17. Jahrgang | Nummer 19 | 15. September 2014

Warum ich den Krieg in der Ukraine anders sehe

von Stephan Wohanka

Hohen Neuendorf, nördlich von Berlin – ein Denkmal für gefallene Soldaten der 1. Polnischen Armee, die 1945 an der Seite der Roten Armee Berlin befreiten. Ich besuchte mit Mitgliedern einer Deutsch-Polnischen Gesellschaft den Ort, um einen Kranz niederzulegen. Es waren auch Polen angereist. Anschließend kam es zum „geselligen Beisammensein“; die Gastgeber waren Menschen linker Überzeugungen. Da ich des Polnischen mächtig bin, fungierte ich als Dolmetscher. Ein munterer Wortwechsel setzte ein; auch vom Krieg war die Rede…
„Ich kann die Russen nicht als Befreier zu sehen“ sagte irgendwann ein Pole. „Wieso“? „Na – die Russen sind doch 39 bei uns einmarschiert, ich weiß von schlimmen Dingen“. „Was – die Sowjetarmee in Polen einmarschiert, versteh ich nicht; Hitler ist doch in Polen eingefallen“! Dann ging es noch um Katyn – ich mache es kurz; politisch und historisch Interessierte kennen die Hintergründe, die den deutschen Gesprächspartnern kaum bekannt waren, weder der Hitler-Stalin-Pakt noch die Folgen. Was nicht weiter verwundert; wurde doch um diese Themen in der DDR ein historischer Eiertanz aufgeführt; wer es damals nicht wissen wollte, der wusste es nicht und später waren andere Zumutungen von Belang!
Warum ich das erzähle? Ich gestehe den Polen vor diesem geschichtlichen Hintergrund, der ja noch eine lange Vorgeschichte bis in die polnischen Teilungen hat, eine höhere Sensibilität als uns Deutschen zu, was Russlands West-Politik angeht. (Ja, ich weiß, auch Preußen und Österreich waren an den Teilungen beteiligt). Hebt man den Blick weiter über den deutschen Tellerrand, geraten die baltischen Staaten in den Blick, auch Länder mit sowjetischen „Erfahrungen“. Dort geht die Furcht um, wiederum Opfer von Großmachtplänen zu werden; Litauens Präsidentin Grybauskaite stellt fest: „Russland ist im Krieg mit einem Land auf dem Weg nach Europa. Das bedeutet praktisch: Russland ist im Krieg mit der EU“.
Ich habe in den 1960er Jahren in Polen lebend bemerkt, dass die polnisch-russische „Frage“ schon damals, speziell unter meinen Altersgenossen, wesentlich virulenter war als die polnisch-deutsche. Die Kritik an der „Jalta-Ordnung“ war unter ihnen Gesprächsthema; das Verhältnis zu beiden Deutschlands schien entspannter, auch ein Verdienst der DDR-Politik. Das, habe ich mir gesagt, darf nicht dazu führen, die unsäglichen, von Deutschen und im deutschen Namen verübten Verbrechen am polnischen Volk zu relativieren; im Gegenteil, diese Untaten haben mich empfindsamer gemacht für Dinge, die in und um Polen geschehen.
Nun ist gut zu argumentieren, dass Polen Polen sind; was gehen uns deren Befindlichkeiten an? Polen ist nicht sakrosankt, natürlich nicht; spricht man über das Land als Kriegsopfer Deutschlands, dann kommt man jedoch um den bittersüßen Begriff „Appeasement“ nicht herum. Ich jedenfalls bin der Auffassung, dass der „Westen“ bezüglich Russlands heute in einem politischen Dilemma steht, das mit „Beschwichtigung“, „Besänftigung“ oder eben der Abkehr von beidem zu beschreiben ist.
Die Fakten; völlig unbestrittene gibt es wohl nicht: Russland hat – heute anerkannt – die Krim völkerrechtswidrig, unter Bruch selbst geschlossener Verträge annektiert. Nota bene argumentierte Stalin auch beim Einmarsch 1939 nach außen mit dem „notwendigen Schutz für Ukrainer und Weißrussen auf polnischem Gebiet“. Weiter – zum „Volksaufstand“ in der Ostukraine: Nicht etwa in der „Systempresse“, sondern auf den NachDenkSeiten – Die kritische Website ist zu lesen: „Im Donezbecken hat auf „prorussischer“ Seite vor allem eine ultranationalistische Soldateska die Fäden in der Hand, von der eine direkte Linie zu den Vordenkern der neuen Rechten in Russland führt“. Das stimmt nicht mehr ganz; inzwischen löste am 7. August ein gewisser Alexander Sachartschenko den bisherigen Anführer der „Volksrepublik Donezk“, den russischen „Politiker“ Alexander Borodai ab. Auch der Russe Igor Strelkow zog sich als „Verteidigungsminister“ zurück, Nachfolger ein Wladimir Kononow. Was führte zu dem Personalwechsel? Wahrscheinlich ist, dass Sachartschenko und Kononow aus der Ukraine kommend, die russisch dominierten Separatisten „ukrainischer“ aussehen lassen sollen.
Sachartschenko spricht von ehemaligen russischen Berufssoldaten oder regulären russischen Soldaten, die in der Ukraine kämpfen: „Sie ziehen es vor, ihren Urlaub nicht am Strand, sondern Schulter an Schulter mit ihren Brüdern zu verbringen, die um die Freiheit des Donbass kämpfen“. Dass dies ohne Duldung der russischen Armeeführung geschehen könnte, ist mehr als unwahrscheinlich; ebenfalls das „zufällig auf ukrainisches Gebiet Gelangen“ von Angehörigen einer Fallschirmjäger(!)-Einheit. Einer der Soldaten sagte: „Ich habe nicht gesehen, wo wir die Grenze überquert haben. Sie haben uns nur gesagt, dass wir auf einem 70 Kilometer langen Dreitagesmarsch waren. Hier ist alles anders, nicht so, wie es im Fernsehen gezeigt wird. Wir sind als Futter für die Kanonen gekommen“. Dass diese „Freizeitsoldaten“, „Verirrten“ und, mit hoher und zunehmender Wahrscheinlichkeit, auch andere reguläre russische Verbände gänzlich ohne auch schweres Gerät unterwegs waren und sind, ist ebenfalls kaum vorstellbar. Der Hintergrund: Die russische Seite musste eine Niederlage der Separatisten fürchten. Sie waren in den vergangenen Wochen immer stärker in die Defensive geraten und hatten mehr Unterstützung aus Moskau angemahnt. Nicht vergebens, wie sich zeigte.
Putins bislang letzte Volte: Die Gespräche „über die politische Organisation der Gesellschaft und die Eigenstaatlichkeit (man findet auch die Übersetzung „Staatlichkeit“) für die Südostukraine“ müssten „sofort beginnen“, sagte er nach Angaben russischer Nachrichtenagenturen. Ziel muss es sein, die „gesetzlichen Interessen der dort lebenden Menschen zu schützen“. Neben den Fragen, was mit (Eigen)Staatlichkeit und Südostukraine gemeint sein könnte – ein russischer oder von Russland abhängiger Landkorridor als Zugang zur Krim? – rufen namentlich die letzten Worte fatale Assoziationen wach…
Alles in allem: Russland handelt, schafft in der Ukraine Tatsachen.
Immer wieder ist zu hören: Der „Westen“ habe im Vorfeld grobe Fehler gemacht – ich will dessen Taktieren, Finassieren und  politischen Volten gar nicht kleinreden; es wurde ausführlich darüber berichtet. Aber er hat keine „grüne Männchen“ vulgo reguläre Truppen ohne nationale Zugehörigkeitszeichen in souveränen Staaten ohne deren Zustimmung aufmarschieren lassen. Diese Vorgeschichte spielt aber auch mit dem Fortgang der Ereignisse in und um die Ukraine eine zunehmend geringere Rolle. Die akute Lage schiebt sich nach vorn, nur sie zählt noch!
Das Taktieren des Westens geht weiter. Immer wieder geht es um die „Beweislage“… Nicht nur, dass die Interpretation von Geheimdienst-Daten schwierig ist; nein, namentlich die US-Dienste wollen den Russen auch nicht zeigen, was genau sie wissen. Weshalb sie kaum je Beweise publik machen. Der wichtigere Grund ist aber noch ein anderer: Legte der Westen unwiderlegbare Beweise für eine verdeckte, geschweige denn von Moskau befohlene Invasion vor, setzte er sich selber unter Zugzwang. Er hat – bisher – alles Interesse, die Lage nicht zu dramatisieren; auch das gehört zur Beschwichtigungspolitik.
Namentlich die EU agiert keineswegs „überstürzt“. Kritische Stimmen auf dem letzten Gipfel kamen nicht nur wie üblich aus Österreich, Ungarn und der Slowakei. Auch der finnische Ministerpräsident Stubb kalkuliert die Kosten: „Wenn Russland seine Destabilisierungsanstrengungen fortsetzt, ist es richtig, die Sanktionen zu verschärfen, aber ich hoffe, dass das nicht geschieht“.
Der Westen verordnet sich immer wieder Denkpausen, ehe zögerlich gehandelt wird. Vielleicht bietet das aber auch eine Chance für einen Neustart in den Beziehungen, mit einem realistischen Blick auf die russische Führung; die Zukunft ist offen  … und Geschichte wiederholt sich nicht. Trotzdem gewinnt dies alles vor dem Hintergrund der Konzessionspolitik westlicher Demokratien gegenüber Mächten wie Deutschland, aber auch Japan und Italien in den 1930er Jahren eine spezielle Bedeutung. Die (unvollständige) Liste ist beschämend: Die Mandschurei für Japan, Abessinien für Italien, der Spanische Bürgerkrieg, der Anschluss Österreichs, der München-Deal und die Einverleibung des Sudetenlandes, Italiens Angriff auf Albanien. Erst im September 1939, als deutsche Truppen die polnische Grenze überschritten, war die Bereitschaft zur Beschwichtigung vorbei. Zu recht! Zu spät! So schließt sich der Kreis… zu den polnischen und viel, viel mehr sowjetischen Soldatengräbern in deutscher Erde.