15. Jahrgang | Nummer 7 | 2. April 2012

Bemerkungen

Von Vaterlandsliebe

[…] J a, w i r  l i e b e n  d i e s e s  L a n d.
Und nun will ich euch mal etwas sagen:
Es ist ja nicht wahr, daß jene, die sich „national“ nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Herren und Damen des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da.
Sie reißen den Mund auf und rufen: „Im Namen Deutschlands …!“ Sie rufen: „Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.“ Es ist nicht wahr.
Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen – wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand – nicht einmal von jenen, auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist. Unser ist es.
Und so widerwärtig mir jene sind, die – umgekehrte Nationalisten – nun überhaupt nichts Gutes an diesem Lande lassen, kein gutes Haar, keinen Wald, keinen Himmel, keine Welle – so scharf verwahren wir uns dagegen, nun etwa ins Vaterländische umzufallen. Wir pfeifen auf die Fahnen – aber wir lieben dieses Land. Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln – mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel – mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: es ist unser Land. Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen – weil wir es lieben. Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht, uns: Kommunisten, junge Sozialisten, Pazifisten, Freiheitliebende aller Grade; man hat uns mitzudenken, wenn „Deutschland“ gedacht wird … wie einfach, so zu tun, als bestehe Deutschland nur aus nationalen Verbänden.
Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir.
Und in allen Gegensätzen steht  – unerschütterlich, ohne Fahnen, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert – die stille Liebe zu unserer Heimat.

Mit dieser Passage endet Kurt Tucholskys Buch „Deutschland, Deutschland über alles“, das 1929 erschien und dem Autor endgültig den geballten Hass der Bourgeoisie und derer politischen Adlaten einbrachte. Inwiefern dieser Text – und vermutlich noch mehr jener, mit dem Tucholsky bereits 10 Jahre zuvor der nationalen Duselei den Kampf angesagt hatte (http://www.textlog.de/tucholsky-wir-negativen.html) – taugt, die Vereidigungsrede Joachim Gaucks zu kommentieren, überlassen wir gern dem Leser.

WeltTrends aktuell

Können Araber Demokratie?, wird in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift WeltTrends gefragt und zugleich daran erinnert, dass es in den Mutterländern der Demokratie westlichen Zuschnitts Jahrhunderte gedauert hat, bis diese in ihrer Gänze etabliert war. Das sollte man sich vergegenwärtigen, wenn „Bilanz“ im Jahre II des Arabischen Frühlings gezogen wird.
Als 1432 (nach arabischer Zeitrechnung) der Aufstand kam und die „versiegelte Zeit“ aufbrach, keimte nicht nur Hoffnung, sondern es schoss auch so manche Illusion ins Kraut. Das Wort Revolution war in aller Munde. Inzwischen ist die die Euphorie in Ernüchterung umgeschlagen, oft sogar in Depression – angesichts der Wahlerfolge islamischer Parteien, des Beharrens des Militärs, blutiger Bürgerkriege und hochgerüstete Stabilität monarchischer Regime. Doch die starren Struk­turen sind aufgebrochen, auch wenn noch weitgehend unklar ist, was an deren Stelle treten wird. Immerhin – Demokratie ist eine mögliche Option.
Nicht erstaunlich, aber doch bemerkenswert ist, dass der Arabische Frühling ebenso wenig vorher­gesehen wurde; wie der Epochewechsel von 1989. Gewiss – die Prognosefähigkeit auch der Politikwissenschaft ist begrenzt, aber wo sie überwiegend liefert, was die Politik erwartet – im Hinblick auf den arabischen Süden war das „Stabilität“ – da schlägt Begrenztheit in Betriebsblindheit um. Die deutsche Politikwissenschaft muss wieder zu kenntnisreicher Analyse der wirklichen Verhältnisse in der Welt zurückfinden. Die jüngste WeltTrends-Ausgabe leistet einen Beitrag dazu.

am

WeltTrends. Zeitschrift für internationale Politik, Nr. 83 – März / April 2012 (Schwerpuntthema: Arabische Brüche), Potsdam / Poznan, 9,50 Euro (für Bezieher des Newsletters: 6,- Euro) plus Porto. Weitere Informationen im Internet: www.welttrends.de

Aus den Annalen des BND

Der 1956 gegründete Bundesnachrichtendienst (BND) und sein Torläufer, die Organisation Gehlen, rekru­tierten in den 1950er Jahren viel Personal, das schon im Dritten Reich für Gestapo, SS oder den militäri­schen Geheimdienst gearbeitet hatte. Dazu gehörte auch der Lothringer Richard Christmann, im Krieg Doppelagent der Wehrmacht in den Niederlanden und der wohl erfolgreichste Agentenführer im besetzten Paris.
Von 1956 bis 1961 als BND-Resident in Tunis einge­setzt, konterkarierte er unter anderem die offizi­elle deutsch-französische Versöhnungspolitik durch die gezielte Unterstützung der algerischen Unabhän­gigkeitsbewegung gegen Frankreich.
Matthias Ritzi und Erich Schmidt-Eenboom belegen am Fall Christmann die personelle und operative Kon­tinuität zwischen den Geheimdiensten der Nazis und der Bundesrepublik. Vor allem räumen sie mit der bis heute gültigen legende auf, der BND sammle im Aus­land nur Nachrichten und habe bei bewaffneten Kon­flikten nie massiv zugunsten einer Partei interve­niert.

Hans-Peter Götz

Matthias Ritzi / Erich Schmidt-Eenboom: Im Schatten des Dritten Reiches. Der BND und sein Agent Richard Christmann, Ch. Links Verlag, Berlin 2011, 248 Seiten, 19,90 Euro

Kriegsgründe einer gegenwärtigen Zukunft

Es ist erst ein paar Tage her, da ich – einen Kurzurlaub in der Südtürkei genießend, vom exzellent deutsch sprechenden Reiseleiter während einer lang währenden Busfahrt erklärt bekam, dass die Türkei, was deren Ärger mit den südöstlichen Nachbarn betrifft, in einer komfortablen Situation sei. Da die Quellen der Flüsse Euphrat und Tigris als Lebens spendender Rahmen jenes legendäre Zweistromland, das als eine Wiege der eurasischen Kultur gilt, in der Türkei lägen, habe man ja für den Fall aller Fälle die Hand am „Zapfhahn“ – soll heißen, Wasser kann jederzeit eine türkische Waffe sein, und – was Herr F. nicht sagte – als Druckmittel gegenüber dem Süden wird es ja schon längst benutzt.
An diese nationalistische „Expertise“ fühle ich mehr und mehr erinnert, wenn das Stichwort Falkland sich derzeit wieder in den Fokus internationaler Aufmerksamkeit schiebt. Dort geht es um das zweite flüssige Lebenselexier der verbrauchsexzessiven Menschheit der industrialisierten Welt, um Öl. Kaum, dass sich vor den Küsten der ansonsten ökonomisch weitgehend unergiebigen Eilande Lagerungen dieses Stoffes gefunden haben, rüsten Großbritannien und Argentinien zu einem neuerlichen Krieg, derzeit noch zu einem kalten. Auch hier geht es um nichts Schlichteres als die Frage, wer an den Zapfhähnen sitzt. Wasser und Öl bedeuten Macht, und um jene zu erlangen oder zu behaupten, sind auch im 21. Jahrhundert selbst „aufgeklärten“ Regenten alle Mittel recht.
Heute vor genau 30 Jahren, am 2. April 1982, hatten argentinische Truppen „ihre“ Malvinas besetzt, Maggie Thatcher hatte die britische Flotte in den Südatlantik beordert. Die zweimonatigen Kämpfe forderten mehr als 1.000 Tote – Kollateralschäden im Kampf um damals nur potentielle Ölvorkommen. Nun, da diese offenbar vor der Ausbeutung stehen, ist ein neuerliches Säbelrasseln der Beteiligten in Gang gekommen. Richtige Kriege sind da schon läppischer entstanden – oder, wie Karl Kraus sagte: So wird die Welt regiert und in den Krieg geführt: Politiker belügen Journalisten und glauben’s, wenn sie’s lesen.“
HWK

Frauenbefreiung am Hindukusch

Wer über ein Gedächtnis verfügt, wird sich erinnern: Eines der maßgeblichen Argumente, 2001 über Afghanistan herzufallen, war neben der Terrorunterstützung durch die damals herrschenden Taliban die durch eben jene Regentschaft bis ins Gruslige getriebene Entrechtung der Frau. Unvergessen die Mienen jener Verlautbarer des unausbleiblichen Feldzuges für die Menschlichkeit, nicht zuletzt die Weiblichkeit: Gleichermaßen erschüttert über die Beschreibung des weiblichen Elends wie furchtlos entschlossen, (auch) dem nun ein Ende zu bereiten. Schluss mit Tschador und Burka, Freiheit für – doch, doch – auch die afghanischen Frauen; gefordert in Gefilden, wo man sich kulturell Jahrhunderte voraus weiß und deshalb Frauen für geleistete Arbeit noch immer deutlich weniger bezahlt als deren männlichen Pendants.
Sehen wir mal davon ab, dass afghanischen Frauen diese Chance schon einmal offeriert worden ist, nämlich in der Amtszeit der freilich weder ethnisch noch religiös akzeptierten Stellvertreter Moskaus, so hat sich – wie eine Studie von Human Righs Watch soeben belegt – im Zuge der Frauenbefreiung seit 2001 nahezu nichts getan, was diesen Namen verdiente. „Sie werden geschlagen, eingekerkert, entrechtet: Die Lage von Frauen in Afghanistan ist dramatisch […] Es gibt kaum einen Unterschied zu der Zeit, als die Taliban herrschten.“
Glückwunsch also den Befreiern auch für diese Bilanz. Sie belegt nur weiterhin, was als ausgemacht gelten darf: Die Invasion der Sowjetunion wie die der USA samt ihrer – eben auch deutschen – Handlanger waren und sind nichts anderes als ideologisch verbrämte, globale Machtkämpfe.

Helge Jürgs


Die Zukunft findet bereits statt

Gestern, wobei diese Zeitangabe eigentlich keine Rolle spielt, bin ich wieder mit dem ÖPNV durch Berlin gefahren. Erst in der Straßenbahn, dann in der U-Bahn und schließlich in der S-Bahn – dieser Orts durchaus ein Normalfall. Wiewohl nicht absichtsvoll darauf bedacht, habe ich diesmal jene geschätzt maximal 40jährigen ins Auge gefasst, die sich in meinem jeweiligen Blickfeld, also im selben Waggon und eben vor mir, befanden. Es waren 28 Personen, geschlechtlich leidlich ausgeglichen, wenn auch mit leichtem Vorteil für´s Weibliche. Drei der Ins-Auge-Gefassten saßen lediglich auf ihren Sitzen und schauten in die vorübergleitende Landschaft. Gemessen an den anderen in dieser Statistik dürften sie vermutlich als krank, zumindest aber abnorm, gelten. Denn all diese anderen, die „erdrückende Mehrheit“ also (Achtung, Politsprech!) war mit Handy, Smartphone, Laptop oder I-Pad beschäftigt: Kein Blick auch nur für die personelle Umgebung im Waggon und schon gar nicht für die durchfahrene Umgebung. „Wollt ihr die totale Kommunikation?“ Ich fürchte, Besagte würden diese frenetisch wollen. Um dann, sofern sie gar Arbeit in einem – zumal IT-affinen – Beruf gefunden haben sollten, mit 40 Jahren beim Therapeuten zu sitzen, Diagnose: Burnout, und Hilfe zu verlangen …

Zum Erbrechen ist dabei zweierlei. Die Menschenverachtung all jener Kommunikationsproduzenten und Netzbetreiber, die Jahr für Jahr im  Maß der gesteuerten Erfindungen neuer Vorteile ihrer Technik jede Menge Leute, also als Krankheit, finanziell ausnehmen und in eine Abhängigkeit treiben, die längst als Sucht aktenkundig ist.
Mehr als Beklagenswert ist aber auch die Dummheit all jener Leute, die offenkundig keinerlei Ahnung haben, worauf sie sich einlassen, wenn sie als herangezüchtete Autisten 24 Stunden am Tag zu Kommunikation bereit und willens sind.
God bless the people! Manchmal sind amerikanische Sprüche gar nicht von der Welt.

 

HWK

 

Er ist’s

von Eduard Mörike

Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
—  Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab’ ich vernommen!