15. Jahrgang | Nummer 22 | 29. Oktober 2012

Bemerkungen

Zwei aktuelle Gründe fürs Bode-Museum

Dass das vor einigen Jahren neu eröffnete Bode-Museum zu Berlins musealen Spitzenadressen zählt und die dortigen ständigen Präsentationen einen dauerhaften Grund hergeben, dem Haus hin und wieder einen Besuch abzustatten, wird hier nur deswegen erwähnt, damit die Überschrift nicht zu irrigen Annahmen – weniger über das Museum, denn über den Sachverstand des Schreibers – Anlass gibt. Die zwei (zusätzlichen) aktuellen Gründe resultieren aus Sonderausstellungen.
Deren eine zeigt Kleinode spätmittelalterlicher Plastik – die 37 Trauernden (Pleurants) vom Grab des Herzogs von Burgund, Johann Ohnefurcht. Der Hofbildhauer Juan de la Huerta schuf die etwa 40 Zentimeter hohen Alabasterfiguren zwischen 1443 und 1456. Sie zeigen Mitglieder der damaligen Gesellschaft – überwiegend Kleriker, aber auch einige Laien, und ausschließlich Männer – in ihrer Trauer um den Verstorbenen. Was der Bildhauer diesen Skulpturen an individueller Plastizität – Körperhaltungen und Mimik betreffend – sowie an raffinierten Details von Kapuzen verhangenen Köpfen über Gürtelschnallen bis zu Rosenkränze haltenden Händen in den Faltenwürfen von Kuttenträgern mitgegeben hat, das sucht Seinesgleichen.
Heute haben die Pleurants ihren Standort nicht mehr in der Kartause von Champmol, die sich die mächtigen Herzöge von Burgund einst für ihre Gräber errichten ließen, sondern im Musée des Beaux-Arts in Dijon, und weil dort derzeit umgebaut wird, sind die Figuren nun noch bis zum 3. Februar in Berlin zu sehen.
Anschließend lohnt ein Gang in die Kelleretage des Hauses auf der Museumsinsel. „Schätze des Glaubens“ heißt die zweite Exposition, die Teile des Hildesheimer Domschatzes sowie sakrale mittelalterliche Kostbarkeiten aus dem Bestand des Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin zeigt, darunter Exponate aus dem so genannten Welfenschatz, – allesamt „Zeugnisse tiefen Glaubens und höchster Kunstfertigkeit“, wie es auf der Internetseite zur Ausstellung treffend heißt.
Angesichts der dort zu sehender schwergewichtigen, teils 1.000 Jahre alten in Leder samt Holzkern eingebundenen Folianten, verharrte der Betrachter nicht nur ehrfurchtsvoll, sondern lobte sich in leicht blasphemischer mentaler Abschweifung, weil gern im Bette lesend, zugleich die Erfindung des Taschenbuches.
Diese Schätze unternehmen ihren Ausflug ins Bode-Museum, der noch bis zum 1. April andauern wird, ebenfalls wegen Umbauten in ihren Stammhäusern. Da möchte man doch hoffen, dass dergleichen Tätigkeiten auch im Louvre oder in der Eremitage nicht mehr lange auf sich warten lassen mögen.

Alfons Markuske

Bode-Museum auf der Berliner Museumsinsel; geöffnet täglich (außer montags) 10 – 18 Uhr; donnerstags bis 22.00 Uhr. Eintrittspreis: 8,- Euro, ermäßigt 4,- Euro.

 

Film ab (I)

Wer als Cineast hierzulande einen Faible für den rabenschwarzen Humor solcher Filme wie „Fargo“ von den Gebrüdern Coen, „Bube, Dame, König, Gras“ von Guy Ritchie oder gar „Pulp Fiction“ von Tarantino hat, der kommt bei deutschen Streifen eigentlich nie auf seine Kosten. Die Ausnahme der jüngsten Zeit ist „Mutter muss weg“ betitelt und lief dieser Tage im ZDF. Zur Primetime! So bitterböse und stilsicher kommt diese Geschichte vom unterdrückten, mit Mordphantasien schwanger gehenden Muttersöhnchen (Bastian Pastewka, grandios) und seiner herrischen, gut betuchten Mama (Judy Winter, at her best) daher, dass man versucht ist, dem Film-Team ein „Weiter so!“ zuzurufen. Heike Hupertz schrieb in der FAZ:  „Wenn jemand Komödien, zumal solche im Fernsehen, für überflüssig oder bestenfalls belanglos hält, dann sollte er wenigstens diese einschalten. Selten sah man ein solch nahezu perfektes Buch so kongenial umgesetzt (Drehbuch Marc Terjung, Regie Edward Berger), selten so durchdachtes Szenenbild (Annette Lofy), selten so überlegte Kamera (Jana Marsik), gelungenen Schnitt, intelligent eingesetzte Musik.“ Bestens zusammengefasst, Frau Hupertz!
Wer auf die TV-Wiederholung nicht warten mag, dem sei die bereits erhältliche DVD wärmstens empfohlen.

 Clemens Fischer

„Mutter muss weg“, DVD, www.zdf-shop.de, 12,96 Euro

 

Kurze Notiz zu Harzgerode

Wie in den meisten Orten im Harz, die anhaltinische Geschichte atmen, hat auch Harzgerode kein besonders schönes Schloss. Aber was lässt sich schon bei nur zwei Fürsten erwarten, die in grauer Vorzeit hier einmal einen Nebenzweig der Bernburger Askanier vertraten?
Harzgerode … ist weit. Es umfasst den Straßenzug, der sich Alexisbad nennt und bei Leuten, die das Kaiserreich noch mitgemacht haben, als Kurort bekannt ist. Mägdesprung, Silberhütte – nirgendwo war Anhalt, Deutschland so klein, so nah an den märchenhaften sieben Zwergen wie hier.
Harzgerode selbst hat ein ansehnliches Rathaus auf einem kleinen Marktplatz, alles in Fachwerk, das Café „Zur schönen Nüßlerin“, benannt nach der bürgerlichen Geliebten eines Bernburger Herzogs, ist gleich um die Ecke und hat Kultstatus.
Das alles ist sehr beschaulich und ruhig und gut zu Fuß zu erreichen. Wesentlich anhebender dagegen fällt die Marienkirche am Markt aus, die ganz in calvinistischer Schlichtheit gehalten ist. Über dem Altar thront der Fürst nebst seinen Frauen, in der Gruft ruhen zwei mumifizierte Prinzessinnen. Im Turm lässt sich bestaunen, wie ein Wächter samt Frau, Kindern und Ziegen die Stadt des Nachts behütete (sehr schlicht). Zuletzt: der Ausblick. Wer das alles bewandern will, sieht Möglichkeiten, so weit das Auge reicht. Wen es nur bis zum nächsten Restaurant tragen soll, der hat nur Grün vor sich. Und das ist, bei aller Naturliebe, schnell langweilig.

Thomas Zimmermann

 

A gorgeous wizard

Die seltenen, aber regelmäßigen Konzerte auf Schloss Neuhardenberg und in der dortigen zierlichen Schinkel-Kirche sind längst kein Geheimtipp mehr und regelmäßig ausverkauft. Wer allerdings via Internet das zweimal jährlich erscheinende Programm-Booklet abonniert, ist stets rechtzeitig informiert und hat so gute Chancen auf Tickets.
Dieses Mal, am 27. Oktober, also der More-than-a-half-Ire, so seine eigenen Worte, Nigel Kennedy. Sein Programm hieß „Bach meets Fats Waller“, aber mit dabei waren mindestens auch Stephane Grapelli und Django Reinhardt – Kennedy-adäquat an der Gitarre: Jarek Smietana, ein Czárdas-Geiger und ein keltischer Folk-Fiedler. Yaron Stavi, Kontrabass, und Krzysztof Dziedzic, Drums, rundeten das Quartett in dem zur Bühne gewandelten Schinkelschen Altarraum ab.
Nachdem Kennedy mit Bachs Sonate Nr. 2 in a-Moll für Solovioline, BWV 1003, eröffnet hatte, konnte man befürchten, es werde ein kurzer Abend: Schneller als Kennedy kann man Bach schlechterdings nicht geigen, meisterlicher aber auch kaum – jeder Ton saß. Es wurden dann zweieinhalb hinreißende Stunden. Die Musiker ließen sich vom begeisterten Publikum schließlich zu drei veritablen Zugaben inspirieren.
Nicht jedes Stück war direkt für Kirchenräume geschaffen worden; darauf wies Kennedy expressis verbis bei Wallers Komposition „The spyder and the fly“ hin, die als musikalclowneskes Kabinettstück in Vollendung zur Aufführung gebracht wurde: Das Quartett kann auch noch singen.
Am Ende des Abends ließ Kennedy sein Instrument schmalzig schmachten wie ein K.-u.-k.-Kaffeehausgeiger. Auch das natürlich in zu Tränen rührender Perfektion. Der geniale musikalische Grenzgänger Nigel Kennedy, das weiß man längst, is a gorgeous wizard.

Arthur G. Pym

 

Film ab (II)

Wenn Whisky in Holzfässern reift, verflüchtigt sich aus den verschlossenen Behältnissen alljährlich ein geringer Teil des Alkohols. In den Destillerien wird dieses Mysterium als „Angel’s Share“ bezeichnet, und so heißt auch der jüngste Streifen vom Altmeister des sozialkritischen britischen Films, Ken Loach. Das ist die Geschichte einer Gruppe gesellschaftlich abgehängter kleinkrimineller Jugendlicher in Schottland, die zu gemeinnütziger Arbeit statt Knast verurteilt wurden und nun zusammen ihre Stunden ableisten. Einem von ihnen, Robbie, gelingt es dabei mit dem eigenen Willen, der Hilfe Dritter und gehörig Glück, sich aus dem Sumpf der sozialen Perspektivlosigkeit zu ziehen und seiner jungen Familie mit gerade geborenem Baby die Chance auf eine nichtkriminelle Zukunft zu – ja, sagen wir ruhig zu „erarbeiten“, obwohl ein krummes Ding die Ausgangsbasis dieser Chance ist.
Dieses krumme Ding hat mit sehr altem, sehr teuren Whisky zu tun, und eine Hommage an dieses Getränk, nein, an dieses Kulturgut ist der Film überdies. Ein wenig schade nur, dass zwar beiläufig gezeigt wird, dass Kenner gutem Whisky einen winzigen Schuss Wasser beigeben, aber dem Laien nicht erläutert wird, was dies bewirkt: Ein Öffnen der Aromen, das unglaublich ist. Einfach mal ausprobieren.
Wer nun befürchtet, Ken Loach wäre zum altersmilden Sozialromantiker geworden, der wird enttäuscht: Robbie hat im Suff und unter Drogen einen anderen jungen Mann fast totgeschlagen und ihm dauerhafte gesundheitliche Schäden zugefügt. Diese Vorgeschichte wird miterzählt und lässt keine ungeteilte Sympathie für den Protagonisten aufkommen.
Einmal mehr hat der Regisseur überwiegend mit Laiendarstellern gedreht und einmal mehr sein Händchen für (die richtigen) Typen unter Beweis gestellt.
Wenn nur alle Whisky-Genießer dieses Landes sich diesen Film anschauten, dann käme sicher schon eine dem Streifen zu wünschende beeindruckende Zuschauerzahl zusammen. Der Film ist aber auch Nicht-Whisky-Trinkern ohne Weiteres zu empfehlen.
 Hagen Holter

„Angels Share – Ein Schluck für die Engel“, derzeit in den Kinos.


Kleine Blasphemie

Das Gerhard-Richter-Fenster im Westbereich des Kölner Doms hat wirklich so gar nichts Sakrales. Wenn die Abendsonne auf die Hekatomben kleiner gläserner Quadrate – es sollen über 11.000 in 72 verschiedenen Farbtönen sein – trifft, erstrahlt das Fenster in einer geradezu sanguinischen Leichtigkeit und Intensität, wie sie zwar der „Schöpfung“ durchaus eigen ist, nicht aber dem Katholizismus. Bei entsprechendem Einfallswinkel projiziert das Licht die Farben überdies auf eine der Seitenwände neben dem Fenster und lässt sie unter Auflösung aller Konturen aquarellieren – schön und diffus und dann auch ganz Richter.
Bei diesen Anblick verstand ich sofort, warum ein stock-konservativer Amtsträger wie Joachim Kardinal Meisner, der in seinen Ansichten und öffentlichen Äußerungen so finster ist, dass er wahrscheinlich selbst im dunkelsten Keller noch einen Schatten wirft, dieses Fenster verhindern wollte, nein musste. Nur – es gelang ihm nicht. Das Domkapitel, das in den heiligen Hallen das Hausrecht ausübt, entschied trotz Meisners trotzigem Protest („passt eher in eine Moschee“) pro Richter.
Nun soll ja alles, was geschieht, in letzter Konsequenz göttlichem Ratschluss folgen. Ob also aus der Causa Köln auf die Haltung des Schöpfers zu seinem irdischen Amtspersonal geschlossen werden kann? Das wäre vielleicht gar ein Grund für die Trinität aus Skeptikern, Agnostikern und Atheisten, der angehörig zu sein auch der Autor nicht verhehlen kann, die Sache mit dem Glauben noch einmal zu überdenken.
Allerdings – wenn alles in letzter Konsequenz …, warum gibt es dann überhaupt erst solcher Art Amtspersonal? Ist der Schöpfer vielleicht zu gewissen korrigierenden Eingriffen in sein Werk zwar durchaus in der Lage – und dies mit einem sympathischen Gespür für Ironie –, allmächtig aber am Ende doch nicht?
Oder schuf er auch sein Amtspersonal, damit er, wie in Köln, gelegentlich …? Dann hätte seine Ironie allerdings einen Stich ins eher nicht so Sympathische.
Und nicht zuletzt: Hat er das Richter-Fenster womöglich auch zugelassen, damit den Ungläubigen unter seinen Geschöpfen solche Gedanken kommen? Aber – wenn ja, warum?

Sarcasticus