15. Jahrgang | Nummer 21 | 15. Oktober 2012

Die guten Fragen des Antonio Gramsci

von Razmig Keucheyan

Warum ist die Arbeiterrevolution, die 1917 in Russland erfolgreich war, in allen anderen Ländern gescheitert? Warum wurde die Bewegung damals in allen anderen europäischen Ländern niedergeschlagen – in Deutschland und Ungarn, aber auch im Italien der „Turiner Rätebewegung“, wo die Arbeiter Norditaliens 1919/1920 mehrere Monate lang ihre Fabriken besetzt hatten?
Diese Fragen waren für Antonio Gramsci der Anstoß, seine berühmten „Gefängnishefte“ zu verfassen. Gramsci war 1891 in Sardinien geboren und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Zum jungen Revolutionär wurde er erst in Turin, wo er dank eines (sehr mageren) Stipendiums ein Studium aufnehmen konnte. Hier hatte er sich zunächst der Sozialistischen Partei Italiens (PSI) angeschlossen und 1919 die Arbeiterzeitung L’Ordine Nuovo ins Leben gerufen. 1921 spaltete sich der linke Flügel des PSI ab und wurde zur Kommunistischen Partei Italiens (PCI), für die Gramsci 1924 ins Parlament gewählt wurde. Am 8. November ließ ihn die faschistische Regierung verhaften, eineinhalb Jahre später wurde er zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.
Gramscis „Gefängnishefte“ gehören zu den bedeutenden politischen Schriften des 20. Jahrhunderts. Sie entstanden wenige Jahre nach dem Ende der Turiner Rätebewegung und setzen sich mit dem Scheitern der Revolutionen in Europa und den Niederlagen der Arbeiterbewegung in den 1920er und 1930er Jahren auseinander. Diese Fragen stellen sich heute, 75 Jahre nach Gramscis Tod, auch für diejenigen Linken, die der Suche nach einer anderen Welt noch nicht abgeschworen haben.
Diese Frage stellen sich allerdings auch Leute, die das Entstehen einer solchen neuen Welt mit allen Mitteln verhindern wollen. „Im Grunde habe ich mir die Analyse von Gramsci zu eigen gemacht: Die Macht erobert man durch Ideen. Es ist das erste Mal, dass ein Mann der Rechten zu diesem Kampf antritt“, erklärte Nicolas Sarkozy 2007, kurz vor dem ersten Wahlgang zur Präsidentenwahl. Dass die Ultrarechte, aus der einige Berater Sarkozys stammten, den Autor der „Quaderni del carcere“ für sich vereinnahmen wollen, ist nicht neu. Es waren aber vor allem die revolutionären Denker, die während des gesamten 20. Jahrhunderts die Schriften Gramscis immer herangezogen und auf neue, originelle Weise interpretiert haben.
Dass die Revolution in Russland, nicht aber in Westeuropa erfolgreich war, erklärt Gramsci mit dem Zustand des Staats und der Zivilgesellschaft. Im zaristischen Russland lag die Macht ganz in den Händen des Staats; die Zivilgesellschaft – Parteien, Gewerkschaften, Unternehmen, Presse, Verbände – war wenig entwickelt. Um die Macht zu erobern, mussten die Bolschewiki vor allem den Staatsapparat übernehmen: Armee, Verwaltung, Polizei, Justiz. Da es nur eine rudimentäre Zivilgesellschaft gab, hatte die Staatsmacht mit dieser leichtes Spiel. Aber war der Staat einmal erobert, begannen die Probleme: Bürgerkrieg, Kampf um die Ankurbelung der Produktion, das schwierige Verhältnis zwischen Arbeitern und Bauern.
In Westeuropa hingegen hatte sich die Zivilgesellschaft im Zuge der industriellen Revolution zu einer relativ stabilen und unabhängigen Größe entwickelt. Hier reiche es also nicht aus, den Staat zu erobern, argumentierte Gramsci. Man müsse auch die Herrschaft über die Zivilgesellschaft erringen, die sich aber nicht mit den gleichen Methoden erobern lässt. Deshalb müsse sich die soziale Veränderung hier in anderen Formen vollziehen als in Russland. Gramsci hielt Revolutionen in Westeuropa zwar nicht für unmöglich, aber er sah sie vor allem als eine Etappe in einem langfristigen „Stellungskrieg“. Gramsci bekannte sich durchaus zur russischen Revolution. Er bewunderte Lenin, den er in den „Gefängnisheften“ an vielen Stellen gewürdigt hat. Er erkannte aber auch, dass Treue zur Revolution bedeutet, bei ihrer Umsetzung in die Praxis neue Wege zu gehen. Auf dieser Einsicht beruht sein Hegemoniekonzept. Der Klassenkampf muss laut Gramsci auch die kulturelle Dimensionen umfassen. Denn er muss sich der Frage stellen, wie die „subalternen Klassen“ für die Revolution gewonnen werden können. Für Gramsci beruht erfolgreiche staatliche Herrschaft auf dem doppelten Fundament von Macht und Konsens. Dies sind die beiden Säulen der Hegemonie. Wenn die hegemoniale Macht die Zustimmung der Bevölkerung verliert – wie zum Beispiel 2011 in Tunesien und Ägypten –, sind die Verhältnisse reif für einen Umsturz.

Die „Gefängnishefte“ erschienen erstmals Ende der 1940er Jahre. Für die Edition verantwortlich war PCI-Generalsekretär Palmiro Togliatti, der sich bis Anfang der 1960er Jahre um die Verbreitung der Schriften seines verstorbenen Genossen bemüht hat. Das Werk Gramscis fasziniert und inspiriert seit seinem Erscheinen all jene Intellektuellen, die an den Ideen der Oktoberrevolution festhalten und sie zugleich an gesellschaftspolitische Verhältnisse anpassen wollen, die mit dem Russland von 1917 kaum etwas gemein haben. Das erklärt die schnelle internationale Verbreitung von Gramscis Thesen und die Entstehung von Gramsci-Zirkeln in allen Ecken der Welt. Insofern kann man die „Gefängnishefte“ als eine frühe kritische Theorie von globaler Reichweite sehen.
Wie lebendig Gramscis Ideen geblieben sind, lässt sich an drei Beispielen aus drei Kontinenten illustrieren. In Argentinien begann eine intensive Auseinandersetzung mit Gramsci schon Mitte des 20. Jahrhunderts. In anderen lateinamerikanischen Ländern wie Brasilien, Mexiko oder Chile setzte das Studium der „Gefängnishefte“ erst später ein. Dass Gramsci in Argentinien besonders schnell und gründlich rezipiert wurde, lag zum Teil an den vielen italienischen Immigranten. Hinzu kommt, dass zentrale Kategorien Gramscis, wie „Hegemonie“, aber auch „Cäsarismus“ oder „passive Revolution“, dazu beitragen konnten, das typisch argentinische Phänomen des Peronismus zu erklären.
In der Folge wurde Gramsci immer wieder zur Analyse der „progressiven“ oder „entwicklungsfördernden“ Militärregimes herangezogen, die damals in Lateinamerika an die Macht kamen – neben Juan Perón in Argentinien auch Lázaro Cárdenas in Mexiko oder Getúlio Vargas in Brasilien. Diese Staaten entwickelten Formen der „konservativen Modernisierung“ – jenseits von Revolution und Restauration –, die im 20. Jahrhundert in vielen Ländern der Dritten Welt praktiziert wurden. Für diesen ambivalenten politischen Prozess prägte Gramsci in seinen Überlegungen zur Entstehung des italienischen Nationalstaats im 19. Jahrhundert (und allgemeiner des Risorgimento) den Begriff der „passiven Revolution“. An der Spitze steht in manchen Fällen ein „Cäsar“, ein charismatischer Führer, der eine unmittelbare Verbindung zu den Massen herstellt. Auch dafür hat Lateinamerika früher und heute etliche Beispiele zu bieten.
Autoren wie José Aricó, Juan Carlos Portantiero, Carlos Nelson Coutinho oder Ernesto Laclau haben in den 1960er und 1970er Jahren neue Auslegungen der „Gefängnishefte“ vorgelegt, deren Einfluss weit über Lateinamerika hinausreichten. Gramscis Beispiel folgend engagierten sich viele seiner wichtigsten Interpreten zugleich in den revolutionären Kämpfen, die in dieser Epoche den Kontinent erschütterten.
Am anderen Ende der Welt kamen die Ideen des italienischen Intellektuellen in den 1960er Jahren auch in Indien an. In seiner berühmten Kritik am „Orientalismus“, also an der Wahrnehmung und Darstellung des „Orients“ in der westlichen Welt, berief sich Edward Said – einer der Begründer der Postcolonial Studiesebenfalls auf Gramsci. Unter dem Einfluss von Said, aber auch von marxistischen Historikern wie Eric Hobsbawm und E. P. Thompson, entstand in den 1970er Jahren ein indischer Zweig der postkolonialen Studien: die Subaltern Studies. Diese besonders durch Ranajit Guha, Partha Chatterjee und Dispesh Chakrabarty vertretene Strömung bezieht sich schon in ihrem Namen direkt auf Gramsci. Der Ausdruck „subaltern“ erscheint in der Tat in der Überschrift des „Gefängnishefts 25“ mit dem Titel: „An den Rändern der Geschichte (Geschichte der subalternen gesellschaftlichen Gruppen)“. Die „Ränder der Geschichte“ sind die gesellschaftlichen Gruppen, die in den „offiziellen“ Geschichtsbüchern fehlen, aber die gesellschaftliche Ordnung umstürzen können, wenn sie einmal in Bewegung kommen.
Die Verbreitung von Gramscis Ideen, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Italien einsetzte und in den 1970er Jahren Indien erreichte, erklärt sich nicht zuletzt durch die bäuerlich geprägten Sozialstrukturen in den betreffenden Ländern. In dem Essay „Einige Gesichtspunkte zur Frage des Südens“, den Gramsci 1926 kurz vor seiner Verhaftung verfasste, empfahl er ein Bündnis zwischen der zahlenmäßig unterlegenen, aber ökonomisch und politisch aufsteigenden Arbeiterklasse im Norden und den damals noch zahlreichen Bauern und Landarbeitern im Süden. Die indische Subaltern Studies Group empfahl fünfzig Jahre später für ihr Land die gleiche Strategie.
Eine dritte Strömung entwickelt anhand der Konzepte des Autors der „Gefängnishefte“ neue Ansätze einer Geopolitik: eine neue Theorie der internationalen Beziehungen, die auch als „Neogramscianismus“ bezeichnet wird. Dessen Begründer ist der Kanadier Robert Cox, ein innovativer Marxist, der einige Jahre als Forschungsdirektor bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf tätig war.
Zum Kreis der Neogramscianer gehören auch Autoren wie Kees Van der Pijl, Henk Overbeek und Stephen Gill, die in ihren Büchern die politische Einheit Europas analysieren und dabei versuchen, die gegenwärtige Krise zu verstehen. Deren Ursache liegt ihrer Meinung nach darin, dass das europäische Projekt es nicht geschafft hat, die aktive Zustimmung der Völker des Kontinents zu erlangen. Damit sich aber eine Hegemonie dauerhaft etablieren kann, sei es auf einzelstaatlicher oder europäischer Ebene, müssen die Herrschenden die Beherrschten überzeugen, dass das Projekt zumindest teilweise ihrem Interesse dient.
Als einer der bedeutendsten Intellektuellen des vergangenen Jahrhunderts hat Antonio Gramsci in Italien und anderswo auf der Welt am Aufbau einer „Partei der Unterdrückten“ mitgewirkt. Er war ein Mann, der Theorie und Praxis zu verbinden verstand. Von den meisten kritischen Intellektuellen kann man das heute leider nicht sagen.

Aus: Le Monde diplomatique vom 10.8.2012 (www.monde-diplomatique.de/pm/.home). Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.