28. Jahrgang | Nummer 14 | 18. August 2025

Canettis Werke in einer Neuausgabe

von Mathias Iven

Im August 2024 liefen die letzten von Elias Canetti (1905-1994) verfügten Sperrfristen für seinen Nachlass aus. Die seither zugänglichen Tagebücher, Korrespondenzen und Dokumente des Literaturnobelpreisträgers ermöglichen nicht nur eine Neubewertung seines Werkes, sie machen auch eine Neuausgabe seiner Schriften notwendig. Die in Zürich ansässige Canetti Stiftung erklärt dazu: „Canettis Bekenntnis zum Dialogischen und seine sorgsame Weichenstellung für den Umgang mit dem Nachlass ermöglichen es, mit dem gebotenen Abstand diesen Jahrhundertautor in seinen verschiedenen, auch widersprüchlichen Facetten zu lesen.“ Finanziert durch die Stiftung und unterstützt von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur arbeitet ein Dutzend Fachgelehrter unter Leitung von Sven Hanuschek und Kristian Wachinger seither an der auf voraussichtlich 13 Bände angelegten Edition. Soeben sind im Hanser Verlag die ersten beiden, jeweils mit einem umfangreichen Apparat versehenen Bände dieser „Zürcher Ausgabe“ erschienen, im nächsten Jahr folgen die Dramen und „Die Fackel im Ohr“, der zweite Band von Canettis Autobiographie.

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Am 12. September 1965 hielt Elias Canetti fest: „Ich kann mich nur in Figuren ausdrücken. Anders bin ich nicht auf der Welt, oder ein blosser Schatten. – Eine Erfassung der Welt, die nicht in Figuren gelingt, erscheint mir wie eine Beihilfe zu ihrer Zerstörung.“ Mit Bezug auf den altgriechischen Philosophen und Naturwissenschaftler Theophrastos, dessen um 319 v. Chr. entstandenes Buch „Charaktere“ Canetti offenbar schon in jungen Jahren gelesen hatte, beginnt er sechs Jahre später mit der Arbeit an dem im Sommer 1974 veröffentlichten Buch „Der Ohrenzeuge“, Untertitel „Fünfzig Charaktere“.

Neben dem titelgebenden Ohrenzeugen, von dem niemand ahnt, „dass es der Henker persönlich ist, mit dem er spricht“, trifft man darin unter anderem auf den geduldigen „Unterbreiter“ oder den „Hinterbringer“, der „sich keine Beleidigung entgehen [lässt], die im Zorn geäußert wurde“, und der dafür sorgt, „dass sie den Beleidigten erreicht“. Man lernt den „Ruhmprüfer“ kennen, der seit seiner Geburt weiß, „dass niemand besser ist als er“, und man stößt auf den „Fehlredner“, der sich zum Reden immer nur Leute aussucht, „die nicht wissen, wovon er redet“.

Zu den von Canetti ausgeschiedenen und jetzt erstmals im Anhang veröffentlichten Charakteren gehören zum Beispiel der „Überfahrene“ oder der „Loskäufer“, der sein Leben damit verbringt, „sich von Menschen loszukaufen“. Da gibt es den „Genauen“, der „allem abgeneigt [ist], was mit Gefühl oder Einbildung zusammenhängt. Er misst, er rechnet aus. Er traut eher den kompliziertesten Maschinen als einem Menschen.“ Und man lernt den Leitspruch des „Erbgenauen“ kennen, der besagt: „Ein Mensch, der nicht alle kennt, die denselben Ahnen entspringen, ist es nicht wert zu erben.“

Außerdem hat die Herausgeberin drei auf Canettis Nachlassnotizen beruhende „Polemische Porträts“ in den Band aufgenommen. Zum einen erinnert er sich an eine der für ihn „niederdrückendsten Begegnungen“ mit dem österreichischen Lyriker Theodor Kramer. Zum anderen skizziert er Max Frisch als den „Nasenlosen“ und zugleich „langweiligste[n] Schriftsteller der Neuzeit“. Und schließlich erfährt man, „dass er Ernst Bloch nicht lesen kann. – Eine prustende, hinkende, schwitzende, eiternde Mythologie, kein Mythos.“

Canetti, der die Menschen nicht nur belauschte und ein scharfer Beobachter war, sondern auch meisterlich formulieren konnte, sagte über sein Buch: „Es war mir beim Schreiben nicht ein einziges Mal bewusst, dass ich an mich selber dachte. Aber als ich das Buch mit den 50 Charakteren zusammenstellte, […] erkannte ich mich staunend in zwanzig von ihnen.“ Wie aus einer Notiz hervorgeht, fasste er am 10. Oktober 1975 eine Fortsetzung des Buches ins Auge – doch es blieb auch über die Jahre hinweg bei der bloßen Absicht.

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„Meine früheste Erinnerung ist in Rot getaucht.“ Mit diesen Worten beginnt der drei Jahre nach dem „Ohrenzeugen“ vorgelegte erste Band von Canettis Autobiographie. Unter dem Titel „Die gerettete Zunge“ erinnert er sich darin an die Jahre zwischen 1905 und 1921.

Geboren in Rustschuk, im damaligen Fürstentum Bulgarien, wuchs Canetti in einer gutsituierten Familie spaniolischer Juden auf. Er war sechs Jahre alt, als die Familie das Land verließ. „Zwei Brüder der Mutter hatten in Manchester ein Geschäft gegründet, das rasch florierte, der eine von ihnen war plötzlich gestorben, der andere bot meinem Vater an, als sein Kompagnon zu ihm nach England zu kommen.“ Als der Vater völlig überraschend mit nur 31 Jahren stirbt, zieht die Mutter mit dem Neunjährigen und seinen beiden kleinen Brüdern im Mai 1913 nach Wien. Drei Jahre darauf ein neuerlicher Ortswechsel: Ab 1916 lebten die Canettis in Zürich, wo Elias sich so heimisch fühlte wie nirgends zuvor. Doch schon 1921 kündigte sich ein weiterer Umzug an …

Wie die im Anhang der Neuedition versammelten, bisher unzugänglichen Dokumente zeigen, dachte Canetti schon früh daran, seine Lebensgeschichte aufzuzeichnen. So entstand die erste erhaltene Skizze mit dem Titel „Bulgarische Kindheit“ bereits Anfang der Vierzigerjahre. Doch erst nach dem Abschluss seines philosophischen Hauptwerkes „Masse und Macht“, an dem er mehr als drei Jahrzehnte gearbeitet hatte, wandte er sich wieder seinen Erinnerungen zu. Am 20. August 1960 vermerkte er in seinem Tagebuch: „Vielleicht kann ich in meiner Lebensgeschichte wieder zum Dichter werden.“ Wieder vergingen etliche Jahre. Im Februar 1976, die Arbeit war schon weit fortgeschritten, kamen erneut Zweifel auf: „Fraglichkeit der Jugendgeschichte, sie wird mir immer fraglicher. Wenn mir nicht etwas vollkommen Neues einfällt, das sie rechtfertigt, muss ich sie aufgeben.“

Canetti ging äußerst kritisch mit seinen Texten um. Hier ein Beispiel. Im Oktober 1975 schloss er das Kapitel „Die kleinen Brüder“ ab. Ein Vierteljahr später lautete sein Kommentar dazu: „schlecht, vielleicht neu schreiben“. Nach einer weiteren Durchsicht hieß es: „umschreiben, dem Inhalt nach nicht wertlos, etwas schwerfällig und bombastisch“, und im Mai 1976 urteilte er „immer noch unbrauchbar; neu zu schreiben“. Er schrieb es neu, doch schlussendlich wurde es Opfer seiner Selbstzensur.

Ende September 1976 konnte er das Manuskript endlich an den Verlag schicken. Als das Buch im Jahr darauf in die Läden kam, wurde es sofort zu einem Bestseller. Innerhalb von drei Monaten wurden 30.000 Exemplare verkauft. „Die gerettete Zunge“ wurde Canettis meistübersetztes und meistverkauftes Buch. Allerdings sah er diesen „Hype“ mit gemischten Gefühlen. In einem Brief vom Februar 1978 klagte er, der sich selbst als „Dichter ohne Werk“ bezeichnete: „ich bin – zu meiner Schande sei’s gesagt – durch dieses Buch zu einem ,Erfolgsautor‘ geworden“.

Für seine „Schriften, geprägt von Weitblick, Ideenreichtum und künstlerischer Kraft“, so die Begründung der Schwedischen Akademie, wurde er im Dezember 1981 mit dem Nobelpreis geehrt.

 

Elias Canetti: Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere (herausgegeben von Heide Helwig) [Zürcher Ausgabe, Band 4]. Hanser Verlag, München 2025, 206 Seiten, 36,00 Euro.

Derselbe: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend (herausgegeben von Sven Hanuschek und Kristian Wachinger) [Zürcher Ausgabe, Band 5]. Hanser Verlag, München 2025, 542 Seiten, 46,00 Euro.