15. Jahrgang | Nummer 20 | 1. Oktober 2012

Regionale Unterschiede

von Erhard Crome

„Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“ Den Satz von Rosa Luxemburg kennen wir. Gilt der nur für politische Gesinnungen? Ganz gewiss nicht. Das gilt für unterschiedliche politische Positionen, für Weltanschauungen und Religionen, Minderheitenrechte unterschiedlicher Art. Rechte von Schwulen und Lesben gehören inzwischen nicht nur in Europa zur Tagesordnung der politischen Auseinandersetzungen, Frauenrechte sowieso.
Und was ist mit den Rechten von psychisch Kranken? Mit einem Freund haben wir vor Jahren schon diskutiert, er studierte Medizin und ich Politikwissenschaft, wie denn das mit den psychischen Erkrankungen sei. Er meinte, mehr oder weniger hätte jeder auch eine psychische Störung, alle seien in bestimmtem Maße verrückt, das sei normal, und deshalb seien die wirklich Verrückten die wirklich „Normalen“.
Das kam mir kürzlich beim Zeitunglesen wieder in den Sinn. Die taz brachte jüngst einen Artikel unter der Überschrift: „Weniger Freiheit im Westen“. Das lässt den Ossi ohnehin sofort aufmerken, weil – die Üblichkeiten des deutschen Medienwesens sind ja, dass auch über zwei Jahrzehnte nach Mauerfall und deutscher Zusammenschließung in der Regel das Gegenteil zu suggerieren versucht wird.
Der taz ging es um die Häufigkeit, von Amts wegen in die Psychiatrie zwangseingewiesen zu werden. Bremen lag 2011 ganz vorn: 205 Einweisungen auf 100.000 Einwohner, und Schleswig-Holstein folgte mit 179 Einweisungen. Nun könnte man meinen, vom vielen Pharisäer-Trinken (das ist der örtliche Kaffee mit Schnaps und Sahnehäubchen) und all dem Aquavit, und was sie im Hohen Norden sonst noch so trinken, wird das Hirn löchrig, der Orientierungssinn erodiert und die Einweisung scheint angezeigt. Allerdings folgt auf Platz 3 Hessen mit 174 Einweisungen. Und dort trinken sie eher Äppelwoi. An der Nordlage also kann es nicht liegen.
Im Osten dagegen sehen die Zahlen der Einweisungen ganz anders aus: Sachsen-Anhalt mit 32, Brandenburg mit 27 und Sachsen mit 22 Einweisungen in psychiatrische Anstalten je 100.000 Einwohner liegen am Ende der deutschen Zwangsverbringungsliste. Nun könnte man sagen, die Sachsen sind ohnehin helle, da muss es auch weniger Verrückte geben. Dahinter allerdings liegt noch Thüringen mit 12 Einweisungen. Einige könnten vermuten, das sind die Spätfolgen von Parteilehrjahr und Fahnenappell, was wiederum andere grundsätzlich zurückweisen würden – vielleicht könnte man die Ost-Zahlen auch mit der Erfahrung der „friedlichen Revolution“ zu erklären versuchen. Aber so richtig reicht die DDR als Erklärungsmuster hier nicht hin, es sei denn, man würde ihr mal eine positive Hinterlassenschaft unterstellen, was im real existierenden Deutschland von 2012 sicherlich nicht mehrheitsfähig ist.
Was passiert eigentlich bei einer solchen Einweisung? Eine „öffentlich-rechtliche Zwangsunterbringung“ erfolgt per Gerichtsbeschluss, wenn der Einzuweisende psychisch schwer krank ist (oder als krank erscheint) und die öffentliche Ordnung gefährdet. Außerdem ist eine zivilrechtliche Unterbringung möglich. Der Betroffene hat einen Betreuer, der für ihn die Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens erledigt. Wenn der nun zu der Meinung gelangt, der Betreute sei psychisch erkrankt, gefährde sich selbst oder seine Mitmenschen, kann er bei Gericht auf der Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuches eine Einweisung erwirken. Dann ist der Kranke in der Anstalt. Sein Häuschen, sein Konto und sein Angespartes bleiben draußen. Darüber befinden nun die Verwandten oder der Betreuer.
Etwa zeitgleich wurde der Armuts- und Reichtumsbericht veröffentlicht, der vom Arbeitsministerium alle vier Jahre vorgelegt wird. Alle Medien zitierten die Ungleichverteilung: Die Schere zwischen arm und reich klafft immer weiter auseinander. Das Nettovermögen der Privathaushalte hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren von 4,6 auf etwa 10 Billionen Euro mehr als verdoppelt. Die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte verfügen über 53 Prozent des Vermögens – 1998 waren es noch 45 Prozent. Die unteren fünfzig Prozent der Haushalte dagegen verfügen über nur ein Prozent des Nettovermögens.
Dabei gibt es aber nach wie vor auch noch einen anderen Unterschied: Westdeutsche Haushalte verfügen über ein Immobilien- und Geldvermögen in Höhe von durchschnittlich 132.000 Euro, ostdeutsche haben dagegen nur 55.000 Euro. Das Vermögen wächst, die Lebenserwartung auch. Und wer es nicht erwarten kann, das Erbe auch anzutreten, findet womöglich einen Ausweg in Gestalt der Verbringung der Oma – nicht ins Altersheim, wohin zu gehen sie sich womöglich weigert, sondern zwangsweise in die Psychiatrie. Die überlasteten Gerichte können den Krankheitszustand ohnehin nicht selbst einschätzen, ein überlasteter Arzt findet sich schon, und der Betreuer, wenn es der hoffnungsvolle Erbe nicht selbst ist, freut sich, dass sich der Fall vereinfacht.
Das wäre doch ein schönes Thema für eine sozialwissenschaftliche Forschungsarbeit: Gibt es eine Korrelation zwischen der Ost-West-Vermögensverteilung und der so unterschiedlichen Wahrscheinlichkeit, in der Anstalt zu landen und womöglich gar zu enden? Oder täuscht der Schein? Dann allerdings lautete die Frage: Warum gibt es im Westen mehr Verrückte? Und das wäre auch ein schönes Thema …