19. Jahrgang | Nummer 12 | 6. Juni 2016

Zu linkem Selbstverständnis, Stalinismus, Macht und den Anforderungen der Gegenwart

von Stefan Bollinger

Probleme einer Neuorientierung

Der reale Kapitalismus steckt in seiner tiefsten Krise seit 1929. Und die Linken aller Couleur pflegen ihr Krisendasein, in das sie durch eigenes Verschulden, innere Zerrissenheit und die realkapitalistische Wende hin zu einem neoliberalen, nur noch profitgesteuerten Kapitalismus getrieben wurden. So bitter es ist, sie haben an den wesentlichen Wendepunkten jüngster Geschichte und moderner Gesellschaftsentwicklung versagt. Das trifft den Partei- und Staatskommunismus / -sozialismus ebenso wie die Sozialdemokratie oder anarchistisch-rätedemokratische Ansätze, geschweige denn ökologische oder feministische Zugänge – so wichtig einzelne Erfolge sein konnten. Nie gelang es dauerhaft, Freiheitserwartungen, materiellen Wohlstand für die ganze Gesellschaft und demokratische Verfasstheit gleichzeitig und dauerhaft zu gewährleisten.
Für dieses Verhängnis stehen zuallererst die Jahreszahlen und Epochenbrüche von 1968 und 1989. Das Unvermögen, sich der Produktivkraftrevolution zu stellen, ihre Möglichkeiten und Risiken in die linke politische Programmatik und Praxis einzubinden, ihr intellektuellen Akteure für linke Politik zu gewinnen und die Bürger zu erreichen, ist zweifach missglückt: Im Westen zerbricht die proletarische Basis, ohne dass das intellektuelle Neuproletariat und die neuen sozialen Bewegungen entschlossen und überzeugend in gemeinsame Aktion und Handlungsperspektive einer ursprünglich proletarisch dominierten Linke einbezogen werden konnten. Zwanzig Jahre später gerät aus ähnlichen Gründen und vor allem gemessen an Innovationskraft, realen Wirtschaftsleistungen und damit an sozialer Attraktivität auch der staatlich organisierte Realsozialismus in Krise und Zerfall. (Das schließt das Hoffen auf konstruktivere Auswege, die die chinesischen Kommunisten unter Preisgabe oder zeitweiser Rücknahme originär sozialistischer Ziele und Wirkprinzipien suchen, nicht aus.)
Nach dem Machtverlust bleibt Rückschau und vielleicht Kärrnerarbeit für eine fernere alternative Zukunft. Das Versagen manifestiert sich vor allem im Verwerfen, im Negieren der eigenen Geschichte und der Illusion, einen utopiegesättigten Neuanfang praktizieren zu können, der alle Altlasten, alle Strukturen und manche Idealvorstellungen der 150jährigen Geschichte der Linken hinter sich lässt. An die Stelle eines Realsozialismus des Ostens oder eines sozialdemokratisch geprägten Reformkapitalismus des Westens tritt mehr und mehr ein Gefühlssozialismus, ein moralischer Sozialismus, der mit der realen politischen Praxis des kleineren Übels auch bei linker Regierungsbeteiligung kontrastiert.
Es gehört zu den Allgemeinplätzen linker reformorientierter Politik parteikommunistischer Herkunft, zu allen Zeiten einem zumindest verbalen, oft auch prinzipiellem „Antistalinismus“ zu huldigen. Innerhalb kommunistischer Parteien mit erheblichem Risiko, als linke Dissidenten, auch als Renegaten. In der KPTsch des „Prager Frühlings“ wie in den nicht nur europäischen „eurokommunistischen“ Parteien gewann diese Regung zeitweise die Oberhand. Andere kommunistische Parteien zerbrachen in Flügel und konkurrierende linke Formationen. Mit dem Untergang des Realsozialismus 1989/90 wurde diese Kritik zum Kanon vieler postkommunistischer linker Parteien, die sich allerdings über Inhalt, Tragweite und Konsequenz dieser Abkehr nur bedingt im Klaren sind. Aber: Antistalinismus ist immer konkret, unterliegt wie jede andere politische Regung der Historisierung und dem Befragen, was zu welchem Zeitpunkt für wen mit dem Betonen, Erklären oder gar Verschweigen der eigenen Fehlentwicklungen, Sackgassen und gar Verbrechen erreicht werden soll und kann.
Bedenklich ist dabei: Der auf ein Schlagwort reduzierte „Stalinismus“ ist mittlerweile offensichtlich auch in linken Kreisen zum Etikett generell für den gewesenen östlichen Sozialismus geworden. Das entspricht dem konservativen Zeitgeist, lässt allerdings daran zweifeln, ob damit etwas für linke Politik gewonnen werden kann. Kann und will sie auf ihre rühmliche wie problematische Vergangenheit verzichten? Möchte sie sich nun ahistorisch jenseits aller politischen Kämpfe der letzten 150 Jahre als Neuerfindung präsentieren? Spätestens der politische Gegner leidet aber nicht unter einer solchen Amnesie und wird jede linke, antikapitalistische Bewegung und Partei mit dieser Geschichte, verkürzt und verzerrt, aber eben auch partiell begründet, konfrontieren.

Antistalinismus ist immer konkret

Sicher ist es unter Linken wie allen humanistisch Denkenden, aber auch manchen antisozialistischen Gegnern unstrittig, dass „Stalinismus im engeren Sinne“ als terroristische Diktatur eines einzelnen „großen Führers und Lehrers“, eines Generalsekretärs, seines Politbüros und seines Geheimdienstes ein krasses Zuwiderhandeln gegen die eigenen humanistischen Ideale darstellt. Diese repressive, terroristische Machtausübung gegen Genossen, Sympathisanten und massenhaft gegen vermeintliche wie wirkliche Feinde im Volke war durch ein Unmaß an Vernichtung, Terrorisierung, Freiheitsberaubung und Ausgrenzung geprägt. Niemand konnte vor diesem Furor sicher sein, der eine tödliche Eigendynamik entwickelte, der einen Repressionsmechanismus der Führung mit einer breiten Bereitschaft der mittleren und Basisstrukturen, auch der einfachen Parteimitglieder, aber auch Parteilosen verband.
Dabei geht es nicht um einzelne Exzesse, sondern um eine bewusste, oft „planmäßige“ „Verschärfung des Klassenkampfes“ im Inneren mit ihren verhängnisvollen, oft nicht mehr korrigierbaren Folgen. Das Verbrecherische dieser Politik bestand in dem Unvermögen, zwischen Feind und Freund einen realistischen, gar einen rechtsstaatlichen Trennstrich zu ziehen. Zweifellos waren jene durch Verfolgung und Vernichtung gefährdet, die sich gegen die „Generallinie“ des herrschenden Parteiklüngels stellten, die nicht sanktionierte Machtambitionen pflegten, vor allem aber jene, die eine eigene Meinung selbst im Rahmen der formellen Parteidemokratie kundtaten. Dieses Unvermögen zur demokratischen Diskussion und Willensbildung, diese Abwesenheit von Demokratie prägten das stalinistische System und forderte Opfer. Das betraf die kommunistischen Parteien selbst, aber genauso die vermeintlich schon „sozialistischen Gesellschaften“. Nur solange die Wirtschaft wuchs, neue Ressourcen erschlossen wurden oder feindlicher Druck von außen die Gesellschaft zusammenschweißte, konnten die Widersprüche dieser Gesellschaften beherrscht werden. Letztlich fehlten für den Alltag genau diese Krisenmechanismen und es blieb nur das „Entweder-Oder“ der radikalen, gewaltsamen Lösung übrig.
Für Linke erwächst daraus die Verpflichtung für ein kritisch-schonungsloses Aufdecken dieser Vorgänge, für die Rehabilitierung ihrer Opfer, auch für den selbstkritischen Umgang mit jenen Gegnern des Sozialismus, die unverhältnismäßige Härten in Zeiten der Systemauseinandersetzung erleiden mussten. Dort, wo Linke in politischer Verantwortung stehen beziehungsweise Einfluss nehmen können haben sie einen Beitrag zu einer solchen Aufarbeitung und erforderlichenfalls Entschädigung zu leisten. Das gilt umso mehr, als oft konservative Regierungen gern das stalinistisch-terroristische Schreckgespenst beschwören, aber hartherzig und geizig beim Lösen konkreter Benachteiligungen sind.
Vor allem aber zerstörte der „Stalinismus“ mit seinen Strukturen die Dynamik, die Entwicklungsfähigkeit des staatlich organisierten Sozialismus und der mit ihnen verbundenen Parteien, Bewegungen und Intellektuellen. Die Abkehr von Partei und Bewegung blieb für viele auch aufrechte Linke die einzige Möglichkeit. Es reichte zwar immer wieder für einen demokratisch-sozialistischen Stachel im stalinistischen Fleische, es reichte für ein Abschwächen und Modifizieren des stalinistischen Systems. Der offene Terror und die gröbsten Repressionen konnten nach dem Tode Stalins (und Maos) zurückgedrängt werden. Es blieben aber die Strukturen erhalten, die Macht allein auf die Führung und nicht auf breite Demokratie orientierte. Letztlich konnte nur in einer finalen Krise, die den ganzen Ostblock, die sowjetische Führungsmacht wie kommunistische Parteien erfasste, die die innerparteilichen Reformkräfte auf den Plan rief, etwas bewegt werden. Aber es waren schließlich externe Kräfte, Bürgerbewegungen, kritische Intellektuelle, unzufriedene Bürger, die das stalinistische System so erschütterten, dass kurzzeitig ein Fenster für eine sozialistische Erneuerung aufgestoßen wurde. Eingebunden in die Systemauseinandersetzung mit ihren ökonomischen, medialen, militärischen und geheimdienstlichen Elementen blieb all dies kein inneres Problem. Heraus kam nicht ein Modellwechsel, sondern ein Systemwechsel, die Rekonstruktion eines nur bedingt gewandelten Kapitalismus.
Dieser negative Befund über die realsozialistischen Fehlentwicklungen konkurriert mit der zutreffenden Beobachtung von breiten Diskussionen in der Partei und in der Gesellschaft zu manchen Zeiten. Er kollidiert vor allem mit dem unzerstörbaren Enthusiasmus vieler Parteimitglieder und einfacher Bürger, die den sozialistischen Idealen verbunden waren: Solidarität, Kollektivgeist, auch die Bereitschaft, sich für die Gesellschaft bis an die physische Grenze und darüber hinaus einzusetzen, prägten gerade die Zeiten des Stalinismus, selbst in seiner Hochphase. Das galt für Bürgerkriege und antifaschistischen Widerstand ebenso wie für den Wiederaufbau nach den Kriegen. Genau dieser Enthusiasmus, diese Inanspruchnahme des Sozialismus durch Intellektuelle und Bürger geriet immer dann in eine unlösbare und vor 1989 mehr oder minder gewaltsam „beigelegte“ Krise, wenn Reformen versucht wurden – egal, ob solche im politischen System oder „nur“ in der Wirtschaft. Das Schicksal von NÖP, NÖS oder „Prager Frühling“ stehen stellvertretend dafür.

Stalinismus-Kritik und der notwendige Blick auf die Macht

Die Analyse des realsozialistischen Systems kann deshalb nicht auf Pauschalurteile oder Schwarz-Weiß-Denken reduziert werden. Sie muss immer konkret historisch, zu konkreten Vorgängen, Zusammenhängen und Personen erfolgen. Ein solcher Zugang stößt rasch auf das Problem eines „Stalinismus im weiteren Sinne“. Denn der beinhaltet zentralistische und überzentralisierte Strukturen, ein top-down-Prinzip, den Allmachts- und vor allem Allwissenheitsanspruch einer einzigen Partei und ihrer engsten Führung, ein überbordendes Sicherheitsdenken. Sind die Phasen der Repression in den Zeiten des Hochstalinismus im engeren Sinne recht klar zu umreißen und auf die Jahre 1936 bis 1938, 1948 bis 1953 in der Sowjetunion und Osteuropa eingrenzbar, so verweist der weitere Blick zwar auf Vorläufer dieser düstersten und blutigsten Zeiten seit 1928/29 oder auch in den frühen osteuropäischen Nachkriegszeiten. Dieser Blick erfasst aber auch den Wandel des Realsozialismus spätestens seit dem XX. Parteitag der KPdSU mit Reformversuchen, Stagnationsphasen, Wirtschaftserfolgen und Wirtschaftskrisen.
Unzweifelhaft gab es einen Klassenkampf gegen die bisherigen, mit der Oktoberrevolution und den anderen sozialen Revolutionen selbst oder mit sowjetischer Hilfe gestürzten besitzenden Klassen, ihren Diensteliten, Intellektuellen und Sympathisanten. Es war keineswegs nur ein Klassenkampf in dem betreffenden Land, sondern der war eingebunden in einer internationalen Systemauseinandersetzung, nach dem Zweiten Weltkrieg gerne als Kalter Krieg umschrieben. In dieser Auseinandersetzung haben die Feinde des Sozialismus nichts unversucht gelassen, den Eingriff in die „gottgewollte“ Ordnung des Arm und Reich, des Oben und Unten wieder rückgängig zu machen. Genauso wie die radikale Linke mit mehr oder weniger Geschick für die Ausgebeuteten und Unterdrückten Partei ergriff.
In diesem Klassenkampf schenkte sich keine Seite etwas, es war für die Linke allzeit ein Kampf für eine gerechtere, sozialere, demokratische Welt. Die Verteidiger der bestehenden kapitalistischen Ordnung wussten um ihren sozialen Untergang und haben sich stets gewehrt, noch öfter angegriffen. Ob in den Berliner Märzkämpfen 1848, ob an der Mauer der Füsilierten zu Zeiten der Pariser Kommune 1871, ob auf den Goldfeldern an der Lena 1913 oder in den Revolutionen und der revolutionären Nachkriegskrisen nach dem Ersten Weltkrieg, ob im Triumphzug des Faschismus mit seiner Blutspur bis hin zu den US-geführten Attacken gegen Mossadeghs Iran 1953 oder den vietnamesischen oder kubanischen Freiheitskampf… Mord, Knüppelattacken, Gefängnishaft, Streikbrecher, Krieg und Putsch, Korruption oder das Erdrücken mit Wirtschaftsmacht, Individualisierung und Leugnung jeglicher Alternativen dank TINA – der Klassenkampf, die Systemauseinandersetzung hatte viele Gesichter und die Linke war zu selten selbst in der Offensive.
Diese politischen Auseinandersetzungen wurden um die Macht geführt, um den als alleine bestimmend angesehenen Griff nach den Hebeln des Staates und seiner diversen Apparate. Mittels dieses Staates sollte Gesellschaft gestaltet, entwickelt, verbessert und in einer fernen Zukunft dieser Staat selbst überflüssig gemacht werden. Die Staatsmacht sollte aber vor jedem Zurückdrehen der Entwicklung schützen und tatsächliche Angriffe abwehren. Obwohl die Grenze dieses Ansatzes verstanden wurde, auch die radikale Linke bereit war, alternative, basisdemokratische Machtstrukturen – Stichwort: Räte, Sowjets – in diesem Machtkampf einzusetzen, blieb es ein über Partei- und politische Lagergrenzen hinweg gemeinsames Verständnis von Macht und der Rolle des Staates. Das verband Kommunisten, Sozialdemokraten, die gegnerischen bürgerlichen Kräfte. Dazu gehörte ebenso die Erkenntnis, dass jenseits aller sozialen Bewegungen, Basisdemokratien und von spontanem Handeln der Massen von unten nur Parteien jene Organisationsform darstellten und darstellen, die für den Machtkampf taugten. Hinsichtlich der Bereitschaft, sich in diesem Machtkampf Regeln, Gesetzen, Legislaturperioden oder Koalitionen zu unterwerfen oder diese auszuhebeln unterscheiden sich die politischen Kräfte.
Gerade darum korrespondiert der „Stalinismus im weiten Sinne“ als Strukturmerkmal des Realsozialismus mit Zentralisierung, Disziplinierung, Partei- und Massenmobilisierung eng mit jeder anderen Parteiformation. Er verkörpert die Erfordernisse und Grenzen moderner politischer Machtorganisation. Nicht nur ein Schönheitsmakel: Der eigentliche linke Anspruch sollte die Aufhebung der Macht sein, sollte die breite, umfassende, die basisdemokratische Organisierung von Macht als Regelung der gesellschaftlichen Verhältnisse sein. Linke Strategien müssten also in diesem Ordnungsrahmen operieren und die neuen Elemente integrieren. Eine der vielen Antinomien linker Politik, unlösbarer Widersprüche, die in ihren konfliktären Seiten stets und ständig neu ausgehandelt und justiert werden müssen.

Entstalinisierung, Krisen, Neuanfänge

Über „Stalinismus“ und die Auseinandersetzung mit ihm zu reden heißt aber auch über die „Entstalinisierung“, die dadurch entstandenen Krisen zu reden. Ein Niedergang des „Stalinismus“ an sich ist nicht zu bedauern, sondern war historisch ebenso unvermeidlich wie notwendig. Diese bittere Lektion haben kommunistische Parteien spätestens 1989/91 lernen müssen. Mit Terror und Repression, auch in ihren abgeschwächten Formen, war kein Sozialismus zu machen. Der Bruch mit dem „Stalinismus als System“ im Sinne der Überzentralisation, der Allmacht und dem Allwissen der Partei und ihrer Führer, dem repressiven Sicherheitssystem war unausweichlich, wollten Linke wieder Sozialisten oder Kommunisten werden.
Die Aufhebung von politischer Macht, Machtstrukturen, Parteien ist für die Linken wie jede andere demokratische Kraft weit schwieriger und liegt – auch das muss nüchtern gesagt werden – nicht in einem näheren Zeithorizont. Diese Schwierigkeit ist zu oft übersehen worden und wird es bis heute, wenn es um die offenbar unverzichtbaren, nicht missbrauchten, nicht überzogenen Strukturen politischer Organisiertheit und Organisationen wie Parteien und Staat geht. Von Marx herkommendes linkes Denken hatte genau dies begriffen. Ohne den Blick auf die politische Macht und die notwendigen, weit komplexeren Wege zur politischen und geistigen Hegemonie kann keine Gesellschaft verändert werden. Die Risiken und Gefahren eines Staatssozialismus oder Staatskapitalismus unter kommunistischen wie sozialdemokratischen Regierungen haben linke politische Modelle nachhaltig bewiesen. Leider hatten ebenso wenig die Ansätze berechtigter Kritik, praktizierter basisdemokratischer, rätedemokratischer, anarchistischer Alternativen dauerhaft Erfolg. Das betrifft Kommunen, Kibbuze, besetzte Fabriken oder neue soziale Bewegungen von New Utopia über russische Revolutionserfahrungen, Spanischen Bürgerkrieg, antifaschistische Nachkriegsinitiativen, 1968er-Bewegungen und Strukturen bis zu selbstbestimmten Lebensformen nach dem Muster des Kopenhagener Stadtteils Christiania. Letztlich blieben sie in eine feindliche Umwelt eingebunden und verloren mehr oder minder ihren emanzipatorischen Anspruch. Für sich, für die Individuen erfolgreich konnten sie Gesellschaften nicht umkrempeln.
Die großen Entstalinisierungswellen und -krisen nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 (eigentlich schon 1953 in DDR und CSR) insbesondere in Ungarn, die Studentenbewegungen um 1968 (die allerdings gleichermaßen die stalinistisch verhärteten kommunistischen Parteien – mit aller Inkonsequenz, wenn zum Beispiel an die neu entstehenden, weit dogmatischeren und sektiererischen K-Gruppen in der BRD und terroristische Gruppen von RAF bis Weatherman erinnert werden muss – und die sozialdemokratischen reformistischen und durchaus negativ gemeinten Kräfte attackierte –; schließlich die „Wende“ der ausgehenden 1980er Jahre. Sie alle führten zu staatlichen, auch zwischenstaatlichen und internationalen Erschütterungen, schwächten die kommunistischen Parteien – ohne allerdings dauerhaft anderen linken Formationen zu einer Renaissance zu verhelfen oder neue soziale Bewegungen als Linke zu etablieren. Schließlich erschütterten diese Krisen die Blockkonfrontation mit dem letztlichen Ergebnis, dass sie mit dem Niedergang des Realsozialismus dem hegemonialen Projekt der bürgerlichen Gegenseite seinen Durchbruch ermöglichten: Eine Vorherrschaft des US-Imperialismus als „Ende der Geschichte“, einem Triumph des neoliberal und antidemokratischen gewendeten Kapitalismus, in dem jeder „Sozialismus“ nur noch als Teufelswerk ausgerottet bleiben soll.

Neue Irrwege und Sackgassen?

Die Linke, das sei noch einmal gesagt, steckt heute in der Krise und verkörpert in den Augen der Unzufriedenen der Gesellschaften nicht mehr die radikale antikapitalistische Alternative, die Kraft, die bereit ist, für ihre Überzeugung zu kämpfen, ins Gefängnis zu gehen oder gar auf die Barrikade. Was von dieser einstigen Linke übrig geblieben ist – gewendete Postkommunisten, Sozialdemokraten oder Grüne – all sie haben sich offenbar arrangiert. Sie genießen Staatsknete, sind nur noch verbal gegen die bestehende Ordnung und Kompromissen zugeneigt. Selbst die Nachfolger der einst so radikalen Kommunisten pflegen eher einen Pippi-Langstrumpf-Sozialismus, in dem sie sich die Welt – die gewesene wie die heutige und die künftige – so machen, genauer denken, wie sie ihnen gefällt. Ihren Platz nehmen nationalistische, fundamentalistisch-religiöse Kräfte ein. Eine bittere Bilanz!
Die notwendige Kritik an stalinistischer Repression und undemokratischen Strukturen hat dazu geführt, dass generell Skepsis gegen politische Organisiertheit, gegen Disziplin und Geschlossenheit, gegen eine Machtorientierung jenseits bloßer Regierungsbeteiligung herausgekommen ist. Solange Linke um ihr politisches Überleben, um die Verteidigung der eigenen Vergangenheit, um die Verteidigung des Realsozialismus gerungen haben, konnte ein solches Lernen aus der Geschichte, eine solche radikale Selbstkritik Basis für ein Bewahren des Linksseins darstellen. Verbundenheit mit sozialistischen Ideen, Mitleid, vor allem Wut halfen linken Parteien, ebenso das Alltags-Kümmern. Diese Effekte greifen immer weniger. Eine Generation weiter, nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus und mitten in einer Krise des neoliberalen Kapitalismus wirkt dies nur noch wie ein Sozialismus light: Wir sind gegen den Kapitalismus, aber wir wollen ihn als Linke mitgestalten, um ihn freundlicher zu machen.
Die heutige Krise des Kapitalismus hat vielfältigere Formen als in der Vergangenheit. Linke Parteien als Korrektoren, als kleineres Übel zu wählen wird für viele potentielle Wähler und die noch größere Anzahl von Wahlverweigerern unattraktiv. Sie wollen klare Kante, Prinzipientreue, das Berücksichtigen ihrer oft diffusen Ängste und Sorgen. Vermeintliche Antworten finden sie nicht bei den etablierten Parteien, zu denen mittlerweile auch die gewendeten Linksparteien gehören. Sie finden diese Antworten im dumpfen nationalistischen Geraune, in Verbalradikalität, in einer Ersatzgemeinschaftlichkeit von Nationen oder Religionen. Eine Herausforderung an Linke, die auch etwas mit einem konstruktiven Umgang mit der eigenen Geschichte, ihren Irrwegen, Sackgassen und Verbrechen, aber ebenso auch mit den Leistungen und versuchten Elementen einer neuen Gesellschaft zu tun hat. Ob es manchem geläuterten wahren Sozialisten gefällt oder nicht: Linke werden mit dieser Geschichte identifiziert. Abschwören hilft da wenig. Eher die schonungslose Analyse und die Bereitschaft zu einem dialektischen Aufheben dieser Vergangenheit mit Schlussfolgerungen, wie eine neue Gesellschaft demokratisch errichtet werden kann, mit stabilen Mehrheiten und aktivem Mittun derjenigen, die diese Gesellschaft ausmachen.
Als antistalinistische Parteien und Bewegungen müssen sich Linke immer wieder neu erfinden. Sie müssen aus der Vergangenheit sicher lernen, sie müssen aber diese Vergangenheit mit ihren Fehlentwicklungen auch historisieren. Nicht um sie zu rechtfertigen, aber um sie zu begreifen. Sie werden dabei auch zur Kenntnis nehmen, dass die meisten Rahmenbedingungen, die damals wirkten, auch heute jede gesellschaftliche Alternative begleiten: Der Wiederstand der bislang Herrschenden und Besitzenden, die imperialistische Bedrohung von außen, die Schwierigkeiten einer jeden Ökonomie, die Zwänge und Erwartungen von Lebensweisen und Konsumtionsmodellen jenseits der eigenen Gesellschaft, der Druck hin zu einer individualisiert-egoistischen Gesellschaft, die schwierige umfassende Demokratisierung. Versuche gab es bislang viele, aber keine Patentrezepte. Wir ahnen, was nicht geht, alles andere muss Tag für Tag neu gewonnen werden.

Aus: Karl-Heinz Gräfe: Chruschtschows „Geheimrede“ auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956. Mit Anmerkungen zu linkem Selbstverständnis, Stalinismus, Macht und den Anforderungen der Gegenwart von Stefan Bollinger. Pankower Vorträge. Heft 199, „Helle Panke“ e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, Berlin 2016.