14. Jahrgang | Nummer 18 | 5. September 2011

Helmut Schmidts Ahnungen

von Heerke Hummel

Wer sich als Deutscher mit seiner Zukunft befassen will, und mit seiner Vergangenheit, der muss über die Staatsgrenzen hinweg auf Europa und darüber hinaus auf die Welt schauen. Und dies heute mehr als noch vor einigen Jahrzehnten. Einer der großen deutschen Zeitgenossen tat es sein Leben lang mit aller Aufmerksamkeit, sowohl im Dienst für das Vaterland als auch in seiner rückschauenden Lebensbilanz als Bundeskanzler a.D. Doch wenn Helmut Schmidt eigene Erfahrungen wie auch Geschichte von Jahrhunderten erinnert, will er nicht nur erzählen, sondern als Über-Neunzigjähriger, wenn auch nicht mehr selbst in die Politik eingreifen, so doch mit der Vermittlung seiner Erkenntnisse immer noch die Gestaltung der Zukunft Deutschlands, Europas und der Welt im 21. Jahrhundert durch die Politik und jeden Bürger mit beeinflussen. Sicherung des Friedens, Freiheit und Wohlfahrt für alle und insofern die Würde des Menschen sind ihm dabei die wichtigsten Ziele, Vernunft und Toleranz entscheidende Voraussetzungen und Prüfung des eigenen Gewissens eine vage Garantie für den Erfolg. Bei aller geübten Kritik an heutigen Erscheinungen in der Gesellschaft ist Schmidt im Wesentlichen optimistisch: Eine bessere, sicherere Welt ist möglich, Deutschland und Europa können und müssen im eigenen Interesse ihren Beitrag dazu leisten. Schmidt erörtert dies alles – und vieles mehr – sehr konkret.
Vordergründig sind seine ökonomischen Betrachtungen (worauf hier speziell eingegangen werden soll), denn Politiker brauchen seiner Überzeugung nach ökonomischen Überblick. Dabei vermittelt Schmidt Erkenntnisse aus seinen eigenen Erfahrungen und aus seinen überaus zahlreichen, teils engen freundschaftlichen Kontakten zu Größen aus der Wirtschaft, dem Finanzwesen und der Politik im Inland, in Europa und weltweit. Hermann Josef Abs und dessen Nachfolger an der Spitze der Deutschen Bank Alfred Herrhausen, ferner Karl Klasen an der Spitze der Bundesbank, US- Präsident Nixons Berater Paul Volcker und Alan Greenspan an der Spitze der amerikanischen Notenbank Fed (Federal Reserve System), Horst Köhler an der Spitze des Internationalen Währungsfonds (IMF – International Monetary Fund) sowie der Direktor der chinesischen Volksbank Zhou Xiaochuan (neben dem herausragenden chinesischen Strategen und Reformer Deng Xiaoping) gehörten zu Schmidts wichtigsten finanzökonomischen Gesprächspartnern. Allerdings, schreibt er, sei sein Vertrauen in die Klugheit von Bankvorständen, mit denen er in dem Kapitel „Raubtierkapitalismus“ hart ins Gericht geht,  inzwischen einer erheblichen Skepsis gewichen. Denn: Zunächst im angelsächsischen Raum habe sich „ein dem Raubrittertum vergleichbarer Pseudo-Adel des ‚Investmentbanking‘ entwickelt, der sich zu Lasten der Gesellschaft und des Staates mit enormen Beträgen bereichert.“ Wegen der „ansteckenden Habgier“ und angesichts des Streits in Deutschland über einen Mindestlohn scheint dem Bundeskanzler a.D. „eine Diskussion über eine obere Begrenzung der Bezüge für Spitzenmanager nicht abwegig“, die zu definieren wäre „als ein Vielfaches zum Beispiel der Bezüge eines Bundeskanzlers oder auch des Durchschnitts aller Arbeitnehmer.“ Dieses Problems sollten sich seiner Meinung nach die Sachverständigen der Wirtschaftswissenschaften „öffentlich hörbar und lesbar“ annehmen.
Dieser Wunsch Helmut Schmidts dürfte sich wohl nur erfüllen, wenn die Wirtschaftswissenschaft in der Lage und bereit ist, gründlich umzudenken, also ihr ganzes Theoriegebäude von den Fundamenten her umzugestalten und das Geld nicht mehr als tatsächliches Wertäquivalent einer verkauften Ware, echten sachlichen Reichtum zu betrachten, sondern lediglich als gesellschaftliche Bescheinigung für geleistete Arbeit und damit Anspruchszertifikat auf Ergebnisse gesellschaftlicher Arbeit. (Wachstum von Geldbeträgen kann daher weder Ziel noch Kriterium erfolgreichen Wirtschaftens sein.) Doch dazu müsste sie mit jahrhundertealten, auf  Erkenntnisse des schottischen Ökonomen Adam Smith zurückgehenden Dogmen brechen. Dieser hatte die Gesetze und die regulierende Funktion des Marktes entdeckt. Dass sich die Welt inzwischen in vieler Hinsicht gründlich verändert hat, weiß heute jeder. Dennoch hat die Wirtschaftswissenschaft den Wandel im Wesen der Ökonomik nicht verstanden, der jahrzehntelang schleichend vor sich ging, um 1971 mit der Kündigung des Abkommens von Bretton Woods durch US-Präsident Richard Nixon abgeschlossen zu werden. Dass die damit verbundene Ablösung des Geldes vom sachlichen Wert des Goldes eine qualitative Veränderung in der Ökonomik herbeigeführt und alle Schranken der Verantwortung, der Moral und des Gewissens beseitigt und die Bremsen für Finanzmanipulationen und Spekulationen gelöst hatte, zeigte sich erst nach und nach und wurde von den liberalen Theoretikern auch nur als praktisches Phänomen wahrgenommen, nachdem tatkräftiger amerikanischer Pioniergeist ganz neue leistungslose Selbstbereicherungspraktiken zu erfinden begonnen hatte, die zwar formaljuristisch legal sind, aber, zumindest in ihren Details, auch von Finanzpolitikern kaum noch verstanden und durchschaut werden. „Kaum ein Finanzminister“, so Schmidt, „kann die mit deren (der Hedge-Fonds – Anm. H. H.) spekulativen Geschäften verbundenen Risiken überblicken … noch weniger können dies ihre Regierungschefs oder ihre gesetzgebenden Parlamente. Die von Spekulationsgeschäften ausgehenden Gefahren für die Weltwirtschaft sollten keineswegs für geringer gehalten werden als die politischen Gefahren von Kriegen. Die Weltwirtschaft ist vom Verhalten mächtiger privater Finanzinstitute und ihrer Manager nicht weniger abhängig als vom politischen Verhalten der einflussreichen Staaten und deren Regierungen.“ Hierin eine hochgradige Vergesellschaftung der Wirtschaft und insbesondere des Geldes zu erkennen, sollte man zwar nicht unbedingt von dem diplomierten Volkswirt Helmut Schmidt erwarten, auch wenn der gern die praktische Vernunft anruft, wohl aber unbedingt von Wissenschaftlern.
Für Schmidt ist „die unangemessene Selbstbereicherung einiger Manager“ eine unerfreuliche Begleiterscheinung und „Teil einer auf privatem Eigentum und privater Initiative gegründeten Marktwirtschaft“. Ist aber die  eben von Schmidt selbst beschriebene ökonomische und politische Macht dieser Leute, ist dies alles – dem Wesen, der Sache nach – wirklich noch ihre Privatsache, oder gehört das alles, weil es, wie Schmidt ebenfalls deutlich macht, in höchstem Maße die gesamte Gesellschaft, die Menschheit betrifft, nicht doch unter öffentliche Regelung und Kontrolle? Es hat doch, der Logik der ökonomischen Beziehungen nach, jeglichen privaten Charakter verloren und, den Maßstäben nach, alle Grenzen des Privaten weit hinter sich gelassen! Es ist öffentliche Angelegenheit geworden, Sache der Weltöffentlichkeit sogar. Nur noch das Gesetz erhebt es zur Privatangelegenheit. Und darum muss das Gesetz verändert, den sachlichen Gegebenheiten der Realität angepasst werden! Es muss, vor allem was Wirtschaft, Geld und Finanzen betrifft, die Rechte und Pflichten der Bürger sowohl in den tatsächlich noch privaten als auch in den öffentlichen Angelegenheiten (und die Wirtschaft im weitesten Sinne ist zu einer solchen geworden) neu definieren! So weit geht Schmidt in seinen – immerhin bemerkenswerten – Ansichten nicht, kann er nicht gehen, denn sie beruhen auf Ahnungen aus praktischen Erfahrungen heraus, nicht auf theoretischem Wissen.

Helmut Schmidt, Außer Dienst. Eine Bilanz, Siedler Verlag, München 2008; aktualisierte Lizenzausgabe bei Weltbild, Augsburg 2010, 350 Seiten, 22,95 Euro

Ausführlicher besprochen unter: https://sites.google.com/site/heerkehummel/artikel/deutschland-europa-und-die-welt