16. Jahrgang | Nummer 18 | 2. September 2013

Bemerkungen

„Ich habe einen Traum“

„Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages diese Nation erheben wird und die wahre Bedeutung ihrer Überzeugung ausleben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: Alle Menschen sind gleich erschaffen.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und in der Hitze der Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt wird.
Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt. […] Mit diesem Glauben werde ich fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen. Mit diesem Glauben werde ich fähig sein, die schrillen Missklänge in unserer Nation in eine wunderbare Sinfonie der Brüderlichkeit zu verwandeln.“

Rede Martin Luther Kings am 28. August 1963 in Washington

Heute leben in den USA 251 Millionen Weiße, 45 Millionen Schwarze sowie 54 Millionen Latinos. Im Repräsentantenhaus mit seinen 435 Abgeordneten waren 1963 fünf Schwarze vertreten, 50 Jahre später sind es 43. Gab es 1963 keinen schwarzen Senator, ist es heute einer. Beträgt die Lebenserwartung weißer Frauen und Männer derzeit 81 beziehungsweise 77 Jahre, so beläuft sich dieser Wert bei schwarzen Frauen und Männern auf 78 bzw. 72 Jahre. Hochschulreife erreichten 1967 acht Prozent der Weißen und vier Prozent der Schwarzen, heute sind ist das Verhältnis 35 zu 21 Prozent. Das durchschnittliche Jahreseinkommen weißer US-Amerikaner liegt bei 27.000, das der Schwarzen bei 21.000 Dollar. Mit Barack Obama haben die USA den ersten schwarzen Präsidenten. Er war und ist um mehr Gleichheit der Rassen und Klassen bemüht, wenn auch – nicht zuletzt wegen des konservativen Widerstandes im Land – mit wenig Fortune. Im Falle Syriens ist er soeben dabei, die Gewaltpolitik seiner Amtsvorgänger fortzusetzen.

HWK

Mir san mir!

Horst Seehofer (CSU und Jahrgang 1949) ist ein starker Mann aus Ingolstadt und Ministerpräsident des Freistaates Bayern. „Das geht so nicht, da werde ich mich kümmern. Die müssen raus aus Bayern!“, kommentierte er kürzlich das Ansinnen fremdländischer Fernsehjournalisten aus dem Rheinland, blöde Fragen stellen zu wollen. Recht hat er! Wo kommen wir denn hin, wenn solche „damischen Saupreißn“, wie sich der Landtagsabgeordnete Josef Filser auszudrücken pflegte, weiterhin für die Berichte des Bayerischen Landesrechnungshofes interessieren. Schließlich sind doch wohl die Zahlungen des Landtages an die Landtagsabgeordneten ausschließlich Sache der Landtagsabgeordneten, dass das mal klar ist! Überhaupt WDR… das hört sich ja fast schon an wie DDR, Kommunistenpack, damisches! Und feige sind die auch noch. Konnte doch der bajuwarische Landesvater sie nicht mehr höchstderoselbst am verleumderischen Schlafittchen packen und über den Weißwurstäquator gen Norden schleudern. Abgereist waren die doch einfach, als Landtagspräsidentin Barbara Stamm, die Mensch gewordene Charme-Offensive der CSU, den zudringlichen Fernsehfuzzis völlig zu Recht „schlechtes Benehmen“ attestierte. Das Mindeste, was jetzt passieren muss, ist ein Übernahme-Verbot für Produktionen dieses Düsseldorfer Schmähsenders durch unseren noch der dampfenden Scholle verbundenen Bayerischen Rundfunk. Vor Jahren hat der das mal recht erfolgreich mit einem Ekelprodukt namens „extra 3“ einer nördlicheren Fernsehanstalt praktiziert. Die haben inzwischen gelernt sich zu benehmen und machen ihre Witzchen allenfalls noch über das Landratsamt in Bad Segeberg. Geht doch! Ansonsten kann man ja wirklich nur dem anonymen Kommentar eines bajuwarischen Fußball-Jüngers zustimmen: „Heut kriegn die damischen Saupreißn den Oarsch poliert! Pfiat Euch! Mir san mir…“

Günter Hayn

Korvettenposse 2.0

Dass die fünf neuen Korvetten der Bundesmarine, der so genannten Braunschweig-Klasse, rechte Pannenpötte sind, hatte Das Blättchen bereits vor zwei Jahren thematisiert. Bisher gab es erst einen tatsächlichen Einsatz eines der Schiffe, der „Braunschweig“, der im Jahre 2012 lediglich zwei Monate dauerte. Das war im Rahmen der UNO-Beobachtermission UNIFIL vor der libanesischen Küste, und das war wohl gut so. Denn fürs direkt Militärische sind die Schiffe offenbar nicht so direkt geeignet – das Hauptwaffensystem funktioniert nicht. Als das Schwesterschiff „Magdeburg“ im Mai vor Norwegen zwei seiner Lenkflugkörper verschoss – Stückpreis: eine Million Euro –, stürzten beide ab. Die Lieferfirma darf nun „nachbessern“. Im nächsten Jahr soll dann eine erneute „Einsatzprüfung“ stattfinden …

Alfons Markuske

Kurze Notiz zu Oranienbaum

Von den vier Schlössern, die den nach Deutschland verheirateten Töchtern des niederländischen Statthalters Friedrich Heinrich von Oranien errichtet wurden, haben drei die Zeit überdauert: Oranienstein in Rheinland-Pfalz, Oranienburg in der Mark und Oranienbaum in Sachsen-Anhalt.
Ein Vergleich liegt nahe. Oranienstein ist außen wie innen ein wahres Schloss, mehr lässt sich angesichts dieser atemberaubenden Pracht kaum sagen. Oranienburg hat eine ganz hübsche Fassade, aber kein Interieur. Die Wandteppiche, Silberpokale, chinesischen Vasen und Bilder alter holländischer Meister könnten überall sonst genauso gut unterkommen wie in diesen uncharmanten Räumen – und haben sie das nicht auch die längste Zeit? Tja, und Oranienbaum?
Oranienbaum steht fast komplett im Schatten des nahen Wörlitz, dem verspielten Gartenreich der Anhaltiner. Das Schloss wird restauriert, seit vielen Jahren schon, und trotzdem gammelt es von unten her weg. Das Gebälk schaut unter dem Putz hervor, manche Wände bestehen nur noch aus einer morschen Holzkonstruktion. Dennoch lässt sich der einstige Anmut des Gebäudes immer noch erahnen: Delfter Fliesen am Sommerspeisesaal mit Blick in den Garten. Sichtachsen rein in die Stadt und raus in die Wiesen.
Am Brunnen inmitten der grünen Anlage plantschen Kinder. Linkerhand davon führt der Weg zur Orangerie, die bestens erhalten und immer noch in Gebrauch ist. Rechts des Brunnens findet sich ein chinesisches Teehaus inmitten von Seen und Sümpfen, erhebt sich Ehrfurcht gebietend darüber mit seinem riesigen Dach. Eine gleich fünfstöckige Pagode ist übrigens auch nicht weit.
Der Garten lädt zum Schlendern ein. Bis er in einen Wald übergeht, der sich immer abenteuerlicher bewandern lässt. Die Natur bricht sich allmählich Bahn, immer struppiger, immer ungebremster. Was für ein Kontrast zu dem englisch-chinesischen Garten davor. Der Rückweg fällt nachdenklich aus. Das Schloss überragt breit und doch leicht – also auf jeden Fall imposant – das ganze Grün, doch jeder Schritt auf das Gebäude zu bringt die Risse im Putz, die Löcher in den Wänden in Erinnerung. Ein schwerer Seufzer. Fehlt es am Geld, am Engagement? Oder muss auch so eine kleine Kostbarkeit wie ein fürstlich-anhaltinischer Witwensitz unter dem unablässig nagenden Zahn der Zeit vergehen? Die Schlossruine im nahen Dessau sagt ja, die Stein gewordenen Spielereien in Wörlitz sagen nein. Oranienbaum dazwischen schwankt. Mal Dessau, mal Wörlitz, mal ja und mal nein. Entschieden, und das tröstet ein wenig, ist hier noch nichts.

Thomas Zimmermann

Kultursoziologie aktuell

Zivilisationstendenzen und Alltagsphänomene, Kulturkritiken und gesellschaftliche Expression im Wandel der Zeit – die Zeitschrift Kultursoziologie greift Entwicklungen aus Geschichte und Gegenwart auf. Die traditionsreiche, von der Gesellschaft für Kultursoziologie Leipzig herausgegebene Zeitschrift erscheint nunmehr im Potsdamer Wissenschaftsverlag WeltTrends. Gerade ist die erste Ausgabe des 23. Jahrgangs publiziert worden – mit einer inhaltlichen Neuerung – einem thematischen Schwerpunkt, dem mehrere Beiträge gewidmet sind.
Das Thema in diesem Fall: „Deutsche und Russen“, in historischer und aktueller Perspektive. Enthalten sind Beiträge zur sowjetischen Kulturgeschichte während des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsperiode, zur Metapher der schwarzen Augen in der russischen und in der deutschen Literatur sowie zu Leipzigs „Russischer Welt“.

hpg

Kultursoziologie Nr. 1/13 (23. Jahrgang; Thema: Deutsche und Russen), Verlag WeltTrends Potsdam, 145 Seiten, 12,00 Euro. Bestellung über: www.welttrends.de/kultursoziologie

Eine Hochzeit im Wedding?

Schon längst zählt Rob Reiners Film „Harry und Sally“ von 1989 zu den amerikanischen Kultfilmen. Neben der passenden Besetzung mit Meg Ryan und Billy Crystal sind es vor allem die brillanten Dialoge von Nora Ephron, die den Film tragen. Auch ein Stück für den Broadway ist aus dem Stoff entstanden, das jetzt für das Berliner Prime Time Theater adaptiert wurde. Doch das Kieztheater, das mit seiner seit zehn Jahren erfolgreichen Bühnen-Soap „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ Berliner Theatergeschichte geschrieben hat, wäre sich untreu, hätte es die Handlung nicht in die deutsche Hauptstadt verlegt. Sally hat gerade ihre erste Bude in der Bellermannstraße bezogen, als ihr Harry ins Haus schneit, um die Wände zu streichen. Ein heftiger Flirt mündet in die Frage, ob Männer und Frauen, auch wenn sie sich gegenseitig attraktiv finden, in Freundschaft miteinander leben können. Bevor sie das Problem miteinander klären, vergehen Jahre, in denen sie andere Beziehungen ausleben, bevor sie die gegenseitige Anziehung entdecken. Doch gerade, als sie im Wedding zueinander gefunden haben, verlässt Harry die Courage, und Sally bleibt gekränkt zurück.
Prime-Time-Chefin Constanze Behrends hat das Stück mit Witz nach Berlin transferiert und in der Müllerstraße inszeniert, und da sie die Hauptrolle spielt, hat sie sich ihren Fernsehpartner Knud Riepen als Co-Regisseur ins Haus geholt. Beide haben ganze Arbeit geleistet, wie die umjubelte Vorpremiere bewies. Immerhin war das Haus voller Kritiker, Blogger und Twitterer von livekritik.de, die vor Begeisterung nicht an sich halten konnten.
Natürlich meistert die Behrends die heikle Orgasmus-Szene mit komödiantischer Bravour, ebenso wie die funkelnden Dialoge, aber auch in den stilleren Sequenzen kann sie einen wirklichen Charakter auf die Bühne stellen. Ebenso überzeugend ist der bisher als Komiker aufgefallene Philipp Lang, der besonders stark ist, wenn Harry seine Souveränität gegen Nachdenklichkeit eintauscht. Dass es zu lachen gibt, ist auch das Verdienst der beiden Nebendarsteller. Alexandra Marinescu erntet für ihren stummen Auftritt als wohlbekannte Kiezschlampe Abgangsapplaus und steigert sich in den weiteren Rollen noch. Eine Entdeckung ist Moses Leo, der nicht nur gut aussieht, sondern seine Rollen auch mit viel Selbstironie anreichert. Sein dezenter Thüringer Zungenschlag als Jack ist ein Genuss!
Wieder wird die Videowand mit Geschick eingesetzt. Mal ist man im Buchladen, mal im Mauerpark, an der Böse-Brücke oder im Olympiastadion. Zwischen den Bildern erzählen reale Paare mit Witz davon, wie sie sich gefunden haben (schade, dass die Urheber dieser Videos anonym bleiben!) Ob sich Harry und Sally im Wedding bekommen? In dieser Fassung ist manches überraschend!

Frank Burkhard

Prime Time Theater, Berlin-Wedding, Müllerstraße 163; nächste Vorstellungen 10. und 18. September.

Die Stasi war auch sein Eckermann

Wenn das Ministerium für Staatssicherheit zwischen 1973 und 1988 nicht eine Akte zu Richard A. Zipser geführt hätte, der US-amerikanische Germanist hätte sein Buch „Von Oberlin nach Ostberlin – Als Amerikaner unterwegs in der DDR-Literaturszene“ kaum so schreiben können, wie es jetzt vorliegt. Denn das Gedächtnis des DDR-Geheimdienstes ist viel genauer als das des Autors. Ganz so, wie es Susanne Schädlich im Buch „Immer wieder im Dezember“ (2009) beschrieben hat: „Nach der Lektüre (der ihre Familie betreffenden Stasi-Akten) bin ich auf zynische Weise beruhigt. Auf die Stasi ist Verlass.“ So bildeten die 396 Seiten des von den Mielke-Tschekisten in 15 Jahren dick gefüllten Dossiers auch die Grundlage für die Erinnerungen des Literaturwissenschaftlers, der in den siebziger Jahren am College in Oberlin (Ohio) lehrte und – deshalb auch der alliterierende Titel – 1974 erstmals nach Ostberlin kam. Doch schon im Jahr zuvor war der Stasi zugetragen worden, dass Zipser die Absicht hege, den Honecker-Staat besuchen zu wollen. Ein Yankee an König Erichs Hof? Das konnte nur mit Spionage zu erklären sein! „In den Augen der Stasi“, so Zipser rückblickend, „war ich ein Agent und Provokateur, der sich mit DDR-Schriftstellern treffen wollte, die als Staatsfeinde galten.“
Tatsächlich konnte die Stasi sich alles vorstellen – nur nicht, dass es das ehrliche Interesse an der Literatur des abgeriegelten Landes und ihren Autoren sei, das den US-Amerikaner wiederholt in die DDR kommen ließ. Das wurde bei Zipser im Jahr 1974, bei einem Aufenthalt von Christa Wolf am College in Oberlin, entfacht. Derart begeistert, lud Zipser in den Folgejahren weitere schreibende Gäste nach Ohio ein, so Ulrich Plenzdorf und Jurek Becker, Bernd Jentzsch und Karl-Heinz Jakobs.
Zipsers Vorliebe für DDR-Literatur sollte bald auch wissenschaftliche Fürchte tragen. Er plante eine umfangreiche Sammlung mit Interviews von Schriftstellern des kleinen Landes. Wäre der DDR-Geheimdienst nicht schon längst aktiv geworden, spätestens jetzt hätten in der Normannenstraße alle Alarmglocken geschrillt. Was nichts anderes hieß, als das zahllose IM auf den nervigen Gast aus den USA angesetzt wurden. Es überrascht nicht, unter jenen, die Zipser aushorchten, neben Konrad Reich (1928-2010), den ehemaligen Leiter des Rostocker Hinstorff-Verlags, auch den bekannten Autor Fritz Rudolf Fries zu finden. Sowohl Reich als auch Fries überboten sich mit wichtigtuerischen Auskünften über das angeblich verwerfliche Tun des US-Germanisten. Reich behauptete in einem IM-Bericht über den von Zipser geplanten Interviewband mit DDR-Schriftstellern gar: „Ich glaube, dass das ein Dokument werden kann, das uns mehr Sorgen macht als alle kulturpolitischen Ausfälle einiger Leute in den letzten Jahren.“ So also wurde dem perfiden imperialistischen Klassenfeind die Maske vom Gesicht gerissen: mit Übertreibungen und Lügen. Dass Fries überhaupt noch Zeit fand, Romane zu schreiben, muss überraschen, da Zipser bei der Auswertung jener Berichte, die er, Fries, über ihn, Zipser, verfasste, feststellte, dass Fries sich „zu einem vorbildlichen Informanten und treuen Ausführer geheimdienstlicher Aufträge“ entwickelte. Für seine vorbildliche Tätigkeit überreichte die Stasi Fries alias IM „Pedro Hagen“ am 13. März 1981, nein, keinen Cognac, keine Blumen, sondern nur Honeckers Ladenhüter „Aus meinem Leben“.
1985 wurde eine Einreisesperre gegen Zipser verhängt. Der letzte Eintrag in seiner Stasi-Akte datiert, da der Wissenschaftler seit drei Jahren nicht mehr ins Land kommen durfte, von Mitte März 1988. Der Interviewband erschien, unbehelligt von der Stasi, 1985 unter dem Titel „DDR-Literatur im Tauwetter. Wandel, Wunsch, Wirklichkeit“ in drei Bänden in der Bundesrepublik. Das Beispiel von Richard A. Zipser zeigt, wie wenig dazu gehörte, um beim MfS eine gewaltige Paranoia auszulösen.

Lars Berthold

Richard A. Zipser: Von Oberlin nach Ostberlin. Als Amerikaner unterwegs in der DDR-Literaturszene, Ch. Links Verlag, Berlin 2013. 224 Seiten, 24,90 Euro.

Film ab

Die Linke plakatiert ja gerade „Revolution? Nein […]“ und bietet als Alternative „10 Euro Mindestlohn sofort per Gesetz“. Wahrscheinlich zu recht, denn bei Revolutionen gehen in der Regel viele gar nicht erst hin, andere haben grundsätzlich was dagegen und das Resultat ist überdies häufig nicht so, dass man wirklich davon betroffen sein möchte. Dass der radikale gesellschaftliche Umschwung künftig vielleicht auch ganz anders vollzogen werden könnte, indem man nämlich das System hackt und die Basissoftware zugunsten der Verdammten dieser Erde umschreibt und damit den perfektionierten Postkapitalismus – die Reichen und Schönen dieser Welt haben sich (im Jahre 2154) auf eine Insel der Seligen im erdnahen Orbit separiert – ganz oder jedenfalls fast ganz unblutig mit seinen eigenen Mitteln aushebelt, das ist zur Zeit in dem SF-Märchen „Elysium“ in den Kinos zu besichtigen.
Peter Uehling vermerkte in der Berliner Zeitung, der Film vermesse „die sozialen Umrisse der bereits angelaufenen Katastrophe und führt sie im Sinn eines Verfremdungseffekts dem Zuschauer konkret und dennoch mit allen Mitteln des Spannungskinos vor Augen“. Der Spiegel sprach von einem „großartigen und überraschenden Film über das Auseinanderdriften von Arm und Reich“ und adelte den Streifen zum „klügsten Blockbuster des Sommers“. Ja geht’s noch? Selbst wenn der Regisseur diese Art von Parteilehrjahr intendiert haben sollte: Was hätte der Zuschauer davon? Er gehört in der Regel nicht zu den Reichen und bekommt Seinesgleichen in „Elysium“ als überwiegend hinnehmende, arebellische, um nicht zu sagen gesellschaftspolitisch lethargische Masse vorgeführt, die sich am Ende – Märchen, zumal aus Hollywood, gehen immer gut aus! – glücklich schätzen darf, von einer Handvoll krimineller Menschen-Schleuser, die ohne erkennbare Entwicklung und Logik zu Rebellen wider das System mutieren, befreit zu werden.
Wenn das der „klügste“ Blockbuster des Sommers ist, dann wohl nur, weil alle anderen bisher so demutsdämlichdumm waren. Aber seit wann ist „klug“ ein Kriterium für die Qualität eines Actionfilms. Wer einen solchen sehen will – mit Jodie Forster und Matt Damon spitzenmäßig besetzt –, der wird sich in „Elysium“ keinesfalls langweilen. Zu Fragen bliebe, warum für den Titel nicht das originalsprachliche Elysion (die Insel der Seligen in der griechischen Mythologie) verwendet wurde, sondern die latinisierte Form. Bei Schiller war das zumindest noch dem Reim geschuldet.

Clemens Fischer

„Elysium“, Regie: Neill Blomkamp; derzeit in den Kinos.

Die größte Erfindung der Menschheit

„Würde etwa ein Marsianer die Menschen so betrachten, wie wir beispielsweise Frösche ansehen“, hat Noam Chomsky vor einigen Jahren erklärt, „käme der Marsianer wohl zu dem Schluss, es gebe im Grunde nur eine einzige Sprache mit geringfügigen Abweichungen. Und ich glaube, wir werden irgendwann verstehen, wie das sein kann, und es ist ziemlich klar, dass es so sein muss.“
Heute sind nahezu sämtliche Linguisten der Auffassung, dass Chomsky im großen und ganzen recht hat. Strittig ist nur, wie man erklären kann, dass offenbar allen menschlichen Sprachen derselbe universale Bauplan zugrunde liegt. Hat die Evolution das menschliche Gehirn mit Modulen ausgerüstet, die ausschließlich für sprachliche Kommunikation zuständig sind? Oder gibt es ein angeborenes Lernprogramm, das es ermöglicht, sich diese Fähigkeit mit Leichtigkeit und rasend schnell anzueignen? Oder ist irgendwann eine Ursprache entstanden, aus der die anderen Sprachen samt und sonders hervorgegangen sind?
Der us-amerikanische Linguist und Anthropologe Daniel Everett hingegen stellt jedwede Version einer Universalgrammatik radikal in Frage. In seinen Augen ist die menschliche Sprache nichts anderes als ein kulturelles Werkzeug, das irgendwann erfunden worden ist, um grundlegende Probleme in den Bereichen der Informationsverarbeitung und -speicherung, der Kommunikation und der Kooperation zu lösen. Jede menschliche Sprache sei in hohem Maße durch die spezifischen Zwänge und Anforderungen der soziokulturellen Lebenswelt geprägt, in der sie sich und für die sie sich herausgebildet habe. Mit dieser Erfindung – der bedeutendsten und folgenreichsten der Menschheitsgeschichte – sei zwar auch die babylonische Sprachverwirrung in die Welt gekommen. Doch gerade von sprachlicher und kultureller Vielfalt würden Menschen ungeheuer profitieren.
Daniel Everett hat insgesamt sieben Jahre bei den Pirahã gelebt, einem nur einige hundert Leute umfassenden indianischen Volk im brasilianischen Amazonas-Tiefland. Laut Everett fällt die Sprache dieser Jäger und völlig aus dem Rahmen. Allein schon dieser Umstand spricht seiner Auffassung nach dafür, dass die Verfechter einer Universalgrammatik auf dem Holzweg sein müssen. Laut Everett ist an der Sprache der Pirahã fast alles merkwürdig: Ihr Phoneminventar sei verschwindend klein, ihr Pronominalsystem bloß rudimentär entwickelt, sie kenne keine hypotaktischen Satzkonstruktionen, unterscheide nicht zwischen Singular und Plural, sie verfüge weder über das Imperfekt noch über andere Vergangenheitsformen. Zahlwörter würden nicht zu zu ihrem Repertoire gehören, und selbst für die elementaren Farben habe sie keine eigenständigen Bezeichnungen. All diese sprachlichen Besonderheiten stehen laut Everett in direktem Zusammenhang mit den Lebensverhältnissen der Pirahã.
Es ist schwer zu verstehen, warum Everett zur Begründung und Erläuterung seiner ketzerischen Thesen in erster Linie Befunde über die Pirahã-Sprache heranzieht – eine Sprache, mit der niemand außer ihm selbst einigermaßen vertraut ist. Everett muss sich außerdem den Vorwurf gefallen lassen, die Pirahã-Sprache weitaus bizarrer erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich ist – weil er dazu neigt, ihre verblassten Metaphern wortwörtlich zu verstehen.
Everett betont, dass die menschliche Sprache erst als kulturelles Werkzeug begriffen werden kann, wenn es gelingt, die Erkenntnisse der modernen Sprachwissenschaft mit denen etlicher anderer wissenschaftlichen Disziplinen wie der Neurobiologie, der Anthropologie, der Ethnologie, der Psychologie und der Soziologie zu verknüpfen. Das ist ihm nicht gelungen. Aber dafür hat er das Verdienst, die Mängel und Unklarheiten universaler Grammatiken präzise herausgearbeitet zu haben. Ein anfechtbares, aber ausgesprochen anregendes Buch.

Frank Ufen

Daniel Everett: Die größte Erfindung der Menschheit, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013, 463 Seiten, 24,99 Euro.

Musikalische Zugaben zum Firmenjubiläum

Einen CD-Sampler zum Firmenjubiläum? Für eine Konzertagentur sicherlich ein passendes “Give away”, was für die Besucher des Jubiläumsgeburtstags-Festivals (25 Jahre Konzertagentur Berthold Seliger“) im Juli 2013 in Berlin als Dreingabe, quasi als Zugabe, bereitgestellt worden ist. Und elf Zugaben sind es auch, die in Livekonzerten der letzten Jahre von Interpreten, die durch die Konzertagentur Berthold Seliger betreut werden, mitgeschnitten worden sind.
Berthold Seliger hat es verstanden, eine qualitativ mehr als respektable Liste an Interpreten, speziell aus den Genres „Alternative Rock“ und „Weltmusik“ als Agent für Konzerte in Deutschland und im europäischen Ausland zu akquirieren. Man kann trefflich darüber streiten, ob die Lieder aus dem Zugabeblock wirklich immer als ultimative Erinnerungsstücke eines Konzerts taugen. Ob es nicht häufig, so die subjektive Erfahrung des Rezensenten, das letzte Lied vor dem Zugabeblock ist, das den nachhaltigsten Eindruck hinterlässt. Schwamm drüber… es ist jedenfalls eine gelungene Auswahl, die unter dem Titel „Absolutely Live 2013 – Zugaben“ veröffentlicht worden ist. Die fünf „Absolutely Live“ – Vorgängeralben sind übrigens ebenfalls in limitierter Auflage erschienen und zwischenzeitlich längst vergriffen. Es handelt sich hierbei um ungefilterte Liveaufnahmen aus Konzerten in jüngster Zeit, wenngleich für den CD-Hörer mit den elf Stücken nicht immer eine prickelnde Liveatmosphäre eingefangen worden ist.
Klare Favoriten und Anspieltipps sind für mich die Lieder von Depedro, The Walkabouts, Bratsch, Lambchop und Calexiko & Blind Pilot. Gerade bei diesen Stücken ist ein bewegungsloses Zuhören im häuslichen Schaukelstuhl nahezu unmöglich. Die limitierte Auflage ist kein Marketing-Gag. Deshalb gilt in diesem Falle der dringende Rat, bei Interesse baldmöglichst den CD-Kauf zu tätigen, obgleich die Angabe im Booklet, die CD sei im freien Handel nicht erhältlich, nicht ganz zutreffend ist. Denn sie wird auch vom Glitterhouse-Mailorder vertrieben – dort hat sie der CD-Rezensent käuflich erworben. Damit braucht er nicht das Verdikt des Agenturchefs Berthold Seliger zu fürchten, der in seinem regelmäßig erscheinenden Mailnewsletter immer wieder Journalisten brandmarkt, die sich bei Konzerten reichlich mit Freikarten eindecken wollen.
In besagten Newsletter-Ausgaben erweist sich Berthold Seliger als gnadenlos kritischer Beobachter der aktuellen politischen und kulturellen Zeitläufte und genießt es wohl auch, seine teils unorthodox linken, teils kruden Ansichten (etwa über Nordkorea) zu verbreiten. Bei manchen seiner Anmerkungen ist die Grenze von Kritik zu (vermeintlicher) Rechthaberei und Besserwisserei fließend. Und vermutlich ärgert es ihn wohl selbst am meisten, dass in seiner persönlichen Jubiläumsschrift im CD-Booklet das Gründungsjahr seiner Agentur fälschlicherweise mit 1998 angegeben ist. Oder wollte er hier seine Kritiker testen? Dieser Lapsus schmälert jedenfalls nicht sein Gespür für interessante musikalische Bands und Einzelinterpreten. Auf „Absolutely Live 2013“ ist dies nachzuhören…

Thomas Rüger

Various Artists: Absolutely Live 2013 – Zugaben. CD-Sampler, Almaviva Records, zirka 10,00 Euro; Bezug über die Konzertagentur Berthold Seliger, Berlin oder den Glitterhouse Mailorder, Beverungen.

Big brother war gestern

Forschern der Universität Washington in Seattle ist es erstmals gelungen, die Handbewegung eines anderen Menschen mit Gedankenkraft fernzusteuern. „Es war sowohl aufregend als auch unheimlich, eine bloße Vorstellung aus meinem Gehirn in eine tatsächliche Handlung eines anderen Gehirns verwandelt zu sehen“, hat der beteiligte Informatiker Rajesh Rao geschwärmt. Die direkte Verknüpfung zweier Gehirne könne in der Zukunft für wortlose Kommunikation zur Anwendung kommen. Natürlich halten die Wissenschaftler in Sachen manipulativer Verwendung dieser Erfindung Entwarnung bereit: Es gäbe keinerlei Möglichkeit, diese Technologie an einer Person ohne deren Wissen oder ohne ihre Einwilligung einzusetzen. Das mag so gemeint sein, der Vater der Atombombe, Robert Oppenheimer, hatte seinerzeit schließlich deren Einsatz verurteilt. Noch braucht es in Sachen Gedankensteuerung ein bisschen Technik, aber daran sollten weder Wissenschaft noch Politik verzweifeln – die Hardwarefrage ist noch immer rasch gelöst worden und auch eine Art Telepathievariante ist gewiss bereits in Arbeit, um die Beteiligten von Kabelsalat und Internet unabhängig zu machen. Verurteilen kann man den Missbrauch ja dann immer noch.

jaku