von Wolfgang Schwarz
Unter der beinahe frohlockend anmutenden Überschrift „Atomwaffen wieder im Spiel“ stimmte ein Beitrag von Thomas Gutschker in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung seine Leser Ende Januar auf die bevorstehende Tagung der Nuclear Planning Group der NATO in Brüssel ein, die „sich gleich in ihrer ersten Sitzung damit beschäftigen“ werde, „wie Russland seine nuklearen Fähigkeiten – vor allem strategische Langstreckenbomber – zunehmend aggressiv auf Bündnismitglieder richtet“. Insbesondere ginge es um „das gewaltige Turboprop-Modell ‚Bear‘“, Tu-95H, das 2014 auch über der Ostsee, im Atlantik auf Höhe Portugals und vor Nordamerika auftauchte.
Langstreckenflüge mit diesem Modell, die in den 1990er Jahre eingestellt worden waren, führt Russland allerdings bereits seit 2007 wieder durch – und bewegt sich damit, wie die USA, in der aberwitzigen Abschreckungslogik der nuklearen Supermächte, im Englischen nicht umsonst mit der Abbreviation MAD (= verrückt) belegt: mutual assured destruction, Motto – „Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter!“. Denn solche Langstreckenflüge, und zwar ohne langjährige Unterbrechungen, gehören seit Mitte der 1950er Jahre zur Routine der US-Luftwaffe. Im Unterschied zu amerikanischen B-52-Bombern sind russische Maschinen bei internationalen Übungsflügen aber in der Regel zumindest nicht nuklear armiert. Von spektakulären russischen Abstürzen – vergleichbar dem einer B-52 beim grönländischen Thule am 21. Januar 1968, nach dem eine von vier mitgeführten Wasserstoffbomben nie wieder aufgefunden wurde, – ist nichts bekannt.
Die Tu-95H hatte ihren Erstflug übrigens 1952. Das Modell als veraltet einzustufen, dürfte daher keine Untertreibung sein. Warum Moskau, das mit seinen modernen Interkontinentalraketen jeden Punkt der Erde treffen könnte, ausgerechnet diese Oldtimer seit neustem auch wieder „im Herzen Europas“, wie Gutschker formulierte, in den Himmel schickt, bleibt sein Geheimnis. Bloßes infantiles oder pubertäres Muskelspiel mag man ja gar nicht unterstellen, denn wer dazu neigte, wozu neigte der gegebenenfalls vielleicht noch?
Dass Moskau damit allerdings jenen Hardlinern in Washington und in der NATO in die Hände spielt, die auf Konfrontation setzen und die die letzten 200 taktischen US-Kernwaffen (Bomben vom Typ B-61) auf europäischen Stützpunkten, darunter in Deutschland, auf jeden Fall beibehalten wollen, dürfte auf der Hand liegen. Für diese Systeme läuft in den USA schon seit Jahren ein Acht-Milliarden-Dollar-Modernisierungsprogramm. Und da die Tornados der Bundesluftwaffe, die diese Waffen im Falle des Falles ins Ziel tragen sollen, auch schon arg betagt sind, legen sich die USA jetzt ein eigenes Trägersystem dafür zu. Der Guardian vermeldete dieser Tage, das Pentagon-Budget 2015, vorgelegt am 2. Februar, enthalte auch Mittel, um „das teuerste Waffensystem der Geschichte, die F-35-Kampfflugzeugfamilie, in die Lage zu versetzen, Kernwaffen an Bord zu nehmen“. Nach Aussage von US-Experten sollen dafür 450 Millionen US-Dollar aufgewendet werden.
In der Zwischenzeit gehe es, so nochmals Gutschker, „darum, Russland Einhalt zu gebieten. Ein möglicher Weg wäre, bei der Luftraumüberwachung im Baltikum Kampfflugzeuge einzusetzen, die selbst nuklear bewaffnet werden können. Das beträfe auch die Bundeswehr: Sie könnte […] Tornados statt des Eurofighters […] schicken […].“ Diese Idee ist so einfältig, wie sie versimpelndes Eskalationsdenken widerspiegelt, dessen Adepten noch nie eine schlüssige Antwort auf die Frage geben konnten, was eigentlich passiert, wenn auf der anderen Seite auch nur derart schlichte Gemüter sitzen. Dann stationierte Moskau als Antwort seinerseits vielleicht nukleare Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander um Kaliningrad – mit einer Vorwarnzeit im niedrigen einstelligen Minutenbereich für jene Flugplätze, auf denen die Tornados stationiert wären… Schon für das derzeitige Konfrontationsniveau gilt, wovor Matthias Naß in der Zeit warnte: „Damit wächst die Gefahr einer unbeabsichtigten Eskalation.“
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Dass die NATO-Osterweiterungen, insbesondere die Eingliederung der Ex-Warschauer-Vertragsverbündeten der UdSSR sowie postsowjetischer Länder, allein Ergebnis des ausgeübten Selbstbestimmungsrechts der betreffenden Völker, inklusive freier Bündniswahl, waren und auch künftig (etwa im Falle von Ukraine, Georgien, Moldau, Aserbaidschan und so weiter) sein würden, dürfte sich für Konsumenten deutscher Mainstreammedien von selbst verstehen: Es ist ihnen oft genug vorgetragen worden.
Dass auch die US-Rüstungsindustrie eine höchst aktive Aktie an den NATO-Osterweiterungen, weil ein Interesse an neuen Absatzmärkten angesichts sinkender Rüstungsausgaben nach Ende des Kalten Krieges, hatte, dürfte demgegenüber wohl ins Reich vulgärmarxistischer Verschwörungstheorien gehören. Der britische Militärexperte Andrew Cockburn allerdings behauptet in der Januar-Ausgabe von Harper’s Magazine in einem umfangreichen Beitrag – die Blätter für deutsche und internationale Politik haben ihn in ihrer Februar-Ausgabe in deutscher Übersetzung publiziert – genau dieses. Anfang der 1990er Jahre seien die Forschungs- und Beschaffungsaufträge für die US-Rüstungsindustrie auf die Hälfte dessen abgesunken gewesen, was im Jahrzehnt zuvor bereitgestanden hätte. Bruce Jackson, seinerzeit Vizepräsident für Strategie und Planung des weltgrößten Rüstungskonzerns Lockheed Martin Corporation (LMC), gründete daraufhin Mitte der 1990er Jahre das U.S. Committee to Expand NATO als Lobby-Gruppe in Washington zur zielgerichteten Bearbeitung von Kongressmitgliedern, unter denen es noch 1996 offenbar nicht genügend Befürworter einer NATO-Osterweiterung gab. In diesem Komitee wirkten auch so bekannte Neocons und Falken aus den Jahren des Kalten Krieges wie Paul Wolfowitz und Richard Perle mit. Und die Rechnung ging durchaus auf: Bis 2014 hatten die zwölf neuen NATO-Mitglieder bereits US-Waffen im Wert von 17 Milliarden US-Dollar gekauft; F-16-Kampfflugzeuge von LMC sind heute bei den polnischen und den rumänischen Streitkräften im Einsatz; allein das Geschäft mit Polen belief sich auf 3,5 Milliarden US-Dollar; im Oktober 2014 traf das erste „Aegis Ashore“-Raketenabwehrsystem von LMC in Rumänien ein..
Zugleich ließ Jackson gegenüber Cockburn keinen Zweifel daran, dass die Bestrebungen des Komitees auch eine eindeutig antirussische Zielstellung hatten. Cockburn zitiert den Lobbyisten: „Die Devise ‚Fuck Russia‘ hat eine lange und stolze Tradition in der US-Außenpolitik.“ Auch den völkerrechtswidrigen Krieg der frisch erweiterten NATO gegen Serbien, einen traditionellen Verbündeten Russlands, im Jahre 1999 subsummierte Jackson unter dieses Ziel: „Die Russen wurden im Kosovo gedemütigt.“
Diesen Zusammenhängen dürfte mit Sprüchen wie „Die Politik des Westens bedroht nicht die Sicherheit Russlands […].“ (Rolf Mützenich, stellvertretender SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzender für die Bereiche Außenpolitik, Verteidigung und Menschenrechte) nicht bei- und einer Lösung des Ukraine-Konflikts demzufolge nicht näherzukommen sein.
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Apropos Ukraine-Konflikt: Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, plädiert für eine „doppelte Null-Lösung“: „null Einmischung von beiden Seiten, stattdessen ein von der OSZE überwachter Friedensprozess“. Der Ansatz klingt vernünftig, weil er in Rechnung stellt, dass der Konflikt, will man nicht katastrophale Konsequenzen weit über die Ostukraine hinaus heraufbeschwören, nur kooperativ, also zusammen mit Moskau zu lösen ist. Dennoch krankt die Idee daran, dass sie das – aus russischer Perspektive – sicherheitspolitische Kernproblem ausgeklammert. Das hat Ischinger selbst bei anderer Gelegenheit klar benannt: „[…] garantierten Verzicht auf eine Aufnahme der Ukraine in die NATO“.
Trotzdem ist Ischingers Vorstoß nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil Washington auf eine deutlich andere Linie setzt. Am 5. Februar stellte Sicherheitsberaterin Susan Rice bei der Brookings Institution die neue Sicherheitsstrategie der Obama-Administration vor, die gegenüber Moskau mit Blick auf die Ukraine vor allem konfrontative Töne anschlägt. Der Guardian fasste zusammen: „Obama versucht eine wirtschaftliche Bestrafung Russlands als eine Art […] Eindämmung, während sich Druck aufbaut – sogar seitens seines eigenen Kandidaten für das Pentagon – die ukrainische Regierung aufzurüsten.“ Ex-US-Außenministerin Madeleine Albright hat dieser Tage offen die Lieferung panzerbrechender Waffen gefordert, und der NATO-Oberbefehlshaber Europa, US-General Philipp Breedlove, hat vor dem Auditorium der gerade beendeten Münchner Sicherheitskonferenz schon mal das Spektrum dessen, was noch geliefert werden sollte, aufgeblättert: Systeme „zur Erkennung und Abwehr von Artillerie-Feuer […], Technik für sichere Kommunikation […], auch unbemannte Drohnen“.
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