15. Jahrgang | Nummer 2 | 23. Januar 2012

König Friedrich und Lessing

von Franz Mehring

Um den König Friedrich als einen Geistes- und Gesinnungsgenossen der bürgerlichen Klassiker und insbesondere Lessings erscheinen zu lassen, werden zunächst einige Sätze von ihm ins Treffen geführt, die als geflügelte Worte etwa so lauten. Erstens: Der Fürst ist der erste Diener des Staats. Zweitens: Ich will ein König der Armen sein. Drittens: Gazetten dürfen nicht genieret werden. Viertens: In meinen Staaten kann jeder nach seiner Fasson selig werden. Da nun diese Grundsätze einerseits mit der ganzen Regierung des Königs in mehr oder minder schreiendem Widerspruche stehen, andererseits von ihm kurz vor oder gleich nach seiner Thronbesteigung geäußert worden sind, also zu einer Zeit, wo sich der furchtbare Druck löste, unter dem ihn sein Vater von Kindesbeinen an gehalten hatte, so könnte man versucht sein, sie für Ausflüsse des berufenen Kronprinzenliberalismus zu halten. Und in der Tat hält sie Carlyle dafür, der bei allem Heroenkultus doch praktischer Engländer genug ist, um von jener „hübschen Sprache“ Friedrichs zu sagen: „Sie erregte bei der damaligen Welt eine Bewunderung, welche uns, die wir so lange daran und das, was gewöhnlich daraus wird, gewöhnt sind, nicht sogleich begreiflich ist.“ Carlyle ließ sich in den fünfziger Jahren offenbar wenig davon träumen, daß diese unbegreifliche Bewunderung in den neunziger Jahren erst recht zur Pflicht jedes patriotischen Deutschen gemacht werden würde.
Gleichwohl ist die Auffassung Carlyles unzulässig. Sie wäre nämlich für die bürgerlich-preußischen Geschichtschreiber noch viel zu günstig, für Friedrich selbst aber viel zu ungünstig. Es ist kaum nötig zu sagen, daß die wissenschaftliche Geschichtsforschung mit den preußenfeindlichen Mythologen ebensowenig zu schaffen hat wie mit den preußenfreundlichen; in Friedrich den Quell alles Bösen zu sehen, ist der entgegengesetzte Pol derselben Verkehrtheit, die in seiner Person den Quell alles Guten erblickt. Wer die Geschichte dieses Fürsten nach wissenschaftlichen Grundsätzen studiert, wird als seine namhafteste Begabung und als die wesentlichste Ursache seiner Erfolge eine Eigenschaft entdecken, die gerade den Vertretern der materialistischen Geschichtsauffassung in gewissem Sinne sympathisch sein muß, nämlich eine vollkommene Klarheit darüber, daß er in dieser Welt auch nicht einen Schritt weiter machen könne, als die ökonomischen Bedingungen gestatteten, unter denen er lebte und regierte. Nicht zwar, als ob seine ökonomischen Einsichten über seine Zeit hinausgegangen wären: Sie blieben vielmehr weit hinter ihr zurück und waren nichts weniger als genial. Nicht auch, als ob er sich über seine ökonomischen Daseinsbedingungen niemals getäuscht hätte: Er hat es oft genug getan und hat dann auch regelmäßig schwer dafür büßen müssen. Aber wie er im Siebenjährigen Kriege seinem stets verzagten Bruder Heinrich schrieb, daß derjenige siegen werde, der den letzten Taler in der Tasche haben werde, wie er die Finanzen die „Nerven“ des Staats nannte und sie in seiner Beschreibung des preußischen Staats allem anderen, selbst dem Heere, voranstellte, so hat er vom ersten bis zum letzten Tage seiner Regierung an jener grundlegenden Erkenntnis festgehalten, und es ist schwer zu sagen, an welchem dieser beiden Tage sie bemerkenswerter war: ob am ersten, da er, ein noch nicht dreißigjähriger Mann, in einem Augenblick aus einem gedrückten Sklaven ein unumschränkter Despot wurde, oder am letzten, da er nach allen seinen Erfolgen und nach der nahezu fünfzigjährigen Gewöhnung an eine despotische Herrschaft sich doch nicht darüber täuschte, was er konnte und was er nicht konnte.
Demgemäß wollte er mit dem Satze, daß der Fürst der erste Diener des Staats sei, sich weder einem Ideal unterwerfen, noch auch wollte er damit, wie G. Kolb meint, die Aufmerksamkeit auf sich lenken und eine wohlfeile Popularität erhaschen. Es war ihm einfach um eine freiere Verfügung über die ökonomischen Machtmittel des Landes zu tun. Denn jener Satz, der beiläufig zuerst vom Kaiser Tiberius geäußert worden ist, enthält nicht eine Beschränkung, sondern eine Erweiterung des Absolutismus. Diese höchst einfache Erkenntnis ist für den beschränkten Untertanenverstand von heute ein eleusinisches Geheimnis geworden, aber die einsichtigen Zeitgenossen Friedrichs besaßen sie deshalb nicht weniger. So schreibt Heinse in seinem „Ardinghello“: „Wie ist einer Bedienter, dem niemand befiehlt, der keinen Herrn über sich kennt, der sich nach Gutbefinden Gesetze macht und gibt und keine annimmt, nach Willkür ohne Gesetz straft?“ In der Tat – wenn Ludwig XIV. sagte: Der Staat bin ich, so war damit doch immer mindestens eine moralische Verantwortlichkeit des Fürsten für den Staat anerkannt, und Ludwig XVI. hat diese Verantwortlichkeit ja auch praktisch erproben müssen. Aber wenn der Fürst sich nur zum Diener, aber zum ersten Diener des Staats macht, so heißt das in einem absolutistischen Staate: Jede Verantwortlichkeit in die Luft blasen. Denn man kann sich doch unmöglich zum Sklaven seines Eigentums machen, und wie sehr Friedrich den „Staat“ als sein Eigentum betrachtete, geht aus seinem Testamente hervor, worin er neben seinem „Gold- und Silbergeschirr, Bibliothek, Bildergalerie usw.“ auch das „Königreich Preußen“ wie den ersten besten Meierhof seinem Neffen vermacht.
Friedrich verfolgte sehr praktische Zwecke mit der Behauptung, daß er der erste Diener des Staates sei. Er hat ihn etwa sechsmal aufgestellt, zuerst in seinem Anti-Machiavell noch als Kronprinz. Er leitet ihn hier ein mit der Ausführung, daß es zwei Arten von Fürsten gebe: solche, die alles mit eigenen Augen sehen, die selbst ihre Staaten regieren, und solche, die sich auf die redlichkeit ihrer Minister verlassen, die sich von dem regieren lassen, der über ihren Sinn Macht gewonnen habe. Jene sind unumschränkte Herren, gleichsam die Seelen ihrer Staaten, sie sind die ersten Wärter der Justiz, die Oberbefehlshaber der Streitmacht, die Leiter der Finanzverwaltung, kurzum, die ersten Diener des Staats; ihnen will Friedrich nacheifern. Mit diesen spielt er handgreiflich auf seinen Vater an, der in Friedrichs Jugendtragödie das blindwütende Werkzeug der österreichischen Parteigänger Grumbkow und Seckendorff gewesen war. Und überhaupt, ein wie wunderlicher Tyrann Friedrich Wilhelm I. gewesen sein mochte, so hatte er doch der von ihm begünstigten und eigentlich überhaupt erst geschaffenen Beamtenklasse einen mehr oder minder starken Anteil an der Regierung eingeräumt, den Friedrich als das letzte Hindernis eines aufgeklärten Despotismus verabscheute und demgemäß zu beseitigen trachtete. Ob ihm das wirklich gelang, und ob nicht doch der Vater der aufgeklärtere Despot von beiden war, das ist eine Frage, über die wir uns weiterhin noch verbreiten müssen. Hier kommt es nur darauf an, was Friedrich beabsichtigte. Er strebte darnach, alle Beamte zu willenlosen Vollstreckern seines despotischen Willens zu machen, und der Satz vom Fürsten als dem ersten Diener des Staats war der Gedanke zu seiner Tat. Er ist sich darin stets treu geblieben. Vierzig Jahre nach dem Anti-Macchiavell schreibt er, daß der Herrscher zwar ein „Mensch“ sei „wie der geringste seiner Untertanen“, aber zugleich „der erste Richter, der erste Finanzmann, der erste Minister der Gesellschaft“. Als solcher habe er das gleiche Interesse mit dem Volke, was man von einer Aristokratie der Generale und Minister, denen er sich überlasse, keineswegs behaupten könne. Friedrich hat denn auch ganz ohne das höhere Beamtentum regiert; er sah die Minister amtlich überhaupt nur einmal im Jahre bei der sogenannten „Ministerrevue“ im Juni; er verfügte alle Regierungshandlungen selbständig von seinem Kabinett aus, wobei ihm zur Erledigung des Lese- und Schreibewerks drei sogenannte Kabinettsekretäre dienten, die er fast durchweg aus subalternen Schreibern wählte und zu einem Leben von mönchischer Einsamkeit verdammte oder gar, wie ein fremder Diplomat sagte, als Staatsgefangene bewachen ließ.
Etwas anders steht es mit dem „Könige der Armen“, denn eine urkundliche Bezeugung dieses geflügelten Worts liegt überhaupt nicht vor. Es ist auch nicht an dem, was Herr v. Treitschke versichert: „Die menschlichste der Königspflichten, die Beschützung der Armen und Bedrängten, war für die Hohenzollern ein Gebot der Selbsterhaltung; sie führten mit Stolz den Namen ‚Könige der Bettler’, den ihnen Frankreichs Hohn ersann.“ Jene „menschlichste der Königspflichten“ war für Friedrich, der bekanntlich nicht die „Armen und Bedrängten“, sondern die Reichen und die Bedrängenden, das will sagen die Klasse der junkerlichen Großgrundbesitzer, mit unaufhörlichen Unterstützungen aus der Staatskasse und den ausschweifendsten Vorrechten überschüttete, überhaupt kein Begriff, und nun gar „Frankreichs Hohn“ hat mit der Sache aber auch wirklich gar nichts zu tun. Sie hängt vielmehr so zusammen, daß Friedrich einige Monate vor seiner Thronbesteigung an der Tafel des Herzogs von Braunschweig in Berlin die Äußerung tat: „Wenn ich dereinst auf den Thron gelange, so werde ich ein wahrer König der Bettler sein.“ Womit er entweder wirklich einen gewissen Weg mit einem guten Vorsatze pflasterte, oder aber – was wahrscheinlicher ist – der das Volk ausbeutelnden Finanzkunst seines Vaters einen Stich versetzen wollte. In diesem Sinne faßte der Vater selbst die Äußerung auf, als sie ihm hinterbracht wurde; sie erregte in ihm den letzten Wutanfall gegen den Sohn. Sollte sie übrigens so gemeint gewesen sein, so ist sie praktisch gleichfalls ohne allen Belang geblieben, denn Friedrich ließ es bei der Finanzmethode Friedrich Wilhelms I. bewenden, nur daß er sie nach dem Siebenjährigen Kriege noch unendlich viel drückender machte.
Kommen die Gazetten, die nicht genieret werden sollen. Hierbei spielte sich ein kleines Intermezzo der auswärtigen Politik ab; Friedrich wollte sich eine Waffe mehr gegen die anderen europäischen Mächte sichern. Dieser Zusammenhang geht unzweideutig aus der urkundlichen Quelle des geflügelten Worts hervor, einem Schreiben des Kabinettsministers Grafen Podewils vom 5. Juni 1740, dem sechsten Regierungstage Friedrichs. Es lautet: „Se. Königl. Majestät haben mir nach aufgehobener Tafel allergnädigst anbefohlen, des Königl. Etats- und Kriegsministers Herrn v. Thulemeyer Exzellenz in Höchstdero Namen zu eröffnen, daß dem hiesigen Berlinischen Zeitungsschreiber eine unbeschränkte Freiheit gelassen werden soll, in dem Artikel von Berlin von Demjenigen, was anitzo hierselbst vorgeht, zu schreiben, was er will, ohne daß solches zensirt werden soll, wie Höchstderoselben Worte waren, weil solches Dieselben divertire, dagegen aber auch sodann fremde Ministri sich nicht würden beschweren können, wenn in den hiesigen Zeitungen hin und wieder Passagen anzutreffen, so ihnen mißfallen könnten. Ich nahm mir zwar die Freiheit, darauf zu regeriren, daß der … sche Hof“ (vermutlich ist zu ergänzen: der österreichische) „über dieses Sujet sehr pointilleux wäre, Se. Maj. erwiderten aber, daß Gazetten,wenn sie interessant sein sollten, nicht genirt werden müßten.“ Es handelte sich also bei dieser glorreichen „Preßfreiheit“ um nichts als um einen alten und freilich ewig neuen diplomatischen Kniff, um die Möglichkeit, auswärtigen Mächten allerlei unangenehme Dinge sagen und dabei doch die Hände in Unschuld waschen zu können. Daneben blieb das strenge, von Friedrich immer wieder – so am 21. März 1741 und am 7. Juni 1746 – eingeschärfte Verbot bestehen, daß „in publicis nichts ohne höhere Erlaubnis gedruckt werden dürfe“; jede Kritik der Regierung und Verwaltung, ja „jede Erörterung der öffentlichen Verhältnisse galt für durchaus unstatthaft“ (Preuß). In dem politischen Teile der damaligen Berliner Zeitungen findet man nichts als Nachrichten von Feuersbrünsten, Erdbeben, Mißgeburten, wie eine Algierische Schebecke ein Maltesisches Schiff genommen, und dergleichen mehr.
Denn auch über den „Artikel von Berlin“ wurde schon im Dezember 1740 die Zensur wieder verhängt, angeblich wegen „Mißbrauchs der Freiheit“, tatsächlich wohl, weil Friedrich, als er Berlin verließ, um in Schlesien einzufallen, die Waffe, die er selbst nicht mehr führen konnte, in den damaligen Zeitläuften nicht andern Händen überlassen mochte. Aber gleichviel, ob dem so oder anders war: In jedem Falle hatte die ganze Herrlichkeit von sogenannter „Preßfreiheit“ gerade nur ein halbes Jahr gedauert, was am Ende auch noch das Beste an ihr war. Grundsätzlich hat sich Friedrich stets als ein Gegner der Preßfreiheit, als ein Anhänger der Zensur bekannt, selbst an Stellen, an denen er sonst gern seine freisinnigste Seite herauskehrte, wie in seinem literarischen Briefwechsel mit französischen Schriftstellern. So schreibt er am 7. April 1772 an d’Alembert, man müsse in den Büchern alles unterdrücken, was die allgemeine Sicherheit und das Wohl der Gesellschaft gefährde, welche die Verspottung nicht ertrage. Es ist auch wohl kaum nötig zu sagen, daß die Anekdote von der Karikatur auf den König, die Friedrich „niedriger hängen“ ließ, damit sie bequemer gesehen werden könne, nach Nicolais Zeugnis eine „leere Sage“ ist, ein „Stadthistörchen, wie dergleichen bei Hunderten in Berlin und in allen andern großen Städten“ umzugehen pflegen. Am Abend seines Lebens, in einer Kabinettsorder vom 14. Oktober 1780, huldigte der König dann noch der Preßfreiheit in seiner besonderen Weise, indem er den Kriegsdienst als Strafe „wegen unbefugter Schriftstellerei, Aufwiegelung der Untertanen und dabei verwirkter grober Plackereien“ verhängte.
Tatsächlich aber gibt es keinen klassischeren Zeugen gegen das friderizianische Preßsystem als gerade Lessing. In der bittersten Armut seiner jungen Jahre war es ihm nicht gut genug, eine politische Zeitung in Berlin zu redigieren unter einer jede selbständige Äußerung unterdrückenden Zensur, und in seinen reiferen Jahren hat er bekanntlich die „Berlinische Freiheit zu denken und zu schreiben“ mit bitteren Worten beschränkt „einzig und allein auf die Freiheit, gegen die Religion soviel Sottisen zu Markte zu bringen, als man will, und dieser Freiheit muß sich der rechtliche Mann nun bald zu bedienen schämen“.
Man darf nicht übersehen, daß dabei der Nachdruck noch obendrein auf den „Sottisen“ ruht. Herr Erich Schmidt macht ein großes Aufheben davon, daß Friedrich den „anrüchigen“, den „verachteten“ Freigeist Edelmann ruhig in Berlin habe leben und sterben lassen. Das ist auch ganz richtig; nur hätte Herr Schmidt doch lieber einem ehrlichen Manne nicht noch nach dem Tode die Ehre abschneiden sollen, um eine Gloriole um Friedrichs sogenannte „Toleranz“ zu weben. „Anrüchig“ und „verachtet“ war Edelmann höchstens bei den Zeloten des Berliner Aufklärichts, sonst war er, wie Geiger ihn treffend nennt, ein „Aufklärer vor der Aufklärungszeit“, ein gar nicht unwürdiger Vorläufer von Reimarus und in gewissem Sinne selbst von Lessing. Die „verächtlichen Anspielungen“, die Lessing nach Herrn Schmidt auf Edelmann gemacht haben soll, beschränken sich in der Tat darauf, daß der blutjunge Lessing in einem Brief an seinen Vater beiläufig sagt, gegen Lamettrie sei Edelmann noch ein Heiliger: In reiferen Jahren kann Lessing unmöglich „verächtlich“ von einem Manne gedacht haben, der trotz mancher Schwarmgeisterei unerschrocken in Spinoza seinen Meister pries, der alle geoffenbarten Religionen für unmöglich erklärte, aber die Stifter von Religionen gegen den Vorwurf des Betruges verwahrte, der in dem Vorworte seines bedeutendsten, 1747 erschienenen Werks höchst lessingisch schrieb, nicht Frevel oder Mutwille drücke ihm die Feder in die Hand, sondern die Liebe zur Wahrheit, ob er schon wisse, daß denen, die die Wahrheit geigten, der Fiedelbogen um den Kopf geschlagen zu werden pflege.
Die Duldung, die Friedrich dem verfolgten Manne gewährte, hatte nun aber auch sehr ihre zwei Seiten. Der König scheint ihn für einen harmlosen Schwärmer genommen zu haben; er hat ihn persönlich nicht behelligt, obgleich er ihm eine ausdrückliche Zusicherung seines Schutzes versagt haben soll. Aber sonst gab er ihn seinen Verfolgern einfach preis. Der Propst Süßmilch nämlich, ein Mitglied der Akademie und ein auf dem Gebiete der Bevölkerungsstatistik sonst nicht unverdienter Schriftsteller, fiel in einer wütenden Schmähschrift – „halb Denunziation, halb Schimpfwörterlexikon“ nennt sie Geiger – über den „berüchtigten Edelmann“ her, und als ein anderes Mitglied der Akademie, der Chemiker Pott, sich in einer anonymen Gegenschrift Edelmanns annahm, schickte der König den Drucker dieser Schrift, den jungen Rüdiger, einen Freund Lessings, für sechs Monate auf die Festung nach Spandau, weil er, wie Sulzer an Gleim schrieb, die „christliche Religion und ihre Herolde angegriffen“ hatte. Obendrein erklärte Friedrich in einem besonderen Edikte vom 14. April 1748, er werde in ähnlichen Fällen keine Begnadigung eintreten lassen. Im Jahre 1743 hatte er bereits ein paar rationalistische Abhandlungen des Gottschedianers Gebhardi verbieten lassen, und als dann der Gottschedianer Mylius, der bekannte Jugendfreund Lessings, in einer von ihm herausgegebenen Wochenschrift die Berliner Schulmeister beleidigt haben sollte, erschien „wegen verschiedener skandaleuser, teils wider die Religion, teils wider die Sitten anlaufender Bücher und Schriften“ das allgemeine Zensuredikt vom 11. Mai 1749, das auch die theologischen Schriften einer Zensur unterwarf und den – Propst Süßmilch zum theologischen Zensor bestellte. Dies Edikt blieb bis zu Friedrichs Tode in Gültigkeit. Bekanntlich wurde dann auch den Fragmenten eines Ungenannten, als Lessing sie in Berlin herausgeben wollte, von der theologischen Zensur das Plazet verweigert, nicht zwar von dem inzwischen gestorbenen Süßmilch, aber von Teller, dem „aufgeklärtesten“ der Berliner Theologen, der obendrein, als Lessing in Braunschweig wegen der Anti-Goeze gemaßregelt wurde, aus freien Stücken diese fliegenden Blätter einer klassischen Polemik für „nicht zensierbar“ in Berlin erklärte. Man sieht also, daß man die „Sottisen gegen die Religion“, auf die Lessing die Berlinische Gedanken- und Redefreiheit beschränkte, im sottisenhaftesten Sinne des Worts nehmen muß: Ernsthafte Untersuchung religiöser Grundsätze, selbst wenn sie von Gottscheds bescheidenem Standpunkt ausging, wurde unter Friedrich gar sehr „geniert“.
Damit sind wir zur Religionspolitik Friedrichs und zu dem berühmtesten seiner geflügelten Worte gelangt. In dem Satze: „Alle Religionen müssen toleriert und jeder muß nach seiner Fasson selig werden“, erblickt Stahr den „Grundgedanken des Nathan“, und wer weiß wie viele haben ihm diese Weisheit gläubig nachgebetet. Man könnte sich wundern, daß Stahr und seine Gefolgschaft nicht lieber eine andere, zu gleicher Zeit von Friedrich über die gleiche Frage erlassene Kabinettsorder anziehen, die der Parabel von den drei Ringen noch viel näherkommt. Auf das Ansuchen eines Katholiken nämlich um das Bürgerrecht in Frankfurt a. 0. antwortete Friedrich: „Alle Religionen sind gleich gut, wenn nur die Leute, so sie profitiren, ehrliche Leute sein, und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land peupliren, so wollen wir sie mosqueen und Kirchen bauen.“ Da wäre ja schon so etwas wie die drei Ringe, aber – der verzweifelte Satz „und wollten das Land peupliren“ hindert die Entwicklung dieser Kabinettsorder zu einer patriotischen Fabel. Friedrich wollte sein armes und dünn bevölkertes Land „peupliren“, um Rekruten für sein Heer und Steuern für seine Kassen zu bekommen, und da waren ihm Christen, Türken, Heiden und – wenigstens für den finanziellen Zweck – auch Juden höchst willkommen; er gewährte ihnen ohne weiteres öffentliche Anerkennung ihres Gottesdienstes und Schutz der Glaubensfreiheit. Aber deshalb hat er all sein Lebtag an eine Gleichstellung der religiösen Bekenntnisse im bürgerlichen Leben auch nicht im Traume gedacht; nichts hat ihm durch seine ganze Regierungszeit ferner gelegen, als den Juden, den Heiden, den Mohammedaner dem Christen, ja auch nur den Katholiken dem Protestanten gleichzustellen, wie es Locke in seinem Buche über die Toleranz und nach ihm die ganze bürgerliche Aufklärung verlangte. Man kann sogar nicht behaupten, daß sein persönlich freigeistiger Standpunkt bei der Bevölkerungspolitik irgendwie ins Spiel gekommen ist. Denn daß einerseits er selbst den Nutzen der Konfessionen für seine besondere Regierungskunst gar wohl zu erkennen wußte, andererseits aber schon sein strenggläubiger Vater „jeden nach seiner Fasson selig werden ließ“, beweist gerade die Entstehungsgeschichte dieses geflügelten Wortes.
Die protestantische Geistlichkeit hielt nämlich die Thronbesteigung Friedrichs für eine passende Gelegenheit, um mit den von Friedrich Wilhelm I. für Soldatenkinder eingerichteten römisch-katholischen Schulen aufzuräumen. Sie erbat vom Könige die Beseitigung dieser Schulen, indem sie sich auf einen Bericht des Generalfiskals Uhden berief, der ihre geistlichen Lehrer einer unerlaubten Propaganda bezichtigte. Friedrich schrieb aber an den Rand der Eingabe: „Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden, und Mus der Fiscal nuhr das Auge darauf haben, das keine der andern abrug Tuhe, den hier mus ein Jeder nach seiner Faßon Selich werden.“ Dieser „Grundgedanke des Nathan“ besteht also in der Aufrechterhaltung einer Einrichtung, die Friedrich Wilhelm I. getroffen hatte. Das heißt: ein Fürst von dem beschränktesten Kirchenglauben, der selbst vor argen Mißhandlungen seines ältesten Sohns, eben des späteren Königs Friedrich, nicht zurückscheute, weil dieser über irgendeinen subtilen Lehrbegriff des Calvinismus anders dachte, als er nach dem väterlichen Willen denken sollte. Trotzdem richtete aber Friedrich Wilhelm I nicht allein römisch-katholische Schulen für Soldatenkinder ein, sondern unterhielt in der Stadt Brandenburg auch einen russischen Popen für die russischen Soldaten seines Heeres; ja, er gestattete diesen, wo immer sie standen und auf die Gefahr der sonst wie die Pest gescheuten Desertion hin zur Befriedigung ihrer religiösen Bedürfnisse die Reise nach Brandenburg, die denn auch wirklich einmal von zwanzig kostspielig erworbenen Russen aus dem in Halle garnisonierenden Regimente des alten Dessauers zur Desertion benutzt wurde. Es ist darnach kaum noch nötig, ausdrücklich auszusprechen, daß, was Stahr und seine Nachbeter für den „Grundgedanken des Nathan“ halten, nichts anderes als das erste Gebot des preußischen Militärstaats war.
Die an sich schon schwierige und umständliche Werbung ausländischer Rekruten wäre ganz unmöglich geworden, wenn der Widerstand der Regierungen und der Bevölkerungen noch in dem Widerstande der Kirchen einen Rückhalt gefunden hätte. Für Preußen fiel dieser Umstand um so schwerer ins Gewicht, als es sein hauptsächlichstes Werbegebiet in den geistlichen Staaten des südlichen und westlichen Deutschlands hatte, während es doch für die römische Kurie der ausgeprägteste Ketzerstaat war, nicht zwar, wie es liebedienerische Geschichtsschreiber darstellen, wegen der ausgeprägten „protestantischen Gesinnung der Hohenzollern“, wohl aber, weil das eigentliche Königreich Preußen, die heutige Provinz Ostpreußen, säkularisiertes Ordensland, ein der katholischen Kirche geraubtes Besitztum war. Der Militärstaat Preußen hatte den dringlichsten Anlaß, die katholische Kirche wie ein rohes Ei zu behandeln; für ihn handelte es sich dabei einfach um Sein oder Nichtsein. Friedrich war sich darüber vollkommen klar. Wie er die katholischen Soldatenschulen vor protestantischen Anfeindungen schützte, so verbot er den protestantischen Feldpredigern in ihrer Vokation jeden Angriff auf den Katholizismus, so sorgte er in den Dienstreglements der einzelnen Regimenter für den regelmäßigen Gottesdienst der katholischen Soldaten, so ordnete er an, daß in den Feldlazaretten immer auch ein katholischer Geistlicher zugegen sein müsse, um den Angehörigen seiner Konfession mit religiösem Troste beistehen zu können, so ließ er im Jahre 1751 den „Heiligen Vater“ durch Algarotti wissen, daß die Katholiken in seinen Staaten nicht nur geduldet, sondern sogar beschützt würden.
Dazu kam noch ein sehr wichtiger Gesichtspunkt der Militärpolitik, der den König vollends bewegen mußte, jeden nach seiner Fasson selig werden zu lassen. In den Söldnerheeren war trotz der äußersten Wachsamkeit und der blutigsten Kriegsartikel die Desertion niemals auszurotten. Gegen ein so hartnäckiges Übel waren denn auch religiöse Mittel nicht zu verachten; in den Dienstreglements wurde befohlen, daß die „Bursche Gott fürchten“, daß sie sonntäglich zweimal in die Kirche geführt werden und „allezeit stille mit Andacht Gottes Wort hören“ sollten. Allein, wenn dadurch ein Erfolg erzielt werden sollte, so mußte den „Burschen“ namentlich die „Heiligkeit“ des Fahneneids durch einen Geistlichen ihrer „Fasson“ eingepaukt werden. In dieser Beziehung ist es bezeichnend sowohl, daß Friedrich von allen Geistlichen am höchsten die Jesuiten mit ihrer strammen Disziplin schätzte, als auch wie er an einem Priester dieses Ordens einen Zweifel an der „Heiligkeit“ des Fahneneides strafte. „Ich habe in allen Rücksichten nie bessere Priester als die Jesuiten gefunden“, ließ Friedrich dem Papste Clemens XIV. nach der Aufhebung des Jesuitenordens durch seinen römischen Geschäftsträger sagen, und er behielt die Jesuiten ohne ihr Ordensgewand als „Priester des königlichen Schulinstituts“ in seinen Landen bei, was die liberalen Jesuitenfresser und Kulturpauker von heute ja wohl „friderizianische Tradition“ nennen. Aber als ein wiederergriffener Deserteur aussagte, der Jesuitenpater Faulhaber in Glatz habe ihm auf seine Anfrage in der Beichte erklärt, die Desertion sei zwar eine große Sünde, aber doch keine Sünde, die niemals vergeben werden könne, da ließ Friedrich diesen Priester ohne Verhör und Urteil, ja auf seinen ausdrücklichen Befehl ohne Beichte neben einem schon seit einem halben Jahre faulenden Deserteur an dem Spionengalgen hängen. Verächtlicher in Glimpf wie in Schimpf behandelte Friedrich die evangelischen Geistlichen. Er benutzte sie, wie die katholischen, für seine Militär- und Schulzwecke, um Heer und Volk in Demut, Gehorsam und Unwissenheit zu erhalten, aber er schätzte die Erfolge ihrer Wirksamkeit viel geringer ein, und wenn diese jämmerlich besoldeten Leute einmal eine kleine Gehaltserhöhung oder sonstige Aufbesserung ihrer Lage verlangten, so pflegte er sie mit einer Anweisung auf den „Duhm von Neuen Jerusallem“ oder einem Hinweise auf die „Apostelen“, die auch umsonst gepredigt hätten, kurzum, mit Scherzen abzuspeisen, die Lessing dann ja wohl mit Recht „Sottisen gegen die Religion“ genannt hat.
So bietet die Religionspolitik Friedrichs äußerlich ein widerspruchvolles Bild, innerlich hängt sie aber in vollkommen logischer Weise mit den damaligen Existenzmöglichkeiten des preußischen Staats zusammen. Die Entstehung dieses Staats setzte ihn in den schroffsten Gegensatz zu der katholischen Kirche, und so ließ Friedrich zu den bürgerlichen Staats-, ja auch zu den wichtigsten Gemeindeämtern nur Protestanten zu. Aber die Erhaltung des Staats zwang ihm eine Bevölkerungs- und Militärpolitik auf, deren erste Voraussetzung die Duldung aller religiösen Bekenntnisse, ja bis zu einem gewissen Grade die Bevorzugung der katholischen Kirche war. Und als Stützen seines Despotismus waren ihm die Jesuiten lieber als jede andere Priesterschaft. In alles das aber spricht seine persönliche Freigeisterei auch nicht das leiseste Wörtlein mit hinein.
Das alles nun aber – was hat es mit Nathan, was hat Friedrich mit Lessing zu schaffen? Ungefähr ebensoviel oder sogar noch viel weniger als Kaiser Wilhelm II. mit Lassalle und Marx. In einem immerhin beschränkten Sinne tritt eine gewisse Analogie zwischen den Anfängen Friedrichs und des gegenwärtigen Kaisers hervor. Der Fürst ist der erste Diener des Staats: Entlassung Bismarcks. Roi des gueux: Februarerlasse. Gazetten dürfen nicht genieret werden: Aufhebung des Sozialistengesetzes. Hier muß jeder nach seiner Fasson selig werden: Preußischer Volksschulgesetzentwurf. Friedlich-schiedliche Trennung der Konfessionen, aber jeder Konfession in ihrem Bereiche die geistige Herrschaft über die Volksmasse: Das ist echt friderizianische Politik. Aber sieht man hievon und auch von dem ersten Punkte ab, so wird man anerkennen müssen, daß die Februarerlasse und die Aufhebung des Sozialistengesetzes sich zu dem Tafelwitze von dem roi des gueux und der Nachtischrede von den nicht zu genierenden Gazetten, was die Antriebe und die Zwecke der beiden Fürsten anbetrifft, verhalten wie der Chimborasso zum Kreuzberge. Gleichwohl – wer heute den Kaiser Wilhelm II. einen „Mitarbeiter und Mitstreiter seiner großen Zeitgenossen“ Lassalle und Marx nennen wollte, würde der Pflege eines Irrenarztes anvertraut werden, vorausgesetzt, daß er nicht wegen Majestätsbeleidigung die vier Wände einer Festungszelle beschreien müßte.
Aber es ist nicht nur ebenso widersinnig, sondern – wegen des eben hervorgehobenen Unterschieds – noch viel widersinniger, Friedrich und Lessing als Geistes- und Gesinnungsgenossen hinzustellen. Sie hatten nicht nur nichts miteinander gemein, sondern sie vertraten die denkbar schärfsten Gegensätze ihrer Zeit, und zwar – als die begabtesten Vertreter ihrer Klassen – in denkbar schärfster Weise. Friedrich verachtete aus tiefster Seele die „Roture“, deren Vorkämpfer Lessing war, und stieß eigenhändig mit seinem Krückstocke jeden Bürgerlichen aus den Reihen seiner Offiziere. Lessing aber erblickte voll herbster Abneigung und Mißachtung und in völliger Übereinstimmung mit seinen Geistesgenossen, den geborenen Preußen Herder und Winckelmann, in dem friderizianischen Staate das „sklavischste Land in Europa“.

Der vorliegende Text ist das Kapitel VI der 1893 erstmals als Buch unter dem Titel „Die Lessing-Legende. Zur Geschichte und Kritik des preußischen Despotismus und der klassischen Literatur“ erschienenen Sammlung von Aufsätzen Franz Mehrings, die er von Januar bis Juni 1892 in der „Neuen Zeit“, der damaligen theoretischen Zeitschrift der Sozialdemokratie, veröffentlichte. Wir zitieren – unter Weglassung der Anmerkungen – nach der Ausgabe des Dietz Verlages, Berlin 1953, S. 89 – 104.

W.B.