von Wolfram Adolphi
Potsdam im August. Chinafest auf der Freundschaftsinsel. Gemälde, Musik, Tanz, Kalligraphie. Laternen in den Bäumen, Drachen in der Luft. Gespräche mit den chinesischen Künstlerinnen und Künstlern. Ich bin am Fest beteiligt, lese Romanpassagen über einen Deutschen, der im Peking der 1930er Jahre einen kleinen Kunstverlag betreibt. Danach zieht mich eine deutsche Dame um die Sechzig ins Gespräch. Sie freue sich, sagt sie, über meine ganz und gar unkoloniale Art der historischen Chinabetrachtung, will wissen, was ich zu den heutigen Entwicklungen sage, nickt zustimmend, als ich mich kritisch mit europäischer Oberflächlichkeit im Chinabild auseinandersetze, bestärkt mich in differenzierender Darstellung der chinesischen Vorgänge, spart nicht mit Bejahung und unterstreichenden Gesten, und als ich nach einer halben Stunde zu einem Ende kommen will, verabschiedet sie sich mit dem Satz: „Aber am Ende ist es ja doch die Gelbe Gefahr. Da hat mein Großvater schon Recht gehabt.“ Na großartig, denke ich, wozu die Anstrengung.
„Spiegel Online“ am 24. September. Zum ich weiß nicht wievielten Male sieht ein Reporter eines großen deutschen Mediums – in diesem Falle ist es Andreas Lorenz – „China am „Scheideweg“. Oder genauer: Den „Roten Riesen“ an diesem. „Roter Riese am Scheideweg“. Erst so macht’s die richtige Dramatik. „Drei Wege sind möglich“, weiß Lorenz. Weg eins folgt einem „zuversichtlichen Szenario“, und dieses heißt: China wird „eine stabile Demokratie“ mit wachsender Mittelklasse, einer steigenden Zahl von Bürgerinitiativen und einer kommunistischen Partei, die „eines Tages nicht mehr in der Lage (ist), ihre internen Differenzen unter einer kollektiven Führung zu verdecken“, woraufhin „Fraktionen“ entstehen – „und am Ende Parteien“. Weg zwei hingegen ist „düster“: „Die Armen werden ärmer, die Reichen reicher“; die Regierung ist „nicht in der Lage, die steigende Arbeitslosigkeit zu bewältigen“; „die Umweltprobleme werden gravierender“; „Millionen Menschen (…) ziehen auf der Suche nach sauberem Wasser, nach sauberer Luft und sauberen Lebensmitteln durchs Land“; es kommt „zu Chaos, Unruhen erschüttern das Land, Provinzen spalten sich ab, ein Strom von Flüchtlingen ergießt sich über Asien“. Als drittes Szenario bietet Lorenz ein „neutrales“: „Es bleibt alles, wie es ist.“ Die Mittelklasse „ist nicht an Gewaltenteilung interessiert, sondern daran, den Status quo zu erhalten“, und sie „setzt den Pakt mit der herrschenden Politikerkaste fort, um die Forderungen und Wünsche der armen Bevölkerungsmehrheit nach einem großen Stück vom Wohlstandskuchen abzuwehren.“
Na großartig, denke ich auch hier, wozu die Anstrengung. Egal, was in China passiert: Das Schema, nach dem der deutsche Mainstream das Land betrachtet, bleibt konstant. Bleibt das Dogma der selbstgefälligen Besserwisserei. Das im immer gleichen Credo gipfelt, wonach „Zuversicht“ nur geboten ist, wenn China wird „wie wir“: als „stabile Demokratie“, mit Bürgerinitiativen und Parteien. Und wenn nicht? „Gelbe Gefahr“.
Wie weit ist das alles von einem Denken entfernt, das der vielbeschworenen Globalisierung entspricht! Was, frage ich mich, soll erreicht werden mit diesem auf Konfrontation gebürsteten Denken aus dem vorigen Jahrhundert? Das sich der Frage verweigert, was denn eigentlich los ist mit dem „Wir“, das den Chinesen zum Vorbild dienen soll?
Als ob nur in China die Armen ärmer und die Reichen reicher würden – und nicht auch dort, wo es schon lange eine „stabile Demokratie“ mit Parteien und Bürgerinitiativen gibt. Als ob die Suche nach sauberem Wasser, nach sauberer Luft und sauberen Lebensmitteln eine spezifisch chinesische wäre – und nicht eine globale. In der die „stabilen Demokratien“ mit all ihren Parteien und Bürgerinitiativen eine so egoistische wie zerstörerische Rolle spielen, weil sie längst jene „Pakte“ geschlossen haben, mit denen „die Forderungen und Wünsche der armen Bevölkerungsmehrheit“ – und zwar im Weltmaßstab – „nach einem großen Stück vom Wohlstandskuchen“ abgewehrt werden. Und wehe, die so gewollte Ordnung gerät durcheinander. Dann führen sie auch Krieg, die „stabilen Demokratien“. Oder schaffen – wie in Ostafrika – durch ökonomische Ausbeutung Situationen, die Kriege zur Folge haben. Und Ströme von Flüchtlingen ergießen sich. Jetzt schon. Nicht erst im düsteren Zukunftsszenario.
Ostafrika übrigens wäre, wenn man das 1,3-Milliarden-Menschen-Maß des „Roten Riesen“ auf ein Land mit Berlin als Mittelpunkt übertrüge, noch Bestandteil desselben. Wie auch der Nahe Osten und Nordafrika. All diese Widersprüche und Kämpfe und Aufstände und Revolutionen, all dieser Hunger und dieser Wassermangel wären dann die inneren Probleme dieses einen Staates, und er müsste sie als innere zu bewältigen versuchen und könnte sie nicht ins „Außen“ verlegen, wie es jetzt die „stabilen Demokratien“ zu tun pflegen.
Ich empfehle sie sehr, diese Maß-Übertragung. Sie hilft, zu verstehen, wovon die Rede ist, wenn es um China geht. Und sie hilft, die globalisierte Welt endlich als das zu sehen, was sie längst ist: das „Eine Haus Welt“, das dringender denn je eines Neuen Denkens bedarf. Was mit anachronistischen Kampf- und Angstbegriffen wie „Roter Riese“ und „Gelbe Gefahr“ freilich nicht zu gewinnen ist.
Schlagwörter: China, Demokratie, Globalisierung, Wolfram Adolphi