15. Jahrgang | Nummer 1 | 9. Januar 2012

Bemerkungen

Auf Ehre und Gewissen

Ei freilich, Herr Wulff – ob nun rechtlich belangbar oder nicht – ist ein Vorteilsnehmer. Anders sind weder der Privat- noch der amtliche Bankkredit für sein Häusle zu bewerten. Das ist die eine Seite.
Die mediale Aufregung darüber hat aber mindestens noch eine weitere Facette. Sie weist auf jenen Berufsstand, aus dem sich die öffentliche Empörung in allererster Linie speist – den der Journalisten. Jenen Branche also der Edlen und Gerechten, die eher durch ein Nadelöhr gehen als sich in irgendeiner Form einer Vorteilsnahme auch nur verdächtig machen. Die selbst bei Pressekonferenzen Münzen für das genossene Stille Wasser der Gastgeber hinterlegen, die eher zu Fuß laufen als ein Auto mit Journalistenrabatt zu erwerben, die ihren Part bei Arbeitsessen mit Politikern oder wirtschaftlichen Staatenlenkern oder auch nur Lokalgrößen per exakter Anteilsrechnung bestreiten, die selbst die Kugelschreiber der Pressemappen unbenutzt liegenlassen, die für Eintrittskarten privater Museumsbesuche lieber einen Bonus zahlen, der über dem Eintrittspreis liegt, als per Journalistenausweis gratis hineinzukommen. Mehr als 1.300 von den betreffenden Firmen bestätigten Journalistenrabatte weist die Plattform www.pressekonditionen.de aus.
Kleine Kostproben: 25 Prozent Rabatt auf den Nettoflugpreis auf internationale Flüge bietet Air Berlin an. Möbel-Schmidt offeriert bis zu 20 Prozent Rabatt auf Möbel aller Art bei Lieferung frei Haus.15 Prozent Nachlass auf Neufahrzeuge der Marken BMW und MINI ergeben auch ein nettes Ersparnis-Sümmchen. Im Europa-Freizeitpark Mack ist der Eintritt für Journalisten samt einer Begleitperson gratis. Wer Philips-Elektronik kauft, bekommt individuelle Rabatte von bis zu 30 Prozent gegenüber der unverbindlichen VK-Preisempfehlung. Bis zu 40 Prozent spart, wer gewerbliche Sach- und Haftpflichtversicherungen bei der Allianz-Vertretung in Reutlingen abschließt. Und Zinssonderkontingente für Baufinanzierungen (bis zu 0,80 Prozent nominell unter dem Standardzinssatz für Baufinanzierungen) bietet die Bayrische Landesbausparkasse.
Gewiss, der letztgenannte Abschlag ist geringer als Jene, die Christian Wulff als Minister- und als Bundespräsident angeboten erhielt – aber noch besteht ja zwischen einem Journalisten und einem Minister-, respektive Bundespräsidenten ein klitzekleiner Unterschied, den abzuarbeiten es für die Gilde der öffentlichen Empörer nun noch kämpferischer gilt als je zuvor – unerschrocken und nur dem eigenen Gewissen verpflichtet, jedenfalls jenem, das sich in Schlagzeilen ausdrücken lässt.

Helge Jürgs

 

WeltTrends aktuell

Präsident Obama formulierte im April 2009 in seiner berühmten Rede in Prag den Anspruch, dass nukleare Abrüstung mit der Zielstellung einer kernwaffenfreien Welt ein Kernelement der US-amerikanischen Politik werden solle. Zwei Jahre später fragt WeltTrends, das deutsch-polnische Quarterly für internationale Politik aus Potsdam und Poznan, in der jüngsten Ausgabe, der Nr. 81, was seitdem geschehen ist. Wie steht es um das nukleare Wettrüsten, international und regional? Die jüngsten Erklärungen zum Iran und dessen Nuklearprogramm verdeutlichen die fortdauernde Brisanz des Themas des Themas ebenso wie der anhaltende Streit zwischen Russland und den USA, respektive der NATO, über die amerikanischen Raketenabwehrpläne (siehe Blättchen 21 / 2011 – „Mit gezinkten Karten”).
WeltTrends
macht seinem Namen im Übrigen durch die große Bandbreite von Beiträgen auch in der neuesten Ausgabe alle Ehre: Holger Politt, Blättchen-Lesern bestens bekannt, analysiert die Parlamentswahlen in Polen und sieht links von der Mitte mit der Palikot-Liste einen neuen Stern aufgehen. Auf der anderen Seite des Globus, in Kolumbien, analysiert Raul Zelik das politische Klima seit der Wahl von Präsident Santos 2010 und kommt zu dem Ergebnis, dass er sich von seinem Vorgänger Uribe stark distanziert. (Dieser Artikel steht zum freien Download zur Verfügung). Laurence Weinbaum diskutiert mit Schärfe die komplizierter werdenden Beziehungen zwischen Israel und der Türkei. Harald Leibrecht, der neue Koordinator für die transatlantische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt, seine Vorstellungen von der transatlantischen Partnerschaft. Und Yu-ru Lian (Peking) vertritt in ihrem Artikel zu den deutsch-chinesischen Beziehungen die These, dass eine „natürliche Beziehung“ zwischen den beiden Staaten bestehe, die sich seit dem Ende des Kalten Krieges kontinuierlich entwickelt.

WeltTrends. Zeitschrift für internationale Politik, Nr. 81 – November / Dezember 2011, Potsdam / Poznan, 9,50 Euro (für Bezieher des Newsletters: 6,- Euro) plus Porto. Weitere Informationen im Internet: www.welttrends.de

Blickwechsel

Das Auto folgt dem langen Band der Strasse. Der Blick findet den nass-schwarzen Baum und grauen Himmel. Grau unterbrochen durch noch dunkleres Grau. Es hat mein Lachen längst verschlungen. Wir schweigen und folgen dem Band der Straße, biegen ab auf den holprigen Feldweg. Vor uns der Himmel ist grau. Ich will es nicht mehr sehen, drehe mich um. Anhalten, anhalten!
Hinter uns ist der Himmel in Rosa getaucht, mit breiten orange-roten Pinselstrichen. Und lila sind die Wolkenstreifen, dazwischen etwas Blau. Unser Lachen wird neu geboren und wir bleiben stehen, den Anblick feiernd. Stehen bis der Abend die Farben wieder versteckt.

Margit van Ham

Lingua nova Berolinensiae

Dieser Tage überraschte mich die Sprecherin in unserem Küchen-Dudel-Radio mit der Empfehlung, ich solle doch unverzüglich die nächste Ticketeria aufsuchen, um gerade noch Eintrittskarten für das Sommer-Event des Senders – irgendwas Konzertiges mit irgendwelchen Größen, die ich als Kind gerne hörte – zu bekommen. Sie sagte wirklich: TICKETERIA. Pizzeria kenne ich. Inzwischen gibt es auch Spaghetterias, obwohl die eigentlich Spaghettirias heißen müssten. Aber mit dem RIAS haben die nix zu tun. Eher mit Nudeln.

In Bevern bei Bremervörde stolperten wir vor kurzem über einen Wegweiser zur „Nudelei“ (ein Wort und zusammengesprochen). Das fanden wir hübsch. Wir folgten dem Wink, wurden recht viel Geld los, aber haben es nicht bereut. Nur müssten die norddeutschen Herrschaften sich korrekt-neudeutsch „Nudeleria“ nennen. Oder zumindest „Nudel-Point“. Dann wüssten alle, was gemeint ist.
Ticket-Point für den Eintrittskartenverkaufsstand geht allerdings nicht. Das erinnerte an die ehemaligen Fahrkartenschalter. Die heißen heute „DB-Reisezentrum“ oder „Agentur mit DB-Verkauf“. Manchmal heißen die auch „Reise-Center“ oder „Service-Point“. Nennen deren Betreiber diese aber „Reise- und Erlebnis-Center“, erhält man da vielleicht auch Konzertkarten, denn dahinter versteckt sich nämlich ein schnödes Reisebüro.
Weshalb sich nun unsere Theaterkasse statt Ticketeria nicht konsequenterweise „Biglietteria“ nennt, kann nur mit dem fehlenden Zutrauen in die hauptstädtischen Italienisch-Kenntnisse zu tun haben. Das klänge ja irgendwie nach Essbarem scheint da jemand zu meinen … Obwohl alle wissen, dass die schicke Glastür am Potsdamer Platz mit der dezenten Aufschrift „FBI“ nicht den Zugang zu einer Geheimdienst-Dependance freigibt, sondern in eine EATERY führt. In der sitzen meist mehr oder weniger junge Menschen an hölzernen Tischen und schlürfen Suppe. Ein Soupping-Point sozusagen. Oder auch Supperia
Nun bleibt abzuwarten, welche dieser tiefsinnigen Wortschöpfungen sich im Berlinerischen durchsetzen werden. Mit der Bulette (eigentlich „Boulette“!) hat es ja auch geklappt. Die ist mittlerweile fast zum Synonym für unsereinen in fremden Gegenden geworden.

Wolfgang Brauer


Die schlechte und die beste Nachricht

Zunächst eine scheinbar schlechte Nachricht: Kürzlich hat der Paritätische Wohlfahrtsverband seinen Armutsbericht 2011 vorgelegt. Dessen Fazit: Die deutsche Wirtschaft boomt, aber die Armut im Land sinkt nicht. Zwölf Millionen Menschen sind armutsgefährdet.
Die Armut in Deutschland geht also auch in Zeiten guter Konjunktur nicht zurück. Besagte zwölf Millionen Menschen entsprechen 14,5 Prozent der Bevölkerung; das meint also etwa jeden siebten Bürger. Im Osten ist die Gefahr, arm zu werden, nach wie vor größer als im Westen: Dort lag die Armutsquote vergangenes Jahr bei 13,3 Prozent, in Ostdeutschland aber bei 19 Prozent.
Von Armutsnähe oder Armutsgefährdung spricht man, wenn jemand über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verfügt. 2010 lag die Armutsgefährdungsschwelle für einen Single-Haushalt bei 826 Euro, für eine vierköpfige Familie lag sie bei 1.735 Euro.
Besonders die Bundesländer Berlin und Nordrhein-Westfalen zeigen der Studie zufolge einen deutlichen Negativtrend. In der Hauptstadt stieg die Armutsgefährdungsquote von 17,0 Prozent im Jahr 2006 auf 19,2 Prozent im vergangenen Jahr an, in NRW von 13,9 auf 15,4 Prozent. Im Ruhrgebiet, dem größten Ballungsraum Deutschlands, gebe es „sehr hohe Armutsquoten mit seit Jahren steigender Tendenz“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Ulrich Schneider. „Wenn dieser Kessel mit fünf Millionen Menschen einmal zu kochen anfängt, dürfte es schwer fallen, ihn wieder abzukühlen.“
In beiden Bundesländer stieg die Armutsquote, obwohl der Anteil der Hartz-IV-Empfänger an der Bevölkerung fast gleichblieb. Das zeigt, dass auch Menschen oberhalb des Hartz-IV-Bezugs zunehmend von Armut betroffen sind. In Berlin war die Hartz-IV-Quote 2011 übrigens mit 21,1 Prozent bundesweit am höchsten, lag aber etwas unter dem Niveau der Vorjahre. In Nordrhein-Westfalen war sie mit 11,3 Prozent ebenfalls niedriger als zuvor.
Nun aber die gute, ach was: die beste Nachricht: „Deutschland geht es so gut wie nie zuvor.“ (Kanzlerin Angela Merkel in der Generaldebatte des Deutschen Bundestages am 6. September 2011)

HWK


Wirsing

Das Feuilleton des Neuen Deutschland macht sich unter anderem dadurch verdient, dass es monatliche Bestsellerlisten veröffentlicht und dabei völlig neue Autoren entdeckt. Im Dezember war es der bislang nicht hervorgetretene David D. Precht mit seinem Buch „Warum gibt es alles und nicht nichts?“ Das würde man gern mal kennenlernen. Vielleicht lässt es Feuilleton-Chef Dieter D. Schütt im Blatt rezensieren.

Fabian Ärmel

Nach Weihnachten. Berlin-Mitte

von Eckhard Mieder

Die Nacht war voller Hammerschläge.
Das Riesenrad steht nackt im Wind.
Ein Kind fragt, wo die Gondeln sind.
Der Vater blinzelt blass und träge.

Die Kerle von der Achterbahn und die
Von der Bescheiß-Mich-Lotterie
Rolln Kabel ein und fluchen leise:
Zu wenig Geld trotz Schweine-Preise.

Die Engel haben sich verzogen
Und kriegen Kinder übers Jahr.
Der Weihnachtsmarkt war wunderbar;
Der Punsch-Geruch ist grad verflogen.

Es bleiben Nebel, Matsch und Gräue.
Die ganz reelle Geisterbahn.
Gleich fängt es an, das Jahr, das neue*,
Kaum ist das alte weggetan.

* – Es hat zwar schon angefangen, aber am Silvesterabend gab es ja leider keine Blättchen-Ausgabe …