19. Jahrgang | Nummer 5 | 29. Februar 2016

Deutsches Menetekel

von Günter Hayn

Die Fassungslosigkeit über die nicht mehr zu kaschierenden Zustände im Musterländchen der Wiedervereinigung war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Das zdf-Gewissen der Nation, Claus Kleber, war tief erschüttert: Sachsen sei so ein „stolzes Land“ – das sagte er wirklich – und dass ausgerechnet in Sachsen, also im Osten der Bundesrepublik, doppelt so viele fremdenfeindliche Straftaten begangen würden, das wisse man zwar, aber zu verstehen sei das kaum. Wenige Minuten später konnte man es verstehen. In denen war ein zwischen Hilflosigkeit und Wirklichkeitsverweigerung herumstolpernder Stanislaw Tillich zu erleben. Offiziell ist der Mann Ministerpräsident, im heute journal gab er an jenem Abend die Partie des Hanswurst. Kleber befragte ihn, ob der Ministerpräsident nicht möglicherweise in der Vergangenheit mit islamfeindlichen Äußerungen den inzwischen in der extremen rechten Ecke angelandeten PEGIDA-Anhängern Vorschub geleistet habe. Tillich: „Ich glaube, dass wir eine sachliche Debatte brauchen. […] Wir haben in der Vergangenheit eine Debatte erlebt, in der es auch sehr unsachlich zugegangen ist, da ging es in Stuttgart um einen Bahnhof.“ Er schob noch eine Kohle nach und ermunterte kräftig die rechtslastigen Wahlkämpfer: „Man darf und muss auch mit Wahlen zum Ausdruck bringen, welche Politik man vertreten haben möchte.“ Und mit den dann Gewählten müsse man im politischen Raum den Dialog führen… Stanislaw Tillich darf sich getrost auf den „Dialog“ mit NPD (5 Prozent) und AfD (13 Prozent) im Plenarsaal des Landtages einstellen. Das sind allerdings Umfragewerte vom 16. September 2015. Neuere für den Freistaat zu erheben hat sich offenbar keiner mehr getraut, vielleicht sind die aber auch nur wie in der DDR Verschlusssache. Die SPD, Tillichs Koalitionspartner, lag im vergangenen Herbst übrigens gleichauf mit der AfD. Das dürfte sich zugunsten Letzterer geändert haben. Die inzwischen Jahrzehnte andauernde Tradition der Verharmlosung rechtsextremen Denkens und Handelns durch die CDU im Freistaat, die versächselte Billig-Kopie des bajuwarischen „Mir san mir!“ hat hochgiftige Früchte zum Reifen gebracht.
In Sachsen-Anhalt – hier wird am 13. März gewählt – zog die AfD mit 17 Prozent (!) in der jüngsten INSA-Umfrage an der SPD vorbei, die demnach nur noch auf etwa 16 Prozent der Stimmen kommen wird. Die AfD wäre damit die drittstärkste Kraft im Landtag; unangefochten liegt nur die CDU mit 30 Prozent vorn, die LINKE folgt mit 21. Die Grünen spielen gar keine Rolle mehr. Die Wahlstrategen der großen „Alt-Parteien“ machen sich mit zwei Ausreden Mut: INSA sei eine noch recht unerfahrene Agentur, und Umfragewerte seien noch keine Wahlergebnisse. Stimmt. Pessimistische Kenner des „Landes der Frühaufsteher“ orakeln, dass die AfD durchaus auf Platz zwei landen könnte. Mit einer überwiegend peinlichen Wulf-Gallert-Kampagne (absoluter Tiefpunkt waren seine „Frauenversteher“-Wahlplakate) leisten die Sozialisten den Rechtspopulisten tatkräftige Schützenhilfe. Die NPD spielt in Sachsen-Anhalt derzeit nur eine untergeordnete Rolle.
Auch in Thüringen konnte die AfD nach den Wahlen vom 14. September 2014 um gute drei Prozentpunkte auf 13,5 Prozent zulegen. Die CDU blieb stabil, SPD und Grüne konnten jeweils etwa zwei Prozent dazugewinnen, DIE LINKE verlor 1,2 Prozent – das heißt, die AfD konnte offenbar Nichtwähler für sich gewinnen und Nazi-Sympathisanten an sich binden. Dass hier offensichtlich eine auf längere Dauer angelegte Sammlungsstrategie vorliegt, hätte spätestens Ende 2014 in der Erfurter Staatskanzlei bemerkt werden können. Seinerzeit wurden die engen Verbindungen Björn Höckes zum Antaios-Verlag und dem „Institut für Staatspolitik“ ruchbar. Die Thüringische Landeszeitung veröffentlichte die zitierten Umfragewerte zwei Tage, nachdem der AfD-Landesvorsitzende Höcke vor dem Erfurter Dom die Kanzlerin beschimpft hatte: „Merkel hat den Verstand verloren, sie muss in den politischen Ruhestand geschickt werden oder in einer Zwangsjacke aus dem Bundeskanzleramt abgeführt werden.“ So etwas wirkt. Dieser Tage zitierte die F.A.Z. den Mannheimer Demoskopen Mathias Jung. Der hatte die Strategie der AfD-Bundeschefin Frauke Petry analysiert: „Sie ist sehr monothematisch und sehr klar, sie verwirrt die Leute nicht mit mehreren Themen. Die Strategie von Frau Petry ist also die richtige, um mit der Brechstange Wähler einzufangen.“
Claus Kleber und die omnipräsenten Talkshow-Dauerkommentierer irren allerdings, wenn sie meinen, dies alles sei ein alleiniges Ost-Problem. Die gewaltgierigen Schreihälse aus dem sächsischen Erzgebirge sind nur die Spitze des Eisberges. Und wenn der Staat die ihm zu Gebote stehenden Werkzeuge nachdrücklicher anwendete, würden sie zurückweichen. Noch jedenfalls. Entschieden gefährlicher sind die, die sich nicht an den Krawallen beteiligen, aber sie billigen, stillschweigend begrüßen und meinen, man müsse es „denen da oben“ mal zeigen. So wie Ministerpräsident Tillich es ihnen nahelegte: friedlich, an der Wahlurne. Sitzen die Hoffnungsträger des rechten Protestes erst einmal in ausreichender Zahl in den Parlamenten, können sie allemal die Anwendung ebendieser staatlichen Instrumente gegen ihre Klientel blockieren. Auch dafür gibt es historische und in der unmittelbaren Nachbarschaft unseres Landes zeitgenössische Vorbilder. Und wieso sage ich nur des „rechten“ Protestes? Dieser Tage erklärte mir ein Linksparteimitglied, man müsse doch eigentlich mal AfD wählen, so als Zeichen…
Selbst im von politischen Turbulenzen vergleichsweise verschonten Nordrhein-Westfalen – dort wird erst im Frühjahr 2017 gewählt – liegt die Populistenpartei vom rechten Rand inzwischen bei zehn Prozent und hat die Linken, FDP (jeweils 7 Prozent) und Grüne (9 Prozent) locker überholt. In Rheinland-Pfalz (8,5 Prozent) und Baden-Württemberg (10 Prozent) – in beiden Bundesländern werden am 13. März die Landtage gewählt – droht die AfD die bisherigen Koalitionsspiele der „Großen“ zu verunmöglichen. Das wäre – um ein regionales Bild zu gebrauchen – eine erfolgreiche Lese im Weinberg einer „Protestpartei“ und hätte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erdrutschartige Wirkungen auf den „Rest“ der Republik. In den aktuellen Wahlumfragen auf Bundesebene hat die AfD bereits jetzt schon bei den Daten der meisten Meinungsforschungsinstitute die Linkspartei und die Grünen hinter sich gelassen und rangiert nach CDU/CSU und der SPD auf dem dritten Platz der Wählergunst. Zweistellig und nicht als einmaliger „Ausreißer“, sondern kontinuierlich anwachsend seit Beginn des Jahres 2016. Übrigens wird sie von ihren Anhängern offenbar nicht mehr als FDP-Ersatz gehandelt, Thüringen scheint da keine Sonderrolle zu spielen, – auch den Liberalen gelänge derzeit wahrscheinlich der Wiedereinzug in den Deutschen Bundestag. Offenbar meint das rechtsanfällige Drittel der deutschen Bevölkerung, auf das Sozial- und Politikwissenschaftler schon seit langem hinweisen, die salonfähige politische Plattform gefunden zu haben, die ihm die offenen Nazi-Parteien mit ihrem braunen Schmuddelimage bislang nicht boten.
Sieht man sich die zitierten Umfragewerte und das diffuse Weltbild, das dahintersteckt, etwas genauer an, so wird man unwillkürlich an ein Geschehnis erinnert, das sich im Buch Daniel des Alten Testamentes findet. Dort wird im fünften Kapitel das Gastmahl des Königs Belsazar von Babylon beschrieben. Dieser schmäht volltrunken während eines rauschenden Festes den Jahwe. Da erscheint plötzlich eine rätselhafte Schrift an der Wand: „Mene mene tekel u-parsin“. Nur der Prophet Daniel kann dem Belsazar das aramäische Wortspiel übersetzen und deuten. „Gezählt – Gewogen – Zerteilt“ – das war die Ankündigung des Unterganges des babylonischen Reiches. Belsazar wurde noch in derselben Nacht umgebracht.
Am 24. Februar diskutierten die Fraktionen des Bundestages in der Aktuellen Stunde die jüngsten sächsischen Geschehnisse. Auf der Regierungsbank fehlte die Kanzlerin, nicht eine einzige Ministerin, nicht ein einziger Minister war anwesend. Dabei müsste dieses Kabinett über eine gewisse Bibelfestigkeit verfügen. Wir haben allesamt gute Gründe, um die Zukunft unseres Gemeinwesens besorgt zu sein.