18. Jahrgang | Nummer 24 | 23. November 2015

Schwierigkeiten mit dem Feindbild

von Waldemar Landsberger

Zu der Demonstration der Alternative für Deutschland (AfD) in Berlin am 7. November waren alles in allem wohl doch 5.000 Teilnehmer gekommen, so wie es die Organisatoren angemeldet hatten. Zunächst schien zu bezweifeln gewesen sein, dass so viele kommen. Gegendemonstranten hat es nach Angaben der Polizei etwa 1.100 gegeben. Obwohl alle Parteien, die im Berliner Abgeordnetenhaus vertreten sind, also SPD, CDU, Grüne, Linke und Piraten – die gibt es auch noch – sowie die Gewerkschaften dazu aufgerufen hatten. Das war, genau betrachtet, das erste Mal, dass CDU und Linke zu derselben Demonstration aufgerufen hatten. So etwas hatten die Christdemokraten stets zu vermeiden gewusst. Aber was bedeutet diese Symbolik eigentlich mehr, als dass diese Parteien den Kartellcharakter ihres Wirkens bestätigten? Genau das hatte die AfD den vier Bundestagsparteien (die CSU sei hier mit der CDU in eins gesetzt) unter anderem in der Flüchtlingsfrage gerade vorgeworfen.
Die Bilder von Teilnehmern der AfD-Demonstration zeigten überwiegend ältere Leute, eine Frau am Stock, jüngere Männer mit Kindern auf der Schulter. Das sollen die neuen Nazis gewesen sein? Am Rande der Demonstration schrien junge Antifas „Nazis raus“; Teilnehmer der AfD-Demonstration drehten sich um, zeigten mit dem Finger auf die Rufenden und riefen zurück: „Nazis raus“. Ein Reporter fragt: „Wer sind denn hier die Nazis?“ Junge Mädchen schreien eine Oma an: „Nazis raus“. Die ruft zurück: „Alles Gute für Sie!“ Die Zeitung Die Welt – immer noch aus dem Hause Springer, und Friede Springer galt ja lange Zeit als mit Angela Merkel befreundet – nannte die AfD-Demo „ein riesengroßes Missverständnis“. Dazu hieß es: „Die ganze Veranstaltung scheint ein riesengroßes Missverständnis zu sein. Die verunsicherten Rentner, die ratlos Blumen in der Hand halten, sich unverstanden und verleumdet fühlen, haben mit den glatzköpfigen Nazis, gegen die die Gegenseite demonstriert, wenig gemein. Es scheint völlig unklar, wer für was genau steht, nur in einem Punkt scheinen sich alle erstaunlich einig: Etwas gerät außer Kontrolle, und die Politik scheint nicht imstande, Lösungen zu schaffen.“
Angesichts der Tatsache, dass die Losung der AfD-Demo war: „Rote Karte für Merkel – Asyl braucht Grenzen“ eine im Grunde erstaunliche Wendung: Die Zeitung räumt ein, dass der Regierung die Flüchtlingsentwicklung außer Kontrolle geraten ist, und bestätigt damit die Position der AfD. Umgekehrt Unsicherheit auch auf der Gegenseite. „Dafür, dass dort die ‘Gegenseite’ zur ‘Merkel muss weg’-Kundgebung stattfindet, sieht man erstaunlich wenige Punks mit ‘Merkel muss bleiben’-Postern. Dafür die üblichen Antifas, die üblichen ‘Haut ab’-Rufe, die üblichen Studierenden. Ständig sollen alle abhauen. Merkel, die AfD-Greise, alle sollen weg. […] Ansonsten ist die Gegendemo ein bisschen, als hätten die Enkel der Greise sturmfrei.“
Die Spielräume für die AfD als einer konservativen, rechtspopulistischen Partei ergeben sich auch deshalb, weil Teilen der Linken die Fähigkeit zur Differenzierung abhandenkam. An einer Hauswand in der Prenzlauer Allee in Berlin war seit März 2015 zu lesen: „Seid bereit gegen die Aggression der CDU!“ Was, bitte schön, ist denn „die Aggression der CDU“? Und wozu sollen die Angerufenen denn bereit sein? Autos abfackeln? Büros besprühen? Oder doch Steine werfen? Wenn CDU, AfD und NPD alles dasselbe sein sollen, aus einer solch vereinfachenden „linken“ Perspektive, dann gibt es natürlich keinen positiven Bezug in einer Demo, die sich gegen eine Demo richtet, deren Hauptforderung „Merkel muss weg“ lautet. Deshalb auch keine Poster „Merkel soll bleiben“, sondern ein „Haut ab!“ für alle, die nicht links sind im Sinne dieser „Linken“.
Es fehlt die Fähigkeit, zwischen einer konservativen, einer rechtspopulistischen und einer Nazi-Partei zu unterscheiden. Mit der Folge, dass man eine alte Oma, die bei der AfD aus Angst vor islamistischer Überwältigung für eine Kontrolle des Zuzugs und der Grenzen demonstriert, behandelt, als sei sie die Buhlerin der rechten Glatzen.
Die zweite Unfähigkeit zu differenzieren zeigt sich in der Gleichsetzung von historischem Nationalsozialismus mit seinem mörderischen Rassismus, der Verantwortung für Judenvernichtung und Aggressionskrieg und den dumpfen Nazischlägern von nebenan. „Wehret den Anfängen“, lautet die Devise. Sie stellt den primitiven Gewaltmenschen von heute in eine Reihe mit jenen perfiden Meistern des Todes, die den industriell organisierten Mord an Millionen Menschen durch den NS-Staat organisiert hatten. Folgerichtig wird dieser Schläger bekämpft, als sei er der Wiedergänger Hitlers oder Himmlers. So wird die Neonazi-Gefahr von heute unter Anrufung der Geschichte ins Monströse vergrößert.
Das verstärkt sich noch, wenn die selbsternannten linken Tugendwächter über eine systematische Halbbildung verfügen. Dann stellen sie sich in eine vulgarisierte Tradition Kritischer Theorie, wonach Ideologiekritik das höchste Stadium der Gesellschaftskritik ist. Und da es natürlich viel leichter ist, Sprache zu analysieren als die Gesellschaft, werden die Sprüche, Losungen und Texte der einstmaligen NSDAP, der NPD und der AfD nebeneinander oder übereinander gelegt, um dann festzustellen: Das ist alles dieselbe braune Soße. So verschwindet völlig aus dem Blickfeld, dass 1918 und 1933, erst recht 1939 das deutsche Großkapital in seiner entscheidenden Mehrheit den Revanchekrieg zwecks Eroberung Europas mit Entschlossenheit wollte, während es sich heute in der Hegemoniestellung innerhalb der EU und in einem speziellen Verhältnis zu den USA, das zwischen Junior-Partnerschaft und Konkurrenz auf Augenhöhe changiert, kommod eingerichtet hat. Dabei stören die inländischen Nazis nur. Zudem ist in den siebzig Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg eine starke Zivilgesellschaft entstanden, die nicht nur Krieg, sondern überhaupt Militäreinsätze mit deutschen Truppen mehrheitlich ablehnt.
Die vierte Unfähigkeit zur Differenzierung kommt in der Selbsttäuschung zum Ausdruck, die Linke, gar vor allem die jugendliche Antifa-Linke sich als den entscheidenden Vorkämpfer gegen einen angeblich neuerlich heraufziehenden Nationalsozialismus zu verstehen, der oft einsam und allein gegen die große Gefahr kämpfen muss. Das führt zu einer Übersteigerung der eigenen Rolle, die oft in eine Selbstermächtigung zu eigener Gewaltanwendung mündet, auch gegen Polizisten und Polizeieinrichtungen, weil die und die Konservativen als klammheimliche Verbündete und Förderer der Neonazis halluziniert werden.
Antifaschismus ist tatsächlich von der Sache her sehr breit. Er schließt alle anti- oder zumindest nichtfaschistischen bürgerlichen Kräfte, konservative Kirchenmenschen, die Sozialdemokratie und viele andere mit ein. Die Konfliktlinie in der Gesellschaft ist eine andere, wenn es gegen den Faschismus, als wenn es für einen Sozialismus geht. Der alte Satz von Franz Josef Strauß, den Horst Seehofer verschiedentlich wiederholt hat, es dürfe rechts der Christdemokratie keine relevante Partei geben, ist nicht Ausdruck von Komplizenschaft, sondern eine Kampfansage.
Zu deren Voraussetzungen gehört jedoch, dass der Regierung die Verhältnisse nicht aus dem Ruder laufen. Die traditionell starke Position der Christdemokratie in der bundesdeutschen Gesellschaft ergab sich zuerst daraus, dass sie die Partei der Ordnung war. Wenn die Regierungschefin aber Unordnung veranlasst, sinkt der Stern der Christdemokratie. Und der der AfD steigt. Im Grunde unverdient.
Aber die Linke kann auf all das nur dann wirklich sinnvoll und politisch klug reagieren, wenn sie es versteht. Ohne selbstverschuldete Scheuklappen.