15. Jahrgang | Nummer 1 | 9. Januar 2012

Wa(h)re Demokratie im heutigen Amerika?

von Axel Fair-Schulz, Potsdam, N.Y.

Man muss schon ein recht dickes Fell haben, um die Fernsehdebatten und andere Auftritte der amerikanischen Konservativen zu ertragen. Und für sich entscheiden, ob es sich da mehr um ein äußerst peinliches politisch-ideologisches Kasperle-Theater oder aber eher um ein äußerst gefährliches Gruselkabinett politischer Möglichkeiten handelt. Schließlich geht es bei den republikanischen Vorwahlen darum, wer im November diesen Jahres gegen Barack Obama antritt und damit sogar die Präsidentenwahl gewinnen könnte.
Den um ihre Nominierung buhlenden republikanischen Kandidaten fehlen durchweg die elementarsten intellektuellen und moralischen Qualifikationen für das mächtigste Amt der Welt. Was 1976 der alte Haudegen Franz-Josef Strauss in seiner berüchtigten Wienerwaldrede über seinen Erzrivalen Helmut Kohl sagte, trifft ohne Einschränkung auf diese Demagogen zu. Damals wetterte Strauss über Kohl: „Er ist total unfähig. Ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Vorraussetzungen. Ihm fehlt alles dafür.“ Nun kann man nicht leugnen, daß  Strauss’ens harte Worte zumindest partiell daraus erwuchsen, wie der jüngere und kalt kalkulierende Kohl den bayrischen Platzhirsch strategisch und taktisch überrumpelt und ausmanövriert hatte, denn am Ende wurde Kohl Kanzler und eben nicht Strauss. Strauss erklärte diese Entwicklung später mit dem saloppen Hinweis, dass der Kohl sich eben unerwartet gut entwickelt und dazugelernt habe.
Könnte man nun auf einen ähnlichen Lernprozess bauen, sollte einer der jetzt angetretenen amerikanischen Konservativen die Nominierung der Republikaner und dann die November-Wahl gewinnen? Am Ende wird ja wohl auch in Amerika nichts so heiß  gegessen, wie es gekocht wurde, und selbst der provinzielle Kohl wuchs im Amt zum Staatsmann. Es gibt allerdings kaum gute Gründe, hier optimistisch zu sein. Denn obgleich die rechts-konservativen Kandidaten gegenwärtig in erster Linie die reaktionäre Stammkundschaft der Republikanischen Partei bedienen und zufrieden stellen müssen, um die Nominierung zu gewinnen, sind sie alle im Credo markt-radikaler Ideologie gefangen und können sich Wirtschaftspolitik nur in den Kategorien von immer extremeren Steuersenkungen für die Super-Reichen und weiterer Deregulierung der Finanzmärkte vorstellen. Dass mit solchen Mickey-Mouse-Rezepten der sowieso schon am Rande der Zahlungsunfähigkeit balancierende amerikanische Staat noch schlimmer von den herrschenden Wirtschaftseliten ausgeplündert und damit die Gesamtwirtschaft noch starker ruiniert würde, kümmert diese Leute kaum. Es ist, also ob die Republikanische Führungsriege die Beobachtung von Karl Marx mit immer neuen Belegen untermauerte, der dem Kapitalismus nicht nur zerstörerische Aspekte, sondern in letzter Instanz auch selbstzerstörerische Dynamiken attestierte. Dieser außer Rand und Band geratene corporate capitalism jedenfalls frisst schon heute seine Kinder und destabilisiert nicht nur Amerika, sondern unseren gesamten Planeten.
Ist das Rennen für Barack Obama damit schon gelaufen? Ohne Frage ist Obama intellektuell allen seinen republikanischen Herausforderern himmelhoch überlegen. Dies trifft nicht nur auf Michele Bachmann zu, die  mangels genügender Unterstützer für ihre extremen sozialkonservativen und religiösen Positionen selbst unter den reaktionären Stammwählern gerade auf ihre Kandidatur verzichtete. Newt Gingrich, Mitt Romney, Rick Santorum, Rick Perry, Ron Paul und der moderatere, aber gerade deswegen weitgehend chancenlose Jon Huntsman können Obama weder in der Substanz noch in der persönlichen Ausstrahlung das Wasser reichen. Doch trotz dieser asymmetrischen Konstellation, die Obama als das entschieden kleinere Übel erscheinen lässt, spielen zahlreiche Amerikaner, die 2008 für ihn stimmten, nun mit dem Gedanken, die Wahl zu boykottieren.
Gute Gründe für solch großen Frust unter Obamas einstigen Anhängern sind Legion. Einige davon kann man in Ron Suskinds neuestem Buch Confidence Men: Wall Street, Washington, and the Education of a President nachlesen. Suskind, ein seit Jahrzehnten die politischen und sozial-ökonomischen Verhältnisse in den USA kritisch beleuchtender Journalist und Pulitzer-Preisträger, untersucht in diesem Buch die Wirtschaftspolitik von Obama und dessen Team. Obamas Problem besteht nicht zuletzt gerade in diesem Team, das sich bisher vor allem durch Kompetenzgerangel, Intrigen und marktradikalen Köhlerglauben ausgezeichnet hat. Stichwort Marktradikalismus: Obama hatte durchaus die Option gehabt, moderate und seriöse Ökonomen wie die Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz und Paul Krugman in sein Beraterteam zu berufen. Doch leider entschied er sich für Larry Summers und Tim Geithner, die als de facto Wirtschaftslobbyisten im Grunde von der Richtigkeit des Republikanischen Kurses von Sozialabbau, Deregulierung, und Steuererleichterungen zu Gunsten der winzigen Minderheit – die reiche und superreiche Oberschicht macht gerade mal  ein Prozent der Bevölkerung aus – und gegen die Interessen der Mehrheit von 99 Prozent überzeugt sind. Der Demokratische Senator Byron Dorgan wird von Suskind gegenüber Obama mit den entsetzten Worten zitiert: „Du hast die falschen Leute berufen. Ich kann es nicht fassen. Die falschen Leute.“
Eben diese falschen wirtschaftspolitischen Berater nun haben ihren Teil dazu beigetragen, dass ein Großteil von Obamas einstigem Erneuerungsprogramm durch Halbherzigkeit in den Sand gesetzt wurde. Auch unter Obama wächst der Abstand zwischen Arm und Reich gewaltig. Die grundlegenden strukturellen Probleme des seit Ronald Reagan immer destruktiveren amerikanischen Kapitalismus werden weitgehend ignoriert.
Besteht die Qual der Wahl für progressive Amerikaner nun nur zwischen größerem oder kleinerem Übel, also zwischen Republikanern oder Demokraten? Bleibt uns, denen dieser Entscheidungsspielraum entschieden zu gering ist, dann nur noch die Option des Wahlboykotts? Nein, diesen Gefallen sollten wir den Herrschenden nun wirklich nicht tun!! Denn wahre  Demokratie besteht nicht aus dem passiven Konsumieren von vorgegebenen Optionen, sozusagen massenproduziert und finanziert von den marktbeherrschenden Konzernen. Eine von den herrschenden Eliten regulierte und eingezäunte Demokratie verkommt zur Ware, der selbstbestimmte Bürger zum inaktiven und leicht beeinflussbaren Konsumenten.
Das ist im Übrigen kein Problem, dass nur die USA beträfe. Ohne uns in Utopien zu verlieren und ohne die Begrenztheit und Bedingtheit politischen Handelns zu verkennen, müssen wir alle, Amerikaner, Europäer, Asiaten, Afrikaner und Australier, von passiv konsumierenden zu aktiv mitgestaltenden Wählern werden. Wir müssen den von den Machteliten und deren Multiplikatoren in den Massenmedien vorgegebenen Horizont des politisch Möglichen nicht als naturgegeben akzeptieren, sondern hinterfragen und ausweiten. Und erkennen, dass wahre Demokratie nicht darin besteht, sich mit dem Ritus von formalen Wahlen zu begnügen oder diesem fernzubleiben. Die nach wie vor wachsende Occupy Wall Street-Bewegung ist dabei ein Schritt in die richtige Richtung. Seit Oktober vergangenen Jahres weiss nun jeder Amerikaner, dass es in unserem Land die herrschenden ein Prozent gibt, und uns, die beherrschten 99 Prozent. Diese ungleiche und ungerechte Machtverteilung wird keine konventionelle Politik korrigieren, sondern nur eine auch außerparlamentarisch aktive, demokratische und pluralistische soziale Bewegung.