16. Jahrgang | Nummer 4 | 18. Februar 2013

Adolf Dresens Kritik der Marxschen Ökonomie

von Erik Baron

Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, sei Verrat, heißt es bei Müller. Gleiches lässt sich auf Marx beziehen: nur so kann lebendige Wissenschaft vor dem Verfall ins Dogma geschützt werden. Doch sich mit Marx auseinanderzusetzen, ihn gar zu kritisieren, war in der DDR Blasphemie. Hier wurde Marx auf den Sockel gehoben, wo er zur Statue erstarrt war. Eine öffentliche Auseinandersetzung mit seiner Theorie fand nicht statt – sie wurde in die Hinterzimmer verbannt und schmorte meist im eigenen Saft. Auf diese Weise ist Bahros Alternative entstanden, für dessen Verbreitung er 1978 verhaftet wurde. Fast zeitgleich setzte sich auch Adolf Dresen mit Marx auseinander und verfasste 1976 ein Manuskript mit dem Titel Zur Kritik der Marxschen Ökonomie, ein Manuskript, dessen Veröffentlichung von Dresen nicht vorgesehen war: in der DDR würde es nie erscheinen, im Westen wollte er es nicht verlegt wissen. Es sollte eine Diskussionsgrundlage für eben jene Hinterzimmer sein, aus denen heraus das erstarrte Dogma namens Marxismus reanimiert werden sollte. Friedrich Dieckmann, damaliger Weggefährte Dresens, hat nunmehr diesen und andere ergänzende Texte unter dem an Stirner erinnernden Titel Der Einzelne und das Ganze herausgegeben.
Sprung zurück ins Jahr 1974: Der Theaterregisseur Adolf Dresen war eingeladen, auf einer Veranstaltung des Theaterverbandes der DDR anlässlich des 25. Jahrestages der DDR eine Rede zu halten. Doch Dresen sagte die Teilnahme an der Veranstaltung ab, seine Rede hat er nicht gehalten. Das Manuskript jedoch lag fertig in der Schublade und wurde von Dieckmann nunmehr in diesem Band der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 1974 – war es nicht jene Zeit, in der sich der real existierende Sozialismus zu liberalisieren begann, weltoffener wurde? War es nicht jene Zeit, in der es auf dem Gebiet der Kultur keine Tabus mehr geben sollte? War es nicht jene Zeit, in der Filme wie Die Legende von Paul und Paula entstanden oder Buchverlage ihre Schubladen öffnen konnten? Offensichtlich existierte in jener Zeit auch eine andere Wahrnehmung der damaligen Gegenwart. Adolf Dresen hatte sie für seine nichtgehaltene Rede ausformuliert: „Wir alle haben das dumpfe Gefühl von Niedergang oder Krise… Daß es nicht mehr ist als ein dumpfes Gefühl, liegt vielleicht daran, daß wir mittlerweile schon gar kein Vokabular mehr haben, etwas anderes als Positives überhaupt auszudrücken. Oder auch, weil der Niedergang der Kritik, die ihn registrieren müßte, völlig adäquat ist. Das Bier ist kein Bier mehr, was dadurch ausgeglichen wird, daß die Zigarette keine Zigarette mehr ist.“. Ist die vermeintliche Liberalisierung jener Jahre vielleicht nur eine Legende? Obgleich Dresen über die Stagnation des Theaters spricht, zieht er den Bogen natürlich weiter. Für ihn ist das Problem des real existierenden Sozialismus viel komplexer, als dass es sich mit ein paar Liberalisierungsbrocken aus der Welt schaffen ließe. Dresen misst die Erscheinungsform der gegenwärtigen Gesellschaft mit dem Anspruch aus dem Marxismus. Für ihn ist die Praxis der Spiegel der Theorie, und er muss feststellen, dass dieser Spiegel blinde Flecken aufweist. „Der wichtigste Widerspruch der historischen Praxis zur marxistischen Theorie, von dem sich alle anderen ableiten, ist, dass in den Ländern des entwickelten Kapitalismus die proletarische Revolution bisher ausblieb, während Revolutionen, die sich als die von Marx erwarteten begreifen, in Ländern stattfanden, in denen es kaum eine kapitalistische Entwicklung gab“, beginnt Dresen seine Marx-Kritik. Die entscheidende Frage nun für ihn: Liegt dieser Widerspruch an der Praxis oder an der Theorie selbst? Sind solch repressive Erscheinungsformen wie der Stalinismus in all seinen Spielarten nur die Deformation oder die Konsequenz des Marxismus? Und Dresens Urteil ist eindeutig: Marx konnte bestimmte Entwicklungen nicht voraussehen, die Irrtümer lägen bereits in seiner ökonomischen Theorie! Starker Tobak für einen Marxisten! Doch Dresen dringt mit einem Erfahrungsschatz, über den Marx nicht verfügen konnte, tief in dessen ökonomische Theorie ein und versucht, die Irrtümer aufzudecken.
Hauptkritikpunkt an Marx ist dessen Verkennung der Rolle der Konkurrenz, so Dresen. Durch aktive Konkurrenz (im Vergleich zu passiver Konkurrenz, die nach dem Wertgesetz den Preis auf den Wert bringt, bringt die aktive Konkurrenz durch einzelne Produktivitätsvorteile den Wert auf den Preis), gelingt es dem kapitalistischen System immer wieder aufs Neue, sich selbst zu reformieren und den Produktionsprozess produktiv zu halten. Marx’ Darstellung der Produktionsverhältnisse vor allem als Eigentumsverhältnisse, so Dresen, sei falsch: „Die Geschichte der Produktionsweise ist auch Geschichte der Produktivität“. Und die wird zuvörderst durch aktive Konkurrenz bestimmt und vorangetrieben. Nach Marx’ Theorie stellten die Produktionsverhältnisse alsbald die Fessel für die sich weiterentwickelten Produktivkräfte dar, was zur sozialen Revolution und einer neuen Produktionsweise führen würde. Am Lauf der Geschichte seit Marx ist aber zu erkennen, dass sich mit den Produktivkräften auch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse fortlaufend weiterentwickelt haben, was dazu führte, dass das Proletariat, die vermeintlich revolutionäre Klasse, immer weiter verbürgerlicht wurde. „Marx hat nicht vorausgesehen, daß einmal eine Befriedigung des Proletariats möglich sein würde ohne seine Befreiung, seine Saturierung ohne Verschwinden der Ausbeutung.“. Und weiter: „Er hat nicht vorausgesehen, daß die Revolution, wo sie stattfand, Entfremdung nicht beenden würde, und wo sie nicht stattfand, Verelendung, die doch ihr handgreiflicher Ausdruck schien, verschwinden könnte bei wachsender Entfremdung.“ Es gelang dem kapitalistischen System, die ihm innewohnende Ausbeutung auszulagern: zum einen in die Ausbeutung der Kolonien, zum andern in die der Natur. Das alles führte zur Saturierung des Proletariats. Das sieht heute, knapp vierzig Jahre später, nach dem Wegfall des gesellschaftlichen Korrektivs, schon wieder anders aus. Doch im Realsozialismus, so konstatierte Dresen in den siebziger Jahren, „wurde mit dem Eigentum an Produktionsmitteln die Entfremdung der Arbeit als Arbeitsteilung nicht aufgehoben, beseitigt wurde mit der Autonomie der Betriebe aber die Konkurrenz, d.h. der permanente Druck auf die Erhöhung der Produktivität“. Und Entfremdung der Arbeit könne nicht aufgehoben werden, da sie per Definition entfremdet, immer Teilarbeit aufgrund von Arbeitsteilung ist! Somit befand sich der Realsozialismus im Widerspruch, die innere Triebkraft der Konkurrenz beseitigt zu haben und sich gleichzeitig als Ganzes in System-Konkurrenz zum Realkapitalismus zu befinden. Also musste mit dem revolutionären Bewusstsein eine neue innere Triebkraft als Äquivalent zur Konkurrenz aktiviert werden: Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit. Was für Marx der Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit war, die bewusste Gestaltung von Geschichte, ist für Dresen die Perversion des Marxschen Materialismus:  „Indem Geschichte bewußt vollzogen wird, bestimmt nicht mehr das Sein das Bewußtsein; es ist nicht ein Reich der Freiheit, das da erwartet wird, sondern der Hegelsche Idealismus – und erweisen wird es sich als Stalinismus… Das versprochene Reich der Freiheit, es kommt als blindeste Despotie“. Und zugespitzt: „Die befreite Arbeit in Gemeineigentum überführter Produktionsmittel heißt Workuta.“. Doch je weiter man nach Westen und im Zeitstrahl Richtung Gegenwart kommt, desto gemäßigter erscheint Workuta, desto befriedender wirkt Despotie – um am Ende doch zum gleichen Resultat zu führen: „Der Druck auf die Mauer wird von denen selbst erzeugt, die sie errichten ließen, da sie nichts anderes mehr, nur vorerst weniger zu bieten haben als die drüben, was sie in den ‚Intershops’ jedermann offenbaren. Sie versuchen die Mäuler mit Fressen zu stopfen und machen Kommunismus zum Konsumismus, Freiheit zur Sattheit, Frieden zum Friedhof.“ Was der linke Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler  2012 als Grundproblem der DDR in der Systemauseinandersetzung des Kalten Krieges zusammenfasste: dass die Bevölkerung der DDR versucht wurde, mit Konsum (nach westlichem Vorbild) ruhigzustellen: „Somit wurde mit dem propagierten Konsumziel die Struktur des Verbrauchs eines kapitalistischen Landes zum vorgegebenen Staatsziel“ (Roesler Geschichte der DDR) – formulierte Dresen 1976 bereits viel prononcierter. Dresen also beantwortet „die Blochsche Frage, ob sich der Marxismus in der sowjetischen Realität zur Kenntlichkeit oder zur Unkenntlichkeit  verändert“ habe, mit einem klaren: zur Kenntlichkeit hin. Und also könne es eine Kritik des Stalinismus vom Marxismus aus nicht geben, „denn der Stalinismus ist nicht nur Deformation, sondern Konsequenz des Marxismus“. Nun hat aber Dresen genau dies getan: die stalinistische Praxis und die Marxsche Theorie gleichermaßen hinterfragt – mit marxistischer Methode: durch Infragestellen der Theorie sie gleichsam anwenden und weiterentwickeln. Nur das hält eine Wissenschaft lebendig. Dresen abstrahiert wie Marx vom konkreten Erscheinungsbild der Gesellschaft, geht wie Marx zurück auf die Trennung von Wert und Gebrauchswert als entscheidenden Ansatz, um nachzuweisen, „wie Ausbeutung gerade in Äquivalententausch stattfinden kann“, um schlussendlich wieder Rückschlüsse für die konkrete Gegenwart zu ziehen. Warum aber wirft Dresen Marx den Verstoß gegen die eigene Methode vor?: „Die revolutionäre Grundentscheidung trifft Marx nicht als Konsequenz aus seinen ökonomischen Studien, er hat sie vielmehr schon getroffen, ehe er überhaupt mit dem Studium der Ökonomie beginnt, sie geht bereits in den Ansatz des ‚Kapitals’ ein.“ Meint Dresen hier nicht das gesellschaftliche Erscheinungsbild, das intuitiv nach revolutionärer Veränderung schreit, das Marx als Ausgangspunkt seiner Abstraktion zum Wesen hin nimmt? Und geht Dresen nicht ähnlich vor? Dresens ökonomische Studien laufen allesamt auf das fulminante sechste Schlußkapitel „Freiheit usw.“ hin. Und doch findet zwischen dem fünften und sechsten Kapitel mit dem Einzug der Ironie ein Bruch statt. Fast scheint es, als habe Dresen für seine klare Absage an den real existierenden Sozialismus im Nachhinein eine ökonomische Determination benötigt, um sie halbwegs sattelfest zu gestalten. Was ja methodologisch völlig in Ordnung ist: ausgehend von der Erscheinung, die zu intuitiven Konsequenzen drängt, zur Ursache vordringen, um umgekehrt wissenschaftlich fundiert auf die Erscheinung einwirken zu können. Dies als Vorwurf zu formulieren, ist zumindest fragwürdig. Und eine wirkliche Absage an den Marxismus war Dresens Streitschrift gegen die Marxsche Ökonomie auch nicht. Im Jahr 2000, ein Jahr vor seinem Tod, schreibt er: „Es wird keine Linke geben, die Marx links liegenläßt.“. Dieckmann bringt es auf den Punkt: „Dresens Generalrevision der Marxschen Theorie war das Werk eines Insiders, den es drängte, ins Zentrum der Trugschlüsse zu gelangen; mit dem Resultat verfuhr er so, wie es Kopernikus lange Zeit mit seiner astronomischen Systemkritik getan hat: er verschloß sie. Das Gefühl, mit Dynamit zu hantieren, ließ den Dynamiker vorsichtig sein.“ Selbst als Dresen 1976 in den Westen ging, schloss er eine dortige Veröffentlichung aus: er wollte sich nicht von falscher Seite instrumentalisieren lassen. Den Kontakt in die DDR hatte er stets aufrechterhalten – so gut es eben ging. Seine Weggefährten Friedrich Dieckmann und Maik Hamburger erinnern sich in nachgelagerten Kapiteln an den großen Regisseur und – wie wir jetzt wissen – ausgewiesenen Ökonomen.
„Die Gedanken waren auch in der DDR frei“ – auf diese ironische Zuspitzung bringt Friedrich Dieckmann seinen Erinnerungsessay über Adolf Dresen und verweist auf die zu DDR-Zeiten übliche Verfahrensweise mit kritischen Schriften, wie Dresens Marx-Kritik: Die Verbreitung einer verbotenen Schrift wiegt aus strafrechtlicher Sicht schwerer als deren Verfassen. Dieckmann erzählt, wie Dresens Schrift in die Hände der Staatssicherheit geraten ist: der Magdeburger Intendant Hans-Diether Meves, der Anfang der 70er Jahre mit dem Versuch der Uraufführung von Heiner Müllers Mauser für Aufsehen und anschließende Entlassung sorgte, fand am Berliner Ensemble bei Ruth Berghaus in der Dramaturgie Unterschlupf, wo zu der Zeit auch Dieckmann tätig war. Der Magdeburger Skandal um Mauser sorgte für einen pro-forma-Vertrauensvorschuß. Mit Einverständnis von Dresen gab Dieckmann auch Meves das Manuskript zu lesen – der es als IMS auftragsgemäß in seiner Behörde ablieferte (Meves war seit August 1961 als IMS geführt). Sein Magdeburger Versuch, Mauser zu inszenieren, war selbst nur eine Inszenierung der Staatssicherheit, um Meves in die gewünschten Kreise einschleusen zu können. Meves’ selbstgewählter Deckname „Saint-Just“ spricht für ihn/sich selbst.
Diese Episode und die nicht zu leugnenden Tatsache, dass auch Adolf Dresen, wenn er sich nicht in den Westen abgesetzt hätte, wie Bahro verhaftet und verurteilt worden wäre, scheint die Richtigkeit des Ansatzes seiner kritischen Marx-Analyse im Nachhinein zu legitimieren. Aber auch für ihn gilt: Dresen zu gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.
In Zeiten heutiger Finanzkrisen gehört Dresens Marx-Kritik in der Tat auf den Prüfstand der Geschichte. Vielleicht lassen sich aus ihr Rückschlüsse für eine gerechtere Wirtschaftsordnung ableiten, ohne in die Fehler realsozialistischer Experimente zu verfallen.

Adolf Dresen: Der Einzelne und das Ganze. Zur Kritik der Marxschen Ökonomie, herausgegeben von Friedrich Dieckmann, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2012, 16 Euro