18. Jahrgang | Nummer 11 | 25. Mai 2015

Die Mühen der schiefen Ebene oder Die Toten auf der Gegenschräge

von Erik Baron

Für Peter Hacks war Walter Ulbricht die Idealbesetzung eines sozialistischen Monarchen, ein staatspolitisches Genie. Und wie es sich für einen erfolgreichen Monarchen gehört, sei Ulbricht „in den letzten Jahren bei der Bevölkerung und besonders bei den einfachen Parteimitgliedern ungemein populär“ gewesen, vertraute Hacks im März 1971 seinem Freund André Müller an. Drei Jahre zuvor meinte Hacks im Zusammenhang mit seinem Königsdrama „Prexaspes“, „auf Ulbricht könne nur Ulbricht folgen. Somit begann für ihn mit Ulbrichts Sturz im schicksalhaften Jahr 1971 der schleichende Untergang der DDR.
Als Außenstehender ist man geneigt, solcherlei Bemerkungen für die Provinzposse eines überdrehten Dichters zu halten, der unter Wahrnehmungsstörungen litt. Doch bekanntlich soll man, auch als Außenstehender, vorsichtig mit Steinen umgehen – die eigene Realität könnte sich als Glashaus erweisen.
Gunnar Decker, bekannt durch Biografien Franz Fühmanns, Georg Trakls, Gottfried Benns oder zuletzt Hermann Hesses, hat sich nun jener DDR-Realität der 60er Jahre angenähert, die durch den gravierenden Einschnitt des Ulbricht-Sturzes durch Honecker gekennzeichnet ist. Denn die eigentliche Machtübernahme im Jahr 1971 hatte ein Vorspiel, das seinen Kulminationspunkt im Jahr 1965 erlebte und bisher historisch nicht gesondert betrachtet wurde. Diese Pionierarbeit hat Decker, selbst Jahrgang 1965, mit seiner Abhandlung über den „kurzen Sommer der DDR“ geleistet.
Zur „Halbzeit zwischen 1961 und 1968… ist noch offen, wohin die Reise geht“, beginnt Decker seine Zeitreise in jenes Schicksalsjahr, in dem im Dezember auf dem 11. Plenum des ZK der SED die Weichen neu gestellt werden und das Ende der DDR eingeläutet wird. Ein Wirtschaftsplenum sollte es werden, ein Abrechnungstribunal gegen Kunst und Literatur wurde es.  Dass es letztlich doch ein Wirtschaftsplenum war, auf dem mittels Kultur- und Jugendpolitik ein Stellvertreterkrieg ausgetragen wurde, hat Decker in seiner Monografie verdeutlicht. Diesen Zusammenhang zwischen Ökonomie und Kulturpolitik (man könnte auch sagen: zwischen Basis und Überbau) hergestellt zu haben, ist sein großes Verdienst. Denn bisher galt das Dezemberplenum gemeinhin als Kahlschlag gegen Kunst und Literatur, was es vordergründig durchaus war, aber hinter den Kulissen ging es um größere Zusammenhänge, die sich letztlich in einem intriganten Machtspiel entluden.
Nach dem Bau der Mauer wurden unter Ulbrichts Führung radikale Wirtschaftsreformen eingeleitet, um mit Hilfe zukunftsträchtiger Investitionen und einem am Markt orientierten Leistungsprinzip den DDR-Sozialismus attraktiv zu machen, auch auf die Gefahr hin, sich vom sowjetischen Modell abzugrenzen. Mit Nikita Chruschtschow hatte Ulbricht einen Gegenpart auf sowjetischer Seite, der ihn gewähren ließ. Arbeitsgruppen mit Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft sollten den Weg in Richtung Marktöffnung ebnen. Die Funktionärskaste aus dem politischen Apparat sah sich an die Wand gedrängt. Die Aufbruchstimmung in der Wirtschaft ging einher mit einer offenen Diskussion ökonomischer, aber eben auch politischer Probleme. Ulbricht initiierte (am FDJ-Chef Honecker vorbei) ein Jugendkommuniqué gegen Gängelei, Heuchelei, Verbote und Bestrafungen. Frischer Wind schien durch die Gesellschaft zu wehen. Und die Jugend nahm den Spielball dankend auf. Stephan Hermlins Lyrik-Anthologie und die öffentliche Lesung aus diesen Texten in der Akademie der Künste im Dezember 1962 waren der Startschuss für einen kritisch-engagierten Umgang mit der Gegenwart. „Fragen statt Antworten, Wissen statt Glauben“, fasst Decker den Tenor dieser Veranstaltung zusammen. Der Bitterfelder Weg wurde völlig neu begriffen und begangen. In der Folge entstand jene DDR-Literatur, die Bestand haben wird und die ohne diesen Bitterfelder Weg nicht zustande gekommen wäre, von Strittmatters „Ole Bienkopp“, Reimanns „Franziska Linkerhand“ über Wolfs „Geteilten Himmel“ bis hin zu Bräunigs „Rummelplatz“.
Naheliegend, dass der neue, kritische Ton, die eigenen gesellschaftlichen Probleme betreffend, nicht überall auf Gegenliebe stieß. Man witterte hinter solcherart Skeptizismus den Klassenfeind im Trojanischen Pferd einfallen. Und das alles nur wegen Ulbrichts NÖSPL (Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung)! Aber aus Moskau wehte seit dem Herbst 1964 auch wieder ein anderer Wind: Chruschtschow wurde durch Leonid Breshnew abgelöst, in dessen Windschatten kehrte Stalin durch die Hintertür zurück! Das musste sich auch auf die Wirtschaftsbeziehungen zur DDR auswirken!  Anfang Dezember 1965 sollte ein Wirtschaftsabkommen unterzeichnet werden, in dem die DDR wieder als billiger Zulieferer für die UdSSR festgeschrieben werden sollte. Am Tag der Unterzeichnung, am 3. Dezember, erschoss sich Erich Apel, Chef der Staatlichen Plankommission, in seinem Dienstzimmer. So zumindest lautete die offizielle Version. Decker beschreibt Ungereimtheiten, die an dieser Version zweifeln lassen – spannend wie einen Wirtschaftskrimi. Nicht ausgeschlossen, dass Apel beiseite geräumt wurde. Er hatte vehement Widerstand gegen den unfairen Vertrag angemeldet, was Breshnews Unmut hervorrief. Er gab Ulbricht zu verstehen, mit Apel nicht mehr verhandeln zu wollen. Statt seiner sprang dessen Mitarbeiter Günter Mittag in die Bresche. Der Kampf der Reformer gegen die Dogmatiker war nun vollends ausgebrochen.
Doch wie lässt sich der erste Mann im Staate von seinen liberalen Wirtschaftsreformen abbringen, ohne dass man ihn gleich stürzt? Hier kommt sie, die Stunde Honeckers, der mithilfe der Kulturpolitik einen Stellvertreterkrieg gegen Ulbricht führt und ihn in die Klassenkampf-Falle tappen lässt. Denn Ulbricht, das weiß Honecker, ist als Kultur- und Kunstdogmatiker wertkonservativ und lässt sich auf diesem Feld am ehesten einbinden! Ein cleverer Schachzug der Intriganten, Ulbricht am eigenen Ast mitsägen zu lassen, wenn er aus innerster Überzeugung gegen modernistische Kunst und literarischen Auswüchse polemisiert! Und mit Alexander Abusch und Alfred Kurella weiß Honecker beißwütige Gesellen hinter sich, die die Stalinsche These von der Verschärfung des Klassenkampfes innerhalb des sozialistischen Systems wieder aufleben lassen. Mit seinem Rundumschlag gegen den Kulturbetrieb schlug Honecker die Künstler und Literaten, meinte aber Ulbricht und den ökonomischen Reformkurs. „Honecker hat es geschafft, Ulbricht wie ein geschickter Torero das rote Tuch hinzuhalten, auf das der nun wie ein wild gewordener Stier zustürzt“, schreibt Decker. Das Tragische an der Figur Ulbricht: Als Wirtschaftsreformer begriff er nicht, dass er auf die Unterstützung von Kunst und Literatur setzen musste. Stattdessen ließ er sich von Honecker vor den Blockade-Karren spannen. „Ulbricht und Biermann ziehen an einem Strang, nur weiß Biermann das nicht“, zitiert Decker seinen Kollegen Friedrich Dieckmann. Ulbricht aber eben auch nicht!, muss man hinzufügen. So verliert er den Machtkampf um einen demokratischen Sozialismus, der eben auch auf ökonomischem Feld begonnen hatte. Denn Ulbricht hatte nicht vergessen, dass auch im Sozialismus ökonomische Gesetze gelten, die man nicht per Beschluss außer Kraft setzen kann, wie es sein Nachfolger Honecker tun wird.
Die Frage war und bleibt, inwieweit Ulbrichts Wirtschaftsreform geeignet gewesen wäre, den Sozialismus in der DDR voranzubringen. Die hypothetische Antwort gibt Decker: nur wenn sie begleitet worden wäre von kritischer Offenheit und Publizität in Medien, Kunst und Kultur. Das jedoch wurde auch durch Ulbricht selbst auf dem Dezemberplenum verhindert. Ulbricht war nicht Gorbatschow, und der kam zwanzig Jahre zu spät! Ein hypothetischer Grundgedanke Deckers: Hätte sich Ulbricht Mitte der 60er Jahre durchsetzen können und gemeinsam mit dem Prager Frühling 1968 den Sozialismus attraktiv gemacht, wäre es einerseits Moskau nicht so leicht gefallen, Panzer gen Osten zu schicken, und hätte es andererseits eine wesentlich höhere Strahlkraft Richtung Westen gehabt, der sich mitten in seiner 68er Revolte befand!
Welche intellektuelle Strahlkraft die DDR entfalten konnte, zeigt Decker auf seinen Exkursen durch Kunst und Literatur, in denen er Namen und Werke wiederauferstehen lässt, die diese Zeit maßgeblich prägten. Welch komfortable Situation für einen Staat, wenn sich nicht nur Künstler und Intellektuelle um gesellschaftliche Belange scheren, sondern auch Arbeiter und Bauern! Der Bitterfelder Weg hätte zum kreativen Brückenschlag zwischen Ökonomie und Kunst und zu einer gesamtgesellschaftlichen Angelegenheit werden können! Stattdessen wurde die Stalinsche Notbremse gezogen und die Gesellschaft einer Schocktherapie unterzogen. Vom Dezemberplenum 1965 hat sich die DDR nicht wieder erholt. Der kurze Sommer endete in einer dauerhaften Eiszeit.
An diesem historischen Abriss, den Decker als Triptychon (Der Aufstieg – Der Absturz – Die Trümmer) gestaltet, wird künftige Geschichtsschreibung nicht vorbeikommen. Wer die Geschichte der DDR nicht nur vom Ende her begreifen will, wer mehr als die abgedroschenen Floskeln von Diktatur und Unfreiheit hören, mehr von der Tragik eines Walter Ulbricht wissen will als dessen Satz vom nicht geplanten Mauerbau, der greife zu Deckers gut lesbarer Monografie! Dann erschließt sich einem auch die aristokratische und weltfremde (?) Sicht von Peter Hacks auf seinen Monarchen, dann relativiert sich auch das Feindbild Walter Ulbricht, das in Intellektuellenkreisen gemeinhin wahrgenommen wurde. Dann wird auch der Zusammenhang zwischen dem Sturz Ulbrichts, den Hacks als DDR-Königsmord zu betrachten pflegte, und der Müllerschen Sichtweise auf Hamlet/Maschine deutlich, die Decker als Epilog angehängt hat und mit Heiner Müllers Gedicht „Drama“ einleitet: „Die Toten warten auf der Gegenschräge. / Manchmal halten sie eine Hand ins Licht / Als lebten sie. Bis sie sich ganz zurückziehn / in ihr gewohntes Dunkel das uns blendet.“ Dieses Drama war auch das Drama der DDR.

Gunnar Decker: 1965: Der kurze Sommer der DDR, Carl Hanser Verlag, München 2015, 496 Seiten, 26 Euro.