14. Jahrgang | Nummer 24 | 28. November 2011

Beutezug. Wladimir Putin im Visier des BND (II)

von Erich Schmidt-Eenboom

Der BND war in der zweiten Hälfte der 80er Jahre sehr gut über die Aktivitäten der Dresdner KGB-Residentur unterrichtet. Das verdankte er seiner Agentin, die dort als Dolmetscherin des KGB-Obersten und seines Adjutanten saß. Frau Sch., Deckname Lenchen, aber dienstintern wegen ihrer üppigen Oberweite nur Balkon genannt, stammte aus einer baltendeutschen Familie und war so von Kindesbeinen an mit allem Russischen vertraut. Sie war Anfang der 1980er Jahre angeworben worden und konnte über einige Jahre hinweg aus dem Herzen des sowjetischen Nachrichtendienstes an der Elbe berichten. Geführt wurde die Top-Quelle vermutlich von dem gut abgeschotteten Referat 12 LX „Sonderaufgaben Gegenspionage“ und so konnte sie nicht von den Maulwürfen des MfS im BND, Hauptmann Alfred Spuhler und Regierungsdirektorin Gabriele Gast, enttarnt werden.
Lenchen wurde 1989 von dem KGB-Obersten, den sie ausspionierte, schwanger. Sie schützte eine komplizierte Schwangerschaft vor und durfte sich in West-Berlin behandeln lassen. Das war eigentlich ein Glücksfall für ihre Verbindungsführer, die nun persönlichen Kontakt zu ihrer Quelle pflegen konnten. Aber die werdende Mutter war den Belastungen ihres Doppellebens nervlich nicht länger gewachsen. Wieder Sie warf das Handtuch. Der Bundesnachrichtendienst organisierte für seine Spitzenagentin eine Spätabtreibung, stattete sie mit einer neuen Identität aus und versorgte sie mit einer Pension in Süddeutschland.
Wladimir Putin war 1985 nicht alleine nach Dresden gezogen. Begleitet wurde er von seiner Frau Ljudmilla und ihrer kleinen Tochter Mascha. Die zweite Tochter Katja erblickte dann 1986 im Elbflorenz das Licht der Welt. Zur First Lady aufgerückt, verklärte Frau Putina später die Zeit in der Zweieinhalb-Zimmerwohnung in der Radeberger Straße 101: „Die Jahre in Dresden werden immer zu den glücklichsten unseres Lebens zählen.“ Sie tut öffentlich alles, um ihren inzwischen mächtigen Gatten, Kosename Wolodja, als vorbildlichen Familienvater darzustellen: „Morgens brachte Wolodja unsere Mascha zunächst in den Kindergarten. Der befand sich unmittelbar unter dem Fenster unserer Wohnung. Dann nahm er Katja mit. Vom Fenster seines Büros konnte er ihr in der Kinderkrippe zuschauen. Zum Mittagessen kam er immer nach Hause“. Zu der öffentlich ausgebreiteten Familienidylle gehörte natürlich auch die harmonisch verbrachte knappe Freizeit: „An Feiertagen fuhren wir manchmal mit der ganzen Familie ins Grüne. Es gibt hier sehr viele hübsche Plätze in der Gegend um Dresden, wie zum Beispiel die Sächsische Schweiz, etwa 20 bis 30 Minuten von der Stadt entfernt. Mit unserem grauen ‚Lada’ sind wir schnell da.“
Zu den Menschen in Ostdeutschland hatte die Romanistin mit einem Abschluss der Petersburger Universität so gut wie keine Kontakte, bescheinigen ihr selbst ihre Hofberichterstatter. Zu Lenchen jedoch entwickelte sie, schon, weil es keine Sprachbarrieren gab, ein enges Verhältnis. Die BND-Agentin wurde zum Kummerkasten für Putins Frau. Und den hatte sie bitter nötig. Entgegen dem später von ihr propagierten Bild einer mustergültigen Ehe klagte sie bei ihrer Vertrauten über häusliche Gewalt und zahlreiche Affären. Wladimir Putin schlug seine Frau und war ein unverbesserlicher Schürzenjäger, erfuhr der BND und leitete auch diese Erkenntnisse an den Verfassungsschutz und einige Partner in den NATO-Staaten weiter. Das passt in das Bild eines russischen Präsidenten, der 2006, als er die Mikrofone ausgeschaltet wähnte, die Vergewaltigungsvorwürfe gegen seinen israelischen Amtskollegen Mosche Katzav so kommentierte: „Zehn Frauen vergewaltigt! Wir alle beneiden ihn!“
BND-Präsident Ernst Uhrlau macht keinen glücklichen Eindruck, als er in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk Anfang Juli 2011 in Berlin auf die Innenquelle des BND in der Dresdner KGB-Residentur angesprochen wird. „Ich vermag heute nicht mehr zu sagen, wo der BND damals gut platziert gewesen ist“, weicht er auf den Fall des 1979 in den Westen übergetretenen MfS-Oberleutnants Werner Stiller aus, obwohl er die Fragen schon Wochen zuvor bekommen hatte, „Sicherlich, Erfolge sind immer auch das Gewinnen von Personen, das Überlaufen von Personen … Aber eine Fülle von Überläufern, die gewonnen worden sind, die sind nicht automatisch namentlich so nach vorne gezogen worden, wie das vielleicht bei Stiller der Fall gewesen ist“. Auch bei der Nachfrage bleibt der BND-Präsident verschlossen: „Also, zu diesem Fall vermag ich Moment nichts zu sagen. Da fehlen mir auch eine Reihe von Informationen, um das einschätzen zu können.“
Die Zurückhaltung von Uhrlau, der sonst nicht müde wird, die Aufarbeitung der BND-Geschichte – seiner Erfolge und seiner Misserfolge – zu versprechen, ist verständlich. Schließlich war kein x-beliebiger KGB-Major Opfer der BND-Operation, sondern der amtierende Ministerpräsident Russlands, schon als Präsident der Russischen Föderation ein enger Freund von Gerhard Schröder, als Uhrlau ab Oktober 1998 in dessen Kanzleramt die Aufsicht über die Nachrichtendienste übernommen hatte. Auch der Pressesprecher des Bundesnachrichtendienstes Dieter Arndt hielt sich zurück: Über vermeintliche oder tatsächliche Operationen seines Dienstes gäbe es keine Auskünfte, teilte er mit.
Die Meldungen von  Lenchen über das gestörte Familienleben der Putins wären in den Archiven des BND, des Verfassungsschutzes und der ausländischen Partnerdienste als wertlose Randerkenntnisse verschwunden, hätte Boris Jelzin nicht völlig überraschend am 9. August 1999 Wladimir Putin zu seinem Nachfolger erhoben. Spätestens damit war jedoch der Zeitpunkt gekommen, aus diesen Archiven alle Nachrichten ans Licht zu befördern, die Aufschluss über den neuen russischen Premier, der im März 2000 zum Präsidenten gewählt wurde, geben konnten.
Die Machtclique um Putin wird ihm seine familiären Verfehlungen so wenig übel nehmen wie die 1.000 jungen russischen Frauen, die im Juli 2011 im Internet die Bewegung einer „Armee für Putin“ aus der Taufe hoben und sich und ihre Tops für ihr Idol – „ein würdiger und ehrlicher Politiker sowie ein toller Mann“ – zerreißen. Ein Schatten jedoch fällt auf seine verklärte Geheimdienstkarriere. Er musste die größte Niederlage einstecken, die einen KGB-Offizier im Auslandseinsatz treffen kann: Was er bis 1989 geheimdienstlich oder privat tat, stand unter der Nahbeobachtung des Gegners in Pullach.
Die Resonanz auf die Veröffentlichung in der „Berliner Zeitung“ am 31. Oktober 2011 war in der Bundesrepublik eher verhalten, der Berliner Kurier berichtete parallel und Bild.de zog am nächsten Tag nach und wärmte dabei auch das Gerücht wieder auf, Putin habe bei seinem Weggang aus Dresden ein uneheliches Kind zurückgelassen. Im Ausland schlug die Geschichte weit höhere Wellen. Die größte niederländische Tageszeitung De Telegraaf nahm die deutsche Berichterstattung ebenso auf wie The Australian. Die größte Resonanz kam jedoch aus Großbritannien. The Times, Daily Mail, The Telegraph und der London Evening Standard – das Blatt des milliardenschweren Putin-Gegners in London, Alexander Jewgenjewitsch Lebedew, – berichteten ausführlich und hoben dabei die Vorwürfe gegen Putin als Schürzenjäger und Täter häuslicher Gewalt besonders hervor.
Nachdem das offizielle Moskau zunächst geschwiegen hatte, erhielt die Daily Mail ein Dementi von Dmitrij Peskow, dem Sprecher des russischen Premierministers, der behauptete, die Berichte seien kompletter Unsinn. Russische Medien nahmen die Berichterstattung zunächst nur zaghaft auf. Dafür transportierten am 3. November sowohl die BBC, als auch deren russischer Dienst die Geschichte durch ein Interview nach Moskau. Am 4. November legte Radio Free Europe aus München für sein russisches Programm nach. Und die Reaktion darauf war denn doch beachtlich: Etwa 40 Medien nahmen die Berichterstattung von RFE auf, darunter selbst viele ansonsten putinfreundliche, die naturgemäß ein „angeblich“ vor die Aussagen stellten.
Stille Post kam schließlich aus den Reihen des BND: Zwei hochrangige ehemalige Führungspersönlichkeiten des Bundesnachrichtendienstes, die mit dem Fall Lenchen befasst waren, bestätigten den erfolgreichen Einbruch ihres Dienstes in die Dresdener KGB-Station – off the record.