17. Jahrgang | Nummer 22 | 27. Oktober 2014

Neue Phase der deutschen Ost- und Russlandpolitik

von Karsten D. Voigt

Das langfristige Ziel der deutschen Ost- und Russlandpolitik bleibt unverändert eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands. Insbesondere sozialdemokratische Kanzler und Außenminister haben nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes eine Entwicklung in Richtung auf dieses Ziel durch Angebote der Kooperation mit Russland voranzutreiben versucht, über mehr als ein Jahrzehnt hinweg mit erheblichem Erfolg. Aber in den letzten Jahren haben sich in der russischen Außen- und Innenpolitik negative Entwicklungen verstärkt. Die Annexion der Krim und die kriegsähnlichen Konflikte in der Ost-Ukraine machen nun eine Neubewertung der russischen Politik unabdingbar. Wenn Russland seine Haltung nicht nur gegenüber den USA sondern auch gegenüber Europa neu definiert, dann hat das Konsequenzen für die deutsche Außenpolitik. Aus diesem Grunde stehen wir am Beginn einer neuen Phase der deutschen Ostpolitik.
Die erste Phase einer aktiven bundesdeutschen Ostpolitik wurde maßgeblich von Willy Brandt und Egon Bahr geprägt. Spätestens mit dem Bau der Mauer in Berlin und nach der Kuba-Krise war zwar klar, dass der Westen unter Führung der USA bereit war, die Freiheit West-Europas, West-Deutschlands und West-Berlins zu verteidigen. Die USA beharrten auch auf ihren Rechten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzem. Sie waren aber nicht bereit, für die Freiheit Ost-Deutschlands und Ost-Europas größere politische oder militärische Risiken einzugehen. Die USA nahmen den politischen und militärischen status quo in Europa hin, ohne ihn formell zu akzeptieren. Angesichts dieser Lage war es geboten, diesen status quo als Ausgangspunkt einer aktiven Ost-Politik zu akzeptieren, die zugleich dessen Überwindung zum Ziel hatte.
Mit dem Fall der Mauer und dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Osteuropa schien auch dem Machtkonflikt mit der Sowjetunion – und später Russland – die Grundlage entzogen zu werden. Russland akzeptierte Vereinbarungen über die konventionelle Abrüstung und die militärische Vertrauensbildung, die während des Kalten Krieges undenkbar gewesen wären. Mit dem Ende der Entspannungspolitik schien eine Periode der großen Schritte in Richtung auf eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands zu beginnen. Die Rahmenbedingungen für die deutsche Ostpolitik veränderten sich grundlegend. Um es überspitzt auszudrücken: Es ging in der deutschen Ostpolitik nun nicht mehr um die kooperative Einhegung von Konflikten zwischen zwei prinzipiell gleich starken Machtblöcken mit gegensätzlichen Ideologien, sondern um unterschiedliche Grade und Geschwindigkeiten bei der „Verwestlichung des Ostens“ – und dies vor allen deshalb, weil die Mehrheit der Bürger in den ehemaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages so bald wie möglich ebenso leben wollten wie ihre westlichen Nachbarn.
Die neue Phase der Ostpolitik war von einem Nebeneinander von Integration und Kooperation geprägt: Integration, dort, wo gewünscht und möglich, Kooperation dort, wo keine Integration möglich oder gewünscht war. Die baltischen Staaten, die Staaten Ost-Mittel- und Süd-Ost-Europas wurden zum ersten Male in ihrer Geschichte zu einer Zone der sicherheitspolitischen und – mit Einschränkungen – auch der demokratischen Stabilität. Die gemeinsame Integration in europäische und transatlantische Institutionen verbanden jetzt die östlichen und westlichen Nachbarn Deutschlands. Ein Teil dessen, was vorher deutsche Ostpolitik gewesen war, wurde institutionell, wirtschaftlich und politisch zu einem Teil der früheren West-Politik.
Die Ost-Erweiterungen der EU und NATO ließen eine neue gesamteuropäische Realität entstehen. Die Ziele der Sozialdemokraten in verschiedenen Bundesregierungen aber reichten weiter: Sie wollten Russland über seine Mitgliedschaft im Europarat und der OSZE hinaus möglichst eng mit den übrigen Staaten und Institutionen Europas verbinden. Diese Politik schien anfangs mit den Zielen der russischen Politik übereinzustimmen.
Anfangs wurde die Ost-Erweiterung der EU von Russland durchaus positiv gesehen, insbesondere, da sie durch Kooperationsverträge mit Russland ergänzt werden sollte. Der Widerstand Russlands gegen die Assoziationsverträge der EU mit der Ukraine, Moldawien und Georgien sind erst neueren Datums. Anfangs strebte Russland nach ähnlichen Verträgen mit der EU. Dies deckte sich mit den Absichten der EU.
Die Ost-Erweiterung der NATO dagegen wurde von Russland von Anfang an negativ bewertet. Trotzdem gelang es, negative Wirkungen auf das Verhältnis der NATO zu Russland 1997 durch die „Grundakte über die gegenseitigen Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit“ und 2002 durch die Schaffung des NATO-Russland-Rates zu begrenzen. Der Inhalt dieser Vereinbarungen berücksichtigte russische Interessen, entsprach aber in entscheidenden Punkten nicht den russischen Wünschen: Eine gleichberechtigte Mitsprache innerhalb der NATO bis hin zu einem faktischen Veto gegenüber deren Entscheidungen wurde nicht eingeräumt.
Die Mitglieder der NATO und EU waren auch nicht bereit, Russland eine Einflusssphäre im postsowjetischen Raum zu garantieren. Dies konnten sie auch nicht, ohne das außen- und innenpolitische Recht auf Souveränität und Selbstbestimmung eines jeden einzelnen europäischen Staates zu missachten. Erst recht wollten die USA und größere europäische Staaten nicht – wie im 19. und 20. Jahrhundert – in einem „Konzert der Mächte“ über die Köpfe kleinerer Staaten hinweg Vereinbarungen über deren außenpolitische Orientierung, deren Sicherheit oder sogar über deren Grenzen treffen. Eine Politik des „Konzerts der Mächte“ hätte die in Europa gültigen Prinzipien und Verträge verletzt. Sie würde die Grundlagen der Zusammenarbeit prinzipiell gleichberechtigter Staaten innerhalb der EU und NATO infrage stellen.
Deutschland strebte eine enge Zusammenarbeit mit Russland an, jedoch nicht zu Lasten seiner östlichen und südöstlichen Nachbarn. Wenn es sich um dieser Zusammenarbeit wegen über die Interessen seiner kleineren Nachbarn hinweg gesetzt hätte, würde es nicht mehr von Freunden und Partnern, sondern – wie in der deutschen Geschichte vor 1945 – von Misstrauen umgeben sein. Russland ist das wichtigste Land östlich der Grenzen von EU und NATO. Aber deutsche Ostpolitik ist – anders als zu Zeiten Bismarcks – nicht ausschließlich und auch nicht immer vorrangig Russlandpolitik. Solange es Russland nicht gelingt, sein Verhältnis zu seinen kleineren westlichen Nachbarn positiv zu verändern, werden diese immer wieder Vorbehalte gegenüber einer kooperativen Sicherheitspolitik gegenüber Russland äußern. Wenn Russland die territoriale Integrität der Ukraine verletzt, dann wird für seine westlichen Nachbarn Sicherheit vor Russland und nicht mit Russland zur ersten Priorität.
Während der Zeit des Kalten Krieges und in den Jahrzehnten der Entspannungspolitik musste die deutsche Ostpolitik häufig zuerst nach Moskau blicken, wenn sie Verträge mit Warschau, Prag oder Budapest anstrebte. Heute führen direkte Wege zu unseren östlichen Nachbarn. Und wenn in EU und NATO über die deutsche und europäische Russland-Politik gesprochen wird, dann sitzen unsere östlichen Nachbarn mit am Tisch. Diese grundlegende Veränderung der Rahmenbedingungen für die deutsche Ostpolitik seit Anfang der 90er Jahre haben viele in Moskau und manche in Berlin noch nicht begriffen.
Russlands Politik gegenüber seinen westlichen Nachbarn wird positiv wie negativ durch eine Fixierung auf die USA geprägt. Russland strebt eine Rolle als gleichberechtigter und gleichmächtiger Machtpol neben den USA an. Es weiß allerdings zugleich, dass eine derartige Rolle als Weltmacht seine eigenen politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten bei weitem übersteigt. Parallel dazu hat Russland es nicht vermocht, nach dem Kalten Krieg zu seinen kleineren westlichen Nachbarn ein wechselseitiges Vertrauen und ein kooperatives Verhältnis aufzubauen. Ich sehe in diesem Defizit den wichtigsten außenpolitischen Grund für die zunehmende Entfremdung zwischen Russland und den Mitgliedern der EU und der NATO. Russland seinerseits sieht die Politik der USA als wichtigste Ursache für die negativen internationalen Entwicklungen der letzten Jahre.
Ich leugne die außenpolitischen Ursachen der zunehmenden Entfremdung zu Russland nicht. Mir scheinen aber die Entwicklungen in der russischen Innenpolitik mindestens ebenso bedeutend, wenn nicht sogar bedeutsamer zu sein. Mit seiner zunehmend autoritären Entwicklung, dem Rückgriff auf Symbole und Politik der Zarenzeit und der nachlassenden Bereitschaft, die sowjetische Periode kritisch aufzuarbeiten, entfremdet sich Russland immer mehr von den demokratischen Staaten Europas. Mit seiner Berufung auf „eurasische“ und „traditionelle“ Werte entfernt sich die russische Führung von den gemeinsamen europäischen Werten. Das ist ein Kurswechsel: Als Russland dem Europarat beitrat, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte akzeptierte und die Charta von Paris unterzeichnete, betonte es – anders als heute – die gemeinsamen europäischen Werte und Interessen.
Der Rückgriff auf vor-demokratische Werte und die Kritik an der EU finden den Beifall der europäischen Rechten, wie der UKIP in Großbritannien, des Front National in Frankreich, der Lega Norte in Italien, dem Jobbik in Ungarn, der AfD in Deutschland, jedoch auch von großen Teilen der Partei Die Linke. Gleichzeitig nimmt die Kritik an der russischen Politik in der demokratischen Linken Europas zu. Die Ursache hierfür sind Russlands schwere Verstöße gegen europäische Vereinbarungen und internationales Recht: Mit der Nutzung der Energieversorgung als politisches Druckmittel untergräbt Russland das Vertrauen, das seit Anfang der 70er Jahre die Grundlage der energiepolitischen Zusammenarbeit mit Westeuropa gewesen war. Die Annexion der Krim missachtet die in der KSZE-Schlussakte vereinbarten Grundsätze der Unverletzlichkeit der Grenzen und der friedlichen Lösung von Konflikten. Die Annexion verstößt außerdem gegen einen bilateralen Vertrag, in dem Russland die Grenzen der Ukraine anerkannt hat. Und noch schlimmer: Sie verstößt gegen den auch von Frankreich, Großbritannien und den USA unterschriebenen Vertrag, mit dem die Ukraine auf Nuklearwaffen verzichtete. Sie untergräbt damit den Vertrag gegen Nicht-Weiterverbreitung von Nuklearwaffen.
Doch damit nicht genug: Erklärtes Ziel russischer Politik ist es – auch über die Krim und die Ost-Ukraine hinaus – Russen und russischsprachige Bürger in anderen Staaten zu „schützen“. Meiner Meinung gab es auf der Krim und in der Ost-Ukraine keine Diskriminierung russisch-sprachiger Bürger. Wenn es der russischen Führung aber wirklich darum gegangen wäre, eine angebliche Diskriminierung zu beheben, dann hätte sie sich in Verhandlungen mit der ukrainischen Regierung darum bemühen können. Dass dies Moskau nicht versucht hat, verstärkte bei den Nachbarn Russlands die Befürchtung, dass es der russischen Führung eben nicht wirklich um den Schutz von „russischen Minderheiten“ geht, sondern dass diese als Instrument russischer Machtpolitik dienen sollen. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass Russland zu militärischen Mittel greift, um den „Minderheitenschutz“ (wobei sich in der Ukraine die meisten russisch-sprachigen Bürger als Ukrainer empfinden) zu gewährleisten. Aber die Anwendung militärischer Mittel wird auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen.
Aufgrund dieser offiziell deklarierten Zielsetzungen russischer Politik und aufgrund der Erfahrungen mit der russischen Praxis gegenüber der Krim und der Ost-Ukraine fühlen sich – verständlicherweise – mehrere Nachbarstaaten bedroht: Wie vorher schon bei den Konflikten in Georgien und Transnistrien bestehen Zweifel, ob Russland den status quo seiner Außengrenzen akzeptiert. Viele Nachbarn Russlands nehmen Moskau heute als revisionistische Macht wahr. Alle Mitglieder der EU und der NATO müssen sich angesichts dieser Gefahren auf die Solidarität ihrer Partner und Verbündeten verlassen können.
Das Vertrauen in die russische Politik ist schwer erschüttert worden. Eine überwiegend positive Phase der Russlandpolitik geht zu Ende. Es steht uns kein neuer Kalter Krieg bevor. Aber es wird eine längere Zeit brauchen, ehe sich wieder neues Vertrauen entwickeln kann. Grundvoraussetzung hierfür ist eine Änderung der Politik der russischen Führung. Unser Verhältnis zu Russland wird auf absehbare Zeit nicht mehr allein von dem Grundsatz „Zusammenarbeit, wo möglich“, beherrscht werden. Stattdessen wird es wohl in Zukunft heißen müssen: „Zusammenarbeit, wo möglich und sinnvoll, Risikovorsorge und Gefahrenabwehr, soweit wie nötig“. Dies spannungsreiche Nebeneinander einer auf Kooperation und einer auf Risikovorsorge und Gefahrenabwehr angelegten Politik stellt einen Rückschritt gegenüber den letzten Jahren und Jahrzehnten dar.
Das Angebot an Russland, gleichberechtigter Bestandteil einer europäischen Friedensordnung zu werden, sollte allerdings unbedingt aufrechterhalten werden, denn die Einsicht, dass eine europäische Friedensordnung erst dann dauerhaft stabil sein wird, wenn Russland Teil dieser Ordnung ist, bleibt richtig. Aber wer gleichberechtigter Teil einer gesamteuropäischen Friedensordnung werden will, der muss die grundlegenden Normen, Prinzipien und Vereinbarungen dieser Ordnung als Richtschnur für seine politische Praxis akzeptieren. Wenn Russland in wichtigen Punkten gegen die vereinbarten Normen einer europäischen Friedensordnung verstößt, so kann dies für die deutsche Politik kein Grund sein, diese Prinzipien preiszugeben. Im Gegenteil. Es geht darum, Russland zu einer Rückkehr zu diesen Prinzipien und Normen zu bewegen.
Die deutsche Politik sollte sich auch weiterhin um einen regen Dialog mit der russischen Führung und der russischen Gesellschaft bemühen. Das bedeutet ja nicht unbedingt, mit der Politik Russlands einverstanden zu sein. Im Gegenteil. Aber gerade während einer Krise ist die intensive Kommunikation eine unverzichtbare Voraussetzung für die friedliche Beilegung von Konflikten.
Mit anderen Worten: Wir sollten an der Vision einer gesamteuropäischen Friedensordnung unter Einschluss Russlands festhalten. Diese Bereitschaft ist zugleich Ausdruck der deutschen Interessenlage, denn Russland bleibt trotz seiner gegenwärtigen Politik das wichtigste Land östlich der Grenzen der EU und der NATO.
Es steht kein neuer Kalter Krieg mit Russland bevor, wohl aber eine Zeit der begrenzten Kooperation und des begrenzten Konfliktes. Aufgabe der deutschen Politik ist es in dieser neuen Phase der Ostpolitik, Meinungs- und Interessengegensätze realistisch zu analysieren, gleichzeitig aber auf der Grundlage der eigenen Werte und Prinzipien kooperative Politikansätze zu fördern und Konflikte einer friedlichen Lösung zuzuführen. Vielleicht kann auf diese Weise – wenn aber wahrscheinlich wohl erst nach längerer Zeit – wieder die Chance für eine positivere Phase der Ostpolitik eröffnet werden.