17. Jahrgang | Nummer 4 | 17. Februar 2014

Nichts ist Nichts, auch nicht das Geld.
Anmerkungen zu Ulrich Buschs Verständnis vom Geld

von Heerke Hummel

Im Blättchen, Ausgabe 2/2014, hat Ulrich Busch über das Geld in der heutigen Gesellschaft geschrieben („Geld: NICHTS, geschöpft aus NICHTS“). Um die „Natur“ des Geldes zu beleuchten, beruft er sich auf Karl Marx. Für den sei „Geld ein ‚gesellschaftliches Verhältnis‘, das sich in Form eines ‚Dings‘ kristallisiert, also ein ‚unter dinglicher Hülle verstecktes Verhältnis‘“. Löse man diese Begriffsbestimmung auf, so stellten sich zwei Fragen: die nach dem Charakter der „Verhältnisse“ und die nach der Beschaffenheit des „Dings“, worin sich die Verhältnisse kristallisierten.
Die Antwort auf die erste Frage verweise auf Warenproduktion, Arbeitsteilung und Privateigentum – und damit auf relativ allgemeingültige Aspekte der gesellschaftlichen Produktion. Folglich komme Geld in den unterschiedlichsten Produktionsweisen vor. Die zweite Frage dagegen sei problematisch. Busch: „Marx selbst beantwortete sie mit einem Diktum, wonach Geld von Natur aus ‚Gold und Silber‘ sei und selbst in entwickelter Gestalt, als Kreditgeld, ‚der Natur der Sache nach‘ nie von seiner metallenen Unterlage loskommen kann. Diese Aussage gilt, wie das ganze Marxsche System, selbstredend nicht außerhalb von Zeit und Raum, sondern, wofür sie formuliert wurde, für den klassischen Kapitalismus in Europa und Nordamerika und für die Zeit des Goldstandards.
Mit der Demonetisierung des Goldes aber, welche genau vor 100 Jahren 1914 begann und mit der Aufhebung der Bindung des US-Dollars an das Gold 1971 endete, büßte sie ihre Gültigkeit ein. Der Wert des Geldes hängt seitdem nicht mehr vom Gold ab, und das Gold zählt seitdem nicht mehr als Geld.“
Dem ist im Wesentlichen zuzustimmen. Aber das bedeutet doch zugleich, in Bezug auf Buschs erste Frage, dass wir es mit ganz neuen gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun haben, die nicht mehr durch private Warenproduktion und Geld im ursprünglichen, Marxschen Sinne gekennzeichnet sind, sondern durch ein neuartiges, staatlich über die Zentralbank garantiertes Vertrauensverhältnis nur noch so genannter „privater“ Produzenten! Zu dieser Schlussfolgerung ist Busch nicht gekommen. Er fährt vielmehr fort: „Folglich ist das umlaufende bare und unbare Geld auch kein Stellvertreter des Goldes mehr, wie Marx es noch sah und wie es für das 19. Jahrhundert tatsächlich zutraf, sondern selbst Geld. Aber worin besteht jetzt seine Substanz, sein Wert?“
Abgesehen von der eigenartigen Feststellung, Geld sei durch die Aufhebung des Goldstandards selbst Geld geworden; einleitend hatte Busch ja noch nach des Geldes Wesen und Begriff als der „Grundfrage all dieser Vorgänge und komplizierten Verknüpfungen“ im Finanzsystem gefragt. Hier wäre nun zu zeigen gewesen, dass sich das Wesen des Geldes gründlich verändert hat: Aus einem „allgemeinen Äquivalent“, einer „allgemeinen Ware“ (Begriffe bei Marx) ist ein Arbeitszertifikat geworden.1 Für Busch dagegen ist „Geld […] selbst Geld“ geworden, und er fragt anstatt nach dessen Wesen nach seiner „Substanz“. Diese sei ein „Nichts“, und „die knappheitstheoretisch fundierte keynesianische Theorie“ erlaube, „das Geld als ‚Nicht-Gut‘ zu begreifen“. Müsste die Frage nicht lauten: Was hat dieses neue, vom Gold völlig unabhängige Geld nun, im einundzwanzigsten Jahrhundert, mit der Arbeit als dem Wert bildenden Element der gesellschaftlichen Produktion zu tun?
Die Antwort darauf muss lauten: Das „Geld“ ist zu einem Zertifikat für geleistete, gegebene Arbeit geworden, zu einem Schuldschein, der Anspruch auf Produkte („Waren“) konstatiert, deren „Wert“ (in ihnen vergegenständlichte gesellschaftlich notwendige Arbeit) der auf diesem Zertifikat vermerkten Arbeitsmenge entspricht. Doch weil die Europäische Zentralbank keine Bescheinigungen über geleistete Stunden „europäischer Durchschnittsarbeit“2 herausgibt, sondern Euro-Noten beziehungsweise Euro-Beträge kontiert, stellt sich die Frage: Wie viel Arbeit repräsentiert, drückt der Euro aus? Meine Antwort: So viel Arbeit, wie in der Realität, auf dem Arbeits-„Markt“ im gesellschaftlichen Durchschnitt geleistet wird, respektive geleistet werden muss, um einen Euro – tarifvertraglich sogar geregelt – zu verdienen und gutgeschrieben zu bekommen. Dies ist nicht nur eine Schlussfolgerung logischer Abstraktion – aufbauend auf der Arbeitswerttheorie von Karl Marx sowie der klassischen bürgerlichen Ökonomie. Vielmehr findet einzig in diesem Akt der „Entlohnung“ eine direkte Beziehung des Euro, dieses „Geldes“, dieses Mediums, das selber als reines Gedankenprodukt nichts mit der gesellschaftlichen Arbeit zu tun hat, also nicht, wie die gesamte Warenwelt, selbst ihr Produkt ist, zur gesellschaftlichen Arbeit statt. Dies ist im Übrigen auch kein Warenaustausch mehr im Sinne eines Verkaufs (Tausch) der Ware Arbeitskraft als Einheit von Wert und Gebrauchswert gegen die allgemeine Geldware. Denn dieses Geld besitzt selbst weder Wert noch Gebrauchswert (im Marxschen politökonomischen Sinn), sondern drückt „Wert“ im Sinne verausgabter, vergegenständlichter Arbeit lediglich aus.
Hier mag nun eingewendet werden, dass nicht die EZB, sondern eine Unzahl von Unternehmern Arbeit „kauft“ und entlohnt und dass derzeit die EZB Geld in „beliebiger“ Menge emittiert und davon der wirkliche Wert des Euro abhängt, die Menge gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit, die er ausdrückt. Die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs liegt darin, dass wir es eben mit ganz neuen gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen zu tun haben, was weder Ulrich Busch noch seine Kritiker im Blättchen verstanden zu haben scheinen. Auch das unternehmerische Handeln hat objektiv seinen privaten Charakter verloren, und zwar nicht nur in Hinblick auf die globalen Dimensionen seiner Folgen, denn die Unternehmer sind zu Agenten der Gesellschaft geworden, ausgestattet mit bestimmten Rechten und Kompetenzen, und handeln, wirtschaften in der Hauptsache auch nicht mehr mit ihrem eigenen, privaten Eigentum und auf ihr eigenes, privates Risiko, sondern mehr oder weniger direkt und bewusst mit dem Eigentum und auf Risiko anderer, letztlich der Gesellschaft als Ganzes. Und dies ist sichtbare Wirklichkeit in einer Welt, in der darüber hinaus die Folgen von Fehlentscheidungen deren private Möglichkeiten, für einen verursachten Schaden aufzukommen, unermesslich übertreffen. Ja, Unternehmen wirtschaften heute mit dem Eigentum der Gesellschaft. Denn was die Besitzer oder Shareholder ihr Eigentum nennen und de jure nennen dürfen, der ganze Produktionsapparat, ist de facto das Eigentum all derer, die über „Geld“, Euros, als Zeichen dafür verfügen. Geld – der Euro ebenso wie der Dollar in seiner Konstitution seit 1971 – drückt diese gesellschaftlichen Beziehungen aus:
Erstens – jeder Besitzer von Euro-Guthaben ist Gläubiger der Gesellschaft (der Notenbank als einer staatlichen, notwendigerweise wirtschaftsleitenden Institution, welche für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess die finanztechnischen Grundlagen einer gesellschaftlichen Buch- und Rechnungsführung schafft) insofern, als er ihr, der Gesellschaft, Arbeit in seiner besonderen Form gegeben (ausgedrückt und bestätigt durch diesen Euro) und darum Anspruch auf dieselbe Menge Arbeit in einer anderen Form aus dem gesellschaftlichen Fonds entsprechend seinem Bedürfnis hat.
Zweitens – die Notenbank als ökonomischer Organisator im Interesse der Gesellschaft ist Schuldner jedes einzelnen Besitzers von Euro-Guthaben und verantwortlich für das Funktionieren der gesellschaftlichen Reproduktion in der Gegenwart und Zukunft. Sie hat zu sichern, dass jeder Einzelne mit seinem Geld Güter für die Sicherung des Lebensunterhalts und Befriedigung seiner Bedürfnisse erwerben kann. Dementsprechend hat sie den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess als arbeitsteiliges, selbstregulierendes System eigenverantwortlicher Wirtschaftsakteure (vor allem als Produzenten) zu organisieren und finanzpolitisch zur Erhaltung ökonomischer Gleichgewichte zu steuern.
Drittens – als Mitglied der Gesellschaft und Besitzer von Euro-Guthaben ist jeder Einzelne auch Teilhaber am Produktivfonds der Gesellschaft. Denn sein Guthaben ist allgemeiner Ausdruck der Tatsache, dass er Arbeit in den Produktivfonds der Gesellschaft eingespeist hat, die nun in diesem Fonds als in ihm vergegenständlichte Arbeit zirkuliert. (Sein Geld ist eben kein tatsächliches Äquivalent einer verkauften Ware – zum Beispiel der Arbeitskraft – mehr, sondern drückt nur noch eine Teilhabe am Reichtum der Gesellschaft aus, den er – durch seine Arbeit – mit geschaffen hat.)
Viertens – die gesellschaftliche Reproduktion ist ein dauernder Prozess von Produktion und Verbrauch des Erzeugten. Die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit der Individuen verausgabt ihre Arbeit in lebendiger Form im Arbeitsprozess. Als geronnene existiert die Arbeit in dem erzeugten Produkt weiter und wird in der unternehmerischen Buchhaltung (die ihrem Wesen nach selbst als Bestandteil einer allgemeinen gesellschaftlichen Buch- und Rechnungsführung zu verstehen ist) ausgewiesen. In diesem Zustand durchläuft sie den Reproduktionsprozess der Gesellschaft von Stufe zu Stufe, wird von Produkt zu Produkt übertragen und akkumuliert, um sich irgendwann in einem Erzeugnis darzustellen, das den Reproduktionsprozess der Gesellschaft verlässt, um verbraucht zu werden, ohne weiterer Produktion (im Rahmen des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses) zu dienen. Mit diesem Akt findet der vielstufige Prozess der Aneignung der Natur durch die Gesellschaft einen punktuellen Abschluss.3
Dies alles ist Spinnerei? Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus? Banker haben, weil sie zu hohen „privaten“ (?) Risiken bereit waren, mit ihren Aktionen das gesamte Finanzwesen und die Weltwirtschaft an den Rand einer Katastrophe gebracht und sich dabei doch maßlos bereichert? Durchaus! Doch was besagt das tatsächlich? In der Endkonsequenz doch, dass die Gesellschaft, in der wir leben, von einem krassen Widerspruch zwischen ihrer materiellen Basis einerseits und ihrem geistigen, politischen und juristischen Überbau andererseits geprägt ist, wie er größer nie gewesen sein dürfte.
Das heute dominierende wirtschaftswissenschaftliche Denken steht fest in der Tradition der bürgerlichen Volkswirtschaftslehren des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Deren wohl wichtigstes Theorem ist die Unangreifbarkeit des Privateigentums, auch und vor allem in Hinblick auf das unternehmerische Eigentum als angeblicher Voraussetzung unternehmerischen Interesses und rationellen ökonomischen Handelns. Mit der Reform der „realsozialistischen“ Welt, ihrer Selbstaufgabe und Angleichung an die vermeintlich effektiveren „kapitalistischen“ Formen, sah sich dieses Denken nur allzu bestätigt. Sogar unter den marxistischen Denkern scheint dieses Ereignis nachhaltig gewirkt zu haben. So beabsichtigen die wirtschaftspolitischen Konzepte der Linken, ausgehend von J. M. Keynes‘ Theorie, den Kapitalismus in Ketten zu legen. Praktischerweise ist dem nicht zu widersprechen. Doch eine wirklich eigenständige Basistheorie – abgesehen von der Marxschen Kapitalanalyse, die aber aus den Verhältnissen des neunzehnten Jahrhunderts abgeleitet wurde und den heutigen Bedingungen nur noch an der Oberfläche und darum scheinbar gerecht wird – scheint es nicht zu geben. Und die Bereitschaft, Marx grundlegend weiterzudenken, ist bisher nicht erkennbar.
Die tiefe Prägung des heute vorherrschenden Denkens durch eine hypertrophierte Konzentration auf das Individuum und auf dessen Freiheit sowie auf die Unantastbarkeit des Privateigentums ist bestimmend für die Konstruktion des ganzen Rechtssystems der heutigen Gesellschaft. Dabei hat die Auffassung, die  Gesellschaft sei eine Gemeinschaft von Gott als Individuen geschaffener freier Menschen, ein Rechtssystem hervorgebracht, das die möglichst schrankenlose Freiheit dieser Individuen sichern und ihren Verkehr in solcher Freiheit regeln soll. Dies betrifft auch und vor allem den Besitz privaten Eigentums und hier wiederum den Besitz von und den Umgang mit Geld. Die private Form des Eigentums wird quasi als ein für alle Mal gegeben verstanden und nicht aus der Art und Weise seiner Schaffung abgeleitet. Umgekehrt wird die Schaffung von Eigentum, die Aneignung der Natur durch den Menschen, als unveränderliche, natürliche oder göttliche Privatsache freier Individuen angesehen, die dabei zwar kooperieren, aber immer als freie, private Wettbewerber.
Solchem Denken muss es schwerfallen, die Aneignung der Natur durch den Menschen primär als einen gesellschaftlichen Prozess der Reproduktion zu verstehen und die notwendigen Rechte und Freiräume des Einzelnen aus den konkreten Bedingungen der gesellschaftlichen Reproduktion abzuleiten. Gleiches gilt in Bezug auf das politische System einer Gesellschaft, mit welchem verbindliches, tatsächliches Recht im Interesse aller geschaffen und durchgesetzt werden soll beziehungsweise kann. Daher braucht es nicht zu verwundern, dass nun schon sechs Jahre lang vergeblich versucht wird, die weltweite Finanz- und Staatsschuldenkrise zu überwinden; von der Beseitigung ihrer Ursachen ganz zu schweigen. Im November 2008 erklärte der damalige Innen- und spätere Finanzminister Wolfgang Schäuble auf einem Forum: „Uns bleibt nichts weiter übrig als weiterzumachen wie bisher nach der Methode ‚Versuch und Irrtum‘“. Mehr haben bürgerliche ökonomische Theorie und Praxis bis heute nicht zustande gebracht.
Will man die tiefe gesellschaftliche Krise in ihren Ursachen überwinden, so kommt es darauf an, den Widerspruch zwischen der bis zum äußersten vergesellschafteten materiellen Basis der Gesellschaft und ihrem ganz auf das Interesse und Recht des Individuums orientierten geistigen, juristischen und politischen Überbau durch Anpassung dieses Überbaus an die Basis zu beseitigen. Das heißt, es bedarf politischer und gesetzlicher Reformen mit dem Ziel, zwar nicht eine scharf umrissene gesellschaftliche Klasse zu entmachten oder gar zu „beseitigen“4, wohl aber ein politisches und juristisches System zu gestalten, mit welchem es möglich wird, eine harmonische Entwicklung der menschlichen Weltgesellschaft in ökonomischer und sozialer Hinsicht durch einen allgemeinen Interessenausgleich dank Verminderung von Unterschieden und Gegensätzen zu gewährleisten. Die Herausbildung eines solchen „Systems“ wird ein langer Prozess praktischen Gestaltens durch zielgerichtete Lösung konkreter Konflikte und Krisenerscheinungen sein. Damit dieses allmähliche, praktische Gestalten aber nicht nach der Methode „Versuch und Irrtum“ vor sich geht, ist es wichtig, über ein theoretisches Fundament zu verfügen, welches das tatsächliche Wesen der Erscheinungen unter der Oberfläche gesellschaftlicher Prozesse offenlegt.
Ausgangspunkt und Kern der hier vorgetragenen Auffassungen war die Frage nach dem Wesen des Geldes. Sie wurde von U. Busch zwar als Grundfrage bezeichnet, aber leider nicht beantwortet. Hat man jedoch den historischen Wandel im Wesen des Geldes begriffen und Letzteres als eine Arbeitsquittung erkannt, so verfügt man über eine Richtschnur, um bei der Lösung konkreter Konflikte und Krisen die gesetzlichen Handlungsspielräume der ökonomischen Akteure neu zu definieren. Ein Einstieg könnte, ja müsste ein entsprechender Passus im Grundgesetz (möglichst der Europäischen Union und der Weltgemeinschaft) sein, der aus dem neuen Wesen des Geldes ein Primat der Gesellschaftlichkeit allen ökonomischen Handelns einerseits und folglich der Politik (als Gesetzgeberin) gegenüber der Ökonomie andererseits ableitet und als allgemeine Richtschnur festschreibt.

  1. Dies entspricht übrigens ganz der Erwartung von Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms: „Innerhalb der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus; ebenso wenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit als Wert dieser Produkte, als eine von ihnen besessene sachliche Eigenschaft, da jetzt, im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft, die individuellen Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteile der Gesamtarbeit existieren […] Womit wir es hier zu tun haben, ist eine […] Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eigenen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht; die also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. Demgemäß erhält der einzelne Produzent – nach Abzügen – exakt zurück, was er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum. Z.B. der gesellschaftliche Arbeitstag besteht aus der Summe der individuellen Arbeitsstunden; die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Anteil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, daß er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds) und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleichviel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück.“ (K. Marx: Kritik des Gothaer Programms, in – K. Marx und F. Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Berlin 1958, Band 2, S. 15 f.)
    Auch wenn Marx sich die Herausbildung einer neuen Gesellschaft ganz anders vorstellte als sie sich nun vollzogen hat, nämlich auf revolutionäre und nicht auf evolutionäre Weise wie nun geschehen, und eben darum die Arbeit des Einzelnen nicht in ihrem natürlichen Maß erfasst und ausgedrückt wird, sondern in dem Pseudonym einer Währungseinheit, drückt dieses Zitat Übereinstimmung der Marxschen Erwartung mit der realen gesellschaftlichen Entwicklung im Verlaufe eines Jahrhunderts in ihrem wesentlichen Kern aus, der objektiven Vergesellschaftung der Produktionsmittel (ihrer Verwandlung in Gemeingut) und der damit verbundenen objektiven Verwandlung des Geldes in „einen Schein, daß er (der einzelne Produzent – H.H.) soundso viel Arbeit geliefert“ hat.
  2. „Durchschnittsarbeit“ wird hier im Marxschen Sinn als Verausgabung von Arbeit mit durchschnittlicher Intensität und durchschnittlichem „Kompliziertheitsgrad“ verstanden. Die Reduktion der konkreten Arbeit des Einzelnen auf solche „abstrakte“ Durchschnittsarbeit geht vor sich im Prozess der (vor allem tariflichen) Lohnfindung.
  3. Eine allgemeine Untersuchung und Darstellung der gesellschaftlichen Reproduktion habe ich vorgenommen in – Heerke Hummel: Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum, Halle, 2005, ISBN 3-86634-048-6.
    Siehe auch – Heerke Hummel: Gesellschaft im Irrgarten. Die Tragik nicht nur linker Missverständnisse, Berlin 2009, ISBN 978-3-86557-201-1.
  4. Das Geld als Anteilschein am gesellschaftlichen Produktionsfonds hat auch die Spaltung der Gesellschaft in qualitativ verschiedene Klassen beseitigt, indem sich die früheren qualitativen Unterschiede in der Stellung zu den Produktionsmitteln in einen quantitativen Unterschied der Teilhabe verwandelten, auch wenn diese quantitativen Unterschiede heute himmelschreiend sind; besitzen doch laut neuesten Veröffentlichungen die 85 reichsten Menschen ebenso viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammen.