit vom Brexit.
Beliebte Zielschreibe der Polemik von Politikern und Medien in Deutschland ist Boris Johnson, jahrelang Bürgermeister von London und einer der prominentesten Befürworter des Brexit in der Konservativen Partei. So meinte ein Spiegel-Journalist namens Thomas Hüetlin schreiben zu sollen, es sei lediglich ein „Privatduell“ zwischen Premier Cameron und Johnson gewesen. „Zwei Snobs, die sich eigentlich nur für sich selbst interessieren.“ Um dann hinzuzufügen: „Es gehört schon eine gewisse Portion Schwachsinn dazu, dass man am Tag, nachdem man sein Land in den Abgrund gestürzt hat, erst einmal eine Partie Cricket mit dem Earl of Spencer, dem Bruder von Prizessin Diana, spielt.“ Zunächst ist es für einen Angehörigen der britischen Oberschicht, dessen türkischer Urgroßvater der letzte Innenminister des Sultans war und der mütterlicherseits weitläufig mit der Familie der Queen verwandt ist, nichts Ungewöhnliches, mit einem Earl Cricket zu spielen. Und wieso soll das „Schwachsinn“ sein? Das ist symbolische Politik. Das Ziel ist erreicht. Und aus der Sicht der Brexit-Befürworter ging es nicht um einen Abgrund, sondern um eine neue Souveränität und eine neue Zukunft. Großbritannien hat niemals geduldet, dass jemand auf dem europäischen Kontinent herrscht, der Britannien Vorschriften macht. Deshalb hat es Kriege geführt gegen Philipp II. von Spanien, Napoleon, Wilhelm II. und Hitler. Vielleicht war das Korsett, das in Brüssel seit Jahren geschnürt wird, für Großbritannien in der Tat zu eng? Zumal es in vielem als deutsches Korsett gesehen wird, an dem die Brüsseler Bürokraten nur die Schnüre ziehen. Johnson ist ein großer Verehrer von Winston Churchill, über den er kürzlich ein Buch geschrieben hat.
Nun ist Boris Johnson Außenminister. Die deutschen Kommentierungen waren wieder negativ. Grünen-Fraktionschef Hofreiter meinte, die Ernennung des Brexit-Befürworters sei „ein sehr schlechtes Signal für den Austrittsprozess“. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sagte, der neuen Premierministerin sei es bei der Besetzung der Posten in ihrem Kabinett eher um die Überwindung der Spaltung der Konservativen Partei als um die nationalen Interessen Großbritanniens gegangen. Wenn aber das nationale Interesse Großbritanniens darin liegt, den Brexit zu managen, und zwar möglichst günstig für das eigene Land, liegt nichts näher, als ausgewiesene Befürworter des Brexit damit zu betrauen. Wenn am Verhandlungstisch Vertreter säßen, die das Land lieber innerhalb der EU sähen, könnte ja gleich die Kommission mit sich selbst verhandeln. Insofern hat es eine Logik: eine Premierministerin, die eigentlich für den Verbleib war, den Brexit nun aber als historische Aufgabe ansieht, ein „Minister für das Verlassen der EU“, David Davis, der zuvor schon bekannter Befürworter des Brexit war, und ein Außenminister Johnson, der das ebenfalls gewesen ist. Dass der Brexit als „Wille des Volkes“ umgesetzt wird, sagte Johnson an seinem ersten Tag als Außenminister, „bedeutet aber keineswegs, Europa zu verlassen“. Europa ist mehr als die EU, im Osten und künftig auch im Westen des Kontinents.