18. Jahrgang | Nummer 2 | 19. Januar 2015

Wenn die Preise fallen …

von Ulrich Busch

Deflation und Inflation sind monetäre Phänomene. Dies besagt, dass sie eine Veränderung der in Geld ausgedrückten Preise oder, reziprok dazu, eine Veränderung der Kaufkraft des Geldes begrifflich abbilden. Ist diese Veränderung derart, dass die Preise steigen, und zwar unabhängig von der Wertentwicklung, und betrifft dies nicht nur einzelne Preise, sondern das Preisniveau insgesamt, und ist dies kein einmaliger Vorgang, sondern ein Prozess von einiger Dauer, so haben wir es mit Inflation zu tun. Geht die Veränderung in die entgegengesetzte Richtung, so sprechen wir von Deflation. Auch hierfür gilt, dass diese Veränderung allgemein und von einiger Dauer sein muss. Von Deflation wird gesprochen, wenn die Preise auf breiter Front fallen und die Kaufkraft des Geldes mithin permanent steigt.
Wie man sieht, orientieren sich diese Definitionen jeweils an Symptomen. Über das Wesen, die Ursachen und mögliche Folgen der Variation des Preisniveaus sagen sie dagegen nichts aus. Hinzu kommt, dass sie im Kontext mit der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung stehen und nur als solche statistisch erfassbar und volkswirtschaftlich interpretierbar sind.
Unter den gegenwärtigen Bedingungen gilt, dass eine Inflationsrate von knapp zwei Prozent monetäre Stabilität garantiert und optimale Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum schafft. Die Europäische Zentralbank strebt als geldpolitische Zielstellung daher eine Inflationsrate von genau dieser Höhe an. Nur leider verfehlt sie zunehmend ihr Ziel. Und zwar nach unten. So betrug die Steigerungsrate der Verbraucherpreise in Deutschland 2012 noch 2,0 Prozent, 2013 aber schon 1,5 Prozent und 2014 nur noch 0,9 Prozent. Im Dezember 2014 waren es 0,2 Prozent. In der Euro-Zone insgesamt sieht es noch düsterer aus: Die Inflationsrate sinkt hier seit Monaten kontinuierlich – bis auf einen Stand von -0,2 Prozent zum Jahresende 2014.
Lässt sich die Preisniveau-Entwicklung in Deutschland noch als tendenzielle Deflation interpretieren, so handelt es sich bei der Entwicklung in der Euro-Zone bereits eindeutig um Deflation. Für 2015 ist kaum Besserung in Sicht. Eher droht ein weiteres Absinken des Preisniveaus, womit Europa, wie einst Japan, in eine Deflationsspirale, ein sich wechselseitig verstärkendes Absinken von Preisen und Wirtschaftsleistung, rutschen würde. Und die EZB müsste dem machtlos zuschauen, da ihr wichtigstes Instrument und Gegenmittel, die Senkung der Leitzinsen, beinahe ausgereizt ist. Der Hauptrefinanzierungszinssatz, zu dem sich Banken Zentralbankgeld leihen, beträgt gegenwärtig 0,05 Prozent. Folglich ist der Spielraum für weitere Zinssenkungen sehr begrenzt.
Aber nicht nur die Geldpolitik steht hier vor schweren Herausforderrungen, wobei es völlig offen ist, ob sie diese meistern wird. Auch die ökonomische Theorie wird angesichts der deflationären Entwicklung auf eine harte Probe gestellt. So behauptet die neomonetaristische Schule, woraus sich heutzutage der ökonomische Mainstream speist, dass eine Expansion der Geldmenge unbedingt zu einem Anstieg des Preisniveaus führt. Nun hat die EZB die Geldmenge in den letzten Jahren mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln drastisch ausgeweitet. Das Ergebnis ist aber kein Anstieg der Inflation, sondern das Gegenteil, ein Umschlagen in Deflation.
Dies kann so manchen Ökonomen schon zur Verzweiflung treiben: So kündigte Ex-Bundesbanker Thilo Sarrazin an, wenn wir nicht bald eine „starke Inflation“ bekommen, werde er sein Diplom als Volkswirtschaftler zurückgeben. Soll er es tun, klüger aber wäre es, darüber nachzudenken, ob die Ausdehnung der Geldmenge tatsächlich die entscheidende Ursache für die Preisniveau-Entwicklung ist oder nicht vielleicht nur die „hinreichende Bedingung“ dafür. Die Ursachen wären dann woanders zu suchen, zum Beispiel in den Gewinnerwartungen, den Investitionsplänen und der Kreditnachfrage der Unternehmen, in der Sparwut des Fiskus oder in der Einkommensentwicklung.
Heiner Flassbeck zum Beispiel wird nicht müde, das Zurückbleiben der Lohnentwicklung gegenüber der Produktivitätsentwicklung in Deutschland und Europa dafür verantwortlich zu machen, dass die zahlungsfähige Nachfrage stagniert, während die Produktion, und damit das Angebot an Gütern und Leistungen, wächst. In der Folge kommt es zu einem Druck auf die Preise. Geben diese auf breiter Front nach, so kommt es zur Deflation. Aber dies ist es nicht allein, was eine Deflationsspirale in Gang setzt. Hierzu trägt auch die verrückte Sparpolitik der Staaten, insbesondere Deutschlands, bei.
Das finanzpolitische Ziel einer „schwarzen Null“, wie es die Bundesregierung anstrebt, wirkt konjunkturpolitisch kontraproduktiv. Gleiches gilt für die Austeritätspolitik in ärmeren Ländern wie Griechenland, Portugal oder Spanien. Geben die Staatshaushalte kein Geld mehr aus, so kommt die Wirtschaftsentwicklung zum Stillstand. Geldmäßiger Ausdruck dafür ist das Umschlagen der konjunkturell bedingten moderaten Inflation in Deflation. Der Preisverfall ist ein Krisensymptom, zudem ein gefährlicher Zustand, da ihm eine Eigendynamik eigen ist, die in eine Deflationsspirale münden kann. Dass dies in Deutschland so wenig erkannt und selbst von Ökonomen häufig unterschätzt wird, resultiert zum einen aus der historischen Erfahrung, die häufig mit Inflationen (1916-1923 und 1943-1948) zu tun hatte, was diesbezüglich kollektive Ängste wach hält und immer wieder schürt, aber weniger mit Deflation. Andererseits bietet die ökonomische Theorie hierfür kaum plausible Erklärungen an. Die Deflation blieb ihr immer ein großes Rätsel.
Deflationäre Prozesse sind typisch für lang andauernde Krisen, so für die „große Depression“ im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, für die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und für die Wirtschaftskrise Japans in den 1990er Jahren. In den betroffenen Volkswirtschaften kam es in der Folge zu lang anhaltenden und schwer zu überwindenden Depressionen mit gravierenden Auswirkungen auf Gesellschaft und Politik. Dass sich dieses Drama wiederholt, ist nicht zwingend. Dagegen spricht, dass die Kerninflationsrate, welche die Preisentwicklung ohne Energie- und Nahrungsmittelpreise abbildet, mit 0,8 Prozent 2014 noch positiv war. Maßgebend hierfür sind die Preise für Dienstleistungen, welche fortwährend ansteigen. Demgegenüber weisen die Rohstoff-, Energie- und Lebensmittelpreise eine sinkende Tendenz auf, zugleich aber auch eine hohe Volatilität, so dass jähe Wendungen nicht ausgeschlossen werden können.