28. Jahrgang | Nummer 22 | 15. Dezember 2025

Hat der Pazifismus das Lager gewechselt?

von Stephan Wohanka

Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten,

der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs

zu einem künftigen Kriege gemacht worden.

Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden

 

Picassos Friedenstaube flattert aufgeregt; es sind unruhige Zeiten, wieder einmal. Vielleicht ist ihre größte Stärke zugleich ihre größte Schwäche: Hinter diesem Symbol können sich viele Menschen versammeln. Bertolt Brecht ließ seinerzeit „die streitbare Friedenstaube meines Bruders Picasso“ auf den Theatervorhang des Berliner Ensembles pinseln. 2022 postete Björn Höcke ein Bild von sich und einer Friedenstaube. Dazu den Slogan: „Frieden schaffen ohne Waffen“. Verkehrte Welt?

In meinem publizistischen Umfeld stieß ich auf folgende Zeilen: „Die ‚dialektischen‘ Volten, die – honorige und kluge – Linke schlagen, um in Sachen Ukrainekrieg eine Schuldumkehr zu betreiben, sind delikat. Als eine Meisterleistung dieser Denkschule war in einem Beitrag Daniela Dahns in der Berliner Zeitung dieser ‚Klassenstandpunkt‘ zu lesen: ‚Eine Hauptlehre aus dem Stellvertreterkrieg in der Ukraine: Wer Krieg verhindern will, sollte ihn nicht provozieren. Im Umkehrschluss: Wer Krieg provoziert, will ihn auch’“. Die Frage: Wessen Krieg führt Russland stellvertretend in der Ukraine?

Diese „Denkschule“ meint – klar – natürlich, dass Putin aufgrund der NATO-Osterweiterung gar keine Wahl hatte und zum Überfall auf die Ukraine regelrecht gezwungen war. Russland, so die Erzählung, ist das Opfer einer sträflichen „provokativen“ Politik des imperialen Westens, deren Handlangerin die ukrainische Regierung ist. Ergo: Die Ukraine ist selbst schuld am russischen Überfall. Damit ist man nahe bei Trump, der meinte, die Ukraine hätte den Krieg „niemals anfangen sollen“. Beides ist klassische „Schuldumkehr“.

Bei einer Friedensdemonstration im Oktober 2024 in Berlin war der SPD-Politiker Ralf Stegner, völlig unverdächtig, dem Kriege das Wort zu reden, dabei. Er betonte in seiner Rede auch das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung – und erntete Pfiffe und Buhrufe. „Die klassische (das heißt die „linke“ – St. W.) Friedensbewegung ist schwach und zersplittert, es sind auch merkwürdige Leute dabei“, sagte Stegner einige Tage später. Darin besteht das Dilemma der „linken“ Friedensbewegung.

Auch ein Vorstandsbeschluss der Partei Die Linke von Anfang März 2025 macht selbiges deutlich – einerseits wolle sie „immer an der Seite der Unterdrückten und Angegriffenen“ stehen und ihre „volle Solidarität den Menschen in der Ukraine“ bekunden, aber andererseits trägt sie außer Appellen kaum Konkretes dazu bei, dass das Land so lange standhalten kann, bis der Aggressor zu mehr bereit ist, als dem überfallenen Land nur dessen Kapitulation „anzubieten“. Waffenlieferungen sind ihr ein Tabu.

Zu den im Wortsinn „des Merkens würdige Leute“ gehört der pazifistische Influencer Ole Nymoen. Er vertritt einen klaren Standpunkt in Sachen Wehrdienst, den er vehement ablehnt; mit allen Folgen: „Mit einer anderen Staatsmacht kann man sich gegebenenfalls noch arrangieren, mit dem Tod nicht. Der verhandelt nicht […] Ja klar, ich profitiere von der Freiheit (hierzulande – St. W.), die es gibt. Wäre mir diese Freiheit mein Leben wert? Nein“. Wie ein „Arrangement“ mit der „anderen Staatsmacht“ aussieht, erleben gerade Ukrainer in den russisch besetzten Gebieten hautnah. Auch historisch gesehen gibt es zur „Beschaffenheit“ derartigen „Verabredungen“ zwischen Siegern und Besiegten sehr differierende Erfahrungen. Man sollte also den wahren Preis der Kapitulation kennen …

Der Pazifismus und die ihn tragende Friedensbewegung galten aufgrund ihrer historischen Wurzeln und Aktivitäten explizit als linke, antimilitaristische und oft auch noch antikapitalistische Strömung und verstehen sich in Teilen immer noch so. Da kann es schon mal zu folgendem Irrwitz kommen: „Als die westalliierten (so im Original – St. W.), kapitalistischen Armeen 1944 die deutsche Grenze überschritten, wurde der Krieg für Deutschland zu einem Verteidigungskrieg“.

Ihre Hochzeit hatte die linke Friedensbewegung mit klaren pazifistischen Positionen während des Kalten Krieges. Linke Parteien und Gruppen opponierten gegen militärische Interventionen, NATO-Aufrüstung und Verteidigungseinsätze; Begriffe wie „Frieden schaffen ohne Waffen“ waren klar links geprägt. Heute behauptet Tino Chrupalla, die AfD sei die einzige Friedenspartei in Deutschland.

Die Titelfrage „Hat der Pazifismus das Lager gewechselt?“; wurde er also von einem „linken“ Anliegen zu einem „rechten“, beschreibt ein politisches Wahrnehmungsphänomen, das in den letzten Jahren oft diskutiert wurde. Gemeint ist nicht, dass sich Pazifismus inhaltlich verändert hätte, sondern dass sich die politischen Lager, die ihn vertreten oder ablehnen, in bestimmten Debatten verschoben haben. Entscheidend für die Zersplitterung der Bewegung sei der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, sagt der Protestforscher und Kultursoziologe Alexander Leistner: „Im Jahr 2014 sind im Zuge des ersten Einmarschs Russlands in die Ukraine die Montagsmahnwachen entstanden und haben sich zunehmend verschwörungsideologisch vereindeutigt“. Damals hätten sich Teile der klassischen Friedensbewegung aus strategischen Gründen und manchmal aus Überzeugung nach rechts geöffnet; es seien „neue Mischszenen entstanden, die bis heute fortwirken“. Was sich mit Stegners Befund von den „merkwürdige Leute dabei“ deckt.

In den letzten Jahren hat sich das politische Spektrum in Teilen umgeordnet: Einige rechte oder rechts-populistische Akteure wie die AfD vertreten heute – aus völlig anderen als „linken“ Motiven – Positionen gegen Waffenlieferungen oder gegen militärisches Engagement des Westens. Es überwiegt bei ihnen das nationale Interesse, gepaart mit Skepsis gegenüber internationalen Verpflichtungen, unterfüttert mit antiglobalistischer Rhetorik. Teile der politischen Linken wie die Grünen treten dagegen inzwischen stärker für militärische Unterstützung von Partnerstaaten wie eben der Ukraine oder für militärische Abschreckung ein. Dadurch entsteht der Eindruck, dass pazifistische Argumente vermehrt auf der „rechten“ Seite auftauchen, während „harte“ sicherheitspolitische Positionen zunehmend von liberalen oder linken Strömungen vertreten werden.

Das bedeutet nicht, dass Pazifismus „rechts“ geworden wäre. Vielmehr ist es so, dass die politischen Reaktionen auf aktuelle Konflikte sich verändert haben; die Motivlagen und Wertvorstellungen hinter gleich klingenden Forderungen – „keine Waffen liefern“ – sind völlig unterschiedlich. Es handelt sich um eine Verschiebung der politischen Konstellation, nicht oder weniger um eine inhaltliche Neudefinition.

Den Unterschied kann man vielleicht so fassen: Es gibt weiterhin einen „linken“ Pazifismus, dagegen steht ein „rechter“ Anti-Interventionismus. Linker Pazifismus beruht nach wie vor auf humanistischen und moralischen Prinzipien wie Gewaltfreiheit und Antimilitarismus, internationalistischer Solidarität, Misstrauen gegenüber Machtpolitik, Militarismus und der Rüstungsindustrie. Er bevorzugt Diplomatie und Konfliktprävention mit dem Ziel, eine Welt mit weniger Gewalt, gar Krieg zu schaffen.

Er bietet jedoch keinen unmittelbaren Schutz gegen aggressive Gewalt; kann Aggressoren indirekt stärken, da er abhängig ist von der Gegenseite, deren guten Willen, überhaupt einen Dialog zu akzeptieren. Er wirkt zu langsam … und neigt bei asymmetrischen Lagen von Gewalt zulasten der Opfer zur Aufrechterhaltung seiner inneren Logik zu Ausflüchten wie der Schuldumkehr. Albert Einsteins Unterscheidung zwischen einem „vernünftigen“ und einem „unvernünftigen“ Pazifismus könnte hier hilfreich sein.

Rechter Anti-Interventionismus stützt sich nicht auf eine pazifistische Ethik, sondern meist, wie schon angedeutet, auf Nationalismus – „unsere Interessen zuerst“ –, Ablehnung internationaler Bündnisse wie EU, NATO, UN, Sympathien für autoritäre oder antiwestliche Regime wie Russland, Skepsis gegenüber Migration. Teilweise kursieren anti-elitäre oder verschwörungstheoretische Motive. Alles mit dem Ziel der nationalen Abschottung; nicht um Abrüstung oder gar Frieden als universelle Wert durchzusetzen.

Zusammengefasst: Linker Pazifismus ist ethisch, internationalistisch, antimilitaristisch. Rechter Anti-Interventionismus ist nationalistisch und isolationistisch; und bietet keine Alternative zum Pazifismus, trotz dessen offensichtlicher Schwäche. Die gleichen politischen Forderungen wirken unterschiedlich – deshalb entsteht die Irritation, der Pazifismus habe das „Lager“ gewechselt.

Und: Ein Frieden in der Ukraine muss der Kant’schen Maxime entsprechen; wenn nicht, ist er der „Stoff“ zum nächsten Krieg.