Weshalb töten Sie mich? – Weshalb? Wohnen Sie nicht jenseits des Wassers? Mein Lieber, würden Sie diesseits wohnen, wäre ich ein Mörder, und es wäre ein Verbrechen Sie solcherart zu töten; da Sie aber am anderen Ufer wohnen, bin ich ein Held, und was ich tue, ist recht.
Blaise Pascal,
Gedanken
Der deutsche Verteidigungsminister Pistorius hat im Bundestag eine Rede für seinen Etat gehalten, die nach Zeitungsmeldungen demokratischer Blätter „den allergrößten Eindruck“ auf die Parteien gemacht hat. – An diesem Satz stimmen zwei Dinge nicht. Statt Bundestag muss es heißen „Reichstag“, und statt Verteidigungsminister Pistorius heißt es im 1925 veröffentlichten Text Ein deutscher Reichswehrminister von Kurt Tucholsky „Kriegsminister Geßler“. Aber auch Pistorius macht „den allergrößten Eindruck“, er gilt in allen Rankinglisten aller „demokratischen Blätter“ als der gegenwärtig beliebteste deutsche Politiker. Manche in der SPD würden ihn am liebsten sofort zum Kanzler machen. Wenn Krieg ist, liebt man niemanden aus dem politischen Personal so sehr wie den Kriegsminister. Der kennt sich aus. Meint man. Und wenn er halbwegs weiß, wie man auftreten und vor Mikros und Kameras daherreden muss, wie man mit „seinen Soldaten“ umgehen muss, dann macht das eben „den allergrößten Eindruck“. Auch Krieg sorgt – gerade dann, wenn er noch gar nicht erklärt ist, wenn es nur zu ihm kommen könnte – für positive Public Relations. Es ist so wahr wie traurig, dass Krieg (auch als bloße Möglichkeit) zu blinder Popularität führt. Die historischen und aktuellen Beispiele sind zahllos und berüchtigt. Und das Intelligenz-Niveau der Regierenden in aller Welt ist seit August 1914 nicht erkennbar besser geworden.
Vielleicht bleibt deshalb Tucholskys Behauptung „Soldaten sind Mörder“ (aus dem Text Der bewachte Kriegsschauplatz von 1931) ein ewiger Stachel im Fleisch des Militarismus, auch wenn sie nicht stimmt. Aber nicht etwa, weil es vom Bundesverfassungsgericht trotz unermüdlicher Bemühungen so vieler Staatsanwaltschaften im Lande, den Satz unter Strafe zu stellen, er immer wieder unter den Schutz des Artikels 5 im Grundgesetz (Meinungsfreiheit) gestellt wurde. Genau genommen sind Soldaten schlimmer als Mörder.
Im Kant-Gedenkjahr zitieren Politiker (zum Beispiel Olaf Scholz als Festredner in der Berlin-Brandenburger Akademie der Wissenschaften am 22.04.2024) gerne Kants Schrift Zum ewigen Frieden, wobei sie in ihrer intellektuellen Unredlichkeit eine entscheidende Forderung des Philosophen naturgemäß weglassen: „Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören.“ Nicht nur die Bundesregierung strebt das genaue Gegenteil an. Alle Regierungen verweigern sich Kants Vorschlag hartnäckig. Der beliebte Pistorius will nun die allgemeine Wehrpflicht wieder einführen. Vermutlich kennen weder er noch Scholz Kants Formulierung des „kategorischen Imperativs“ aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Das ist ein absolutes Verbot der Verdinglichung von Menschen, zum Beispiel zu Tötungsinstrumenten eines Staates. Soldaten sind aber nichts anderes als staatliche Tötungsinstrumente, deren alleiniger Zweck es ist, gegen die Tötungsinstrumente eines anderen Staates eingesetzt werden. Eigentlich ist das nicht schwer zu begreifen. Schon Horaz jedoch tat sich bekanntlich schwer damit, weshalb er sein bescheuertes „dulce et decorum est pro patria mori“ („süß und ehrenvoll ist’s, für’s Vaterland zu sterben“) dichtete. Gewiss gibt es Menschen, die blöd genug sind zu glauben, dass sie für ein „Vaterland“ (was immer das sein mag) ihr Leben auf dem Feld der Ehre lassen müssen. Denen ist nicht zu helfen. Aber sich aus lauter Dummheit erschießen zu lassen und andere zu töten, sind zwei vollkommen verschiedene Paar Stiefel. Nimmt man Kants Instrumentalisierungsverbot ernst, dann ist klar, dass alle Regierungen, die sogenannte Streitkräfte unterhalten, dagegen verstoßen. Und das ist absolut verabscheuungswürdig und verwerflich.
Alle Regierungen rechtfertigen sich damit, dass nicht sie, sondern der böse Feind die bösen Absichten hege und der Aggressor sei. Alle Regierungen haben das gleiche Narrativ. Die Frage steht also im Raum, ob Regierungen vertrauenswürdig sind. Demokratische Regierungen (und auch die meisten Medien in sogenannten demokratischen Staaten) behaupten, dass es diesbezüglich einen Unterschied zwischen ihnen und diktatorischen Regierungen gebe. Sie würden schließlich von der Opposition kontrolliert. Nun hat aber die Opposition erstens nicht immer die Möglichkeit, als geheim deklarierte Vorgänge effektiv zu kontrollieren (wenn überhaupt, dann erst viele Jahre später zum Beispiel in einem Untersuchungsausschuss, wenn die Sache längst über die Bühne ist und die Akten trotzdem geschwärzt sind), und zweitens gibt es in Sachen „Landesverteidigung“ selten eine Opposition, denn dann kennt man wie Wilhelm II. „keine Parteien mehr“, man kennt „nur Deutsche“ (beziehungsweise nur Amerikaner, Russen, Ukrainer, Chinesen und so weiter). Dass demokratische Staaten keineswegs vertrauenswürdiger sind als andere, hat Hannah Arendt in ihrem Essay „Die Lüge in der Politik“ von 1971 (wieder abgedruckt im Buch Wahrheit und Lüge in der Politik, 1987) gezeigt. In dessen Anfang geht es um die Pentagon-Papiere, das sind 7000 Seiten geheime Dokumente, die von Daniel Ellsberg illegal kopiert und der New York Times zugespielt wurden, die deren Inhalt 1971 veröffentlichte. Aus ihnen erfuhren die Amerikaner, dass sie über Jahre hin von ihrer Regierung über deren Kriegsziele in Vietnam knallhart belogen wurden. Beim Irakkrieg 2003 war es nicht anders. Er beruhte auf einer Lüge, und die am Krieg beteiligten britischen und amerikanischen Soldaten haben sich damals in unverantwortlicher Weise von Blair und Bush zu Tötungsinstrumenten ihrer Regierungen machen lassen, von denen sie schlicht betrogen wurden. 2003 war sogar der US-Außenminister Colin Powell, der im UN-Sicherheitsrat „Beweise“ dafür präsentierte, dass Irak über Massenvernichtungswaffen verfüge, von seinen eigenen Geheimdiensten belogen worden. (Für seinen UN-Auftritt entschuldigte er sich Jahre später, was bemerkenswert ist, weil man solche Größe von Politkern sonst nicht kennt.)
Der naive Glaube, dass demokratisch gewählte Regierungen weniger zur Lüge neigen oder auch nur weniger erfolgreich dabei seien als autokratische oder diktatorische Herrscher, ist lächerlich und eine grobe Fahrlässigkeit. Vertrauen ist selten unproblematisch. Kinder haben notwendigerweise ein nicht hinterfragtes Vertrauen zu ihren Eltern. Nicht wenige Regierungen aber glauben, die Bürger müssten ihnen so vertrauen, wie Kinder ihren Eltern. Sie glauben, die Bürger „an die Hand nehmen“, bei irgendetwas (Gesetzesvorhaben, Projekten und so weiter) „mitnehmen“ zu müssen. Diese paternalistische Einstellung von Regierenden enthält implizit und unausgesprochen eine Entmündigung der Bürger, die manchmal den letzteren so wenig bewusst wird wie den Ersteren, und spricht eher dafür, Regierungen keinesfalls zu vertrauen. Gewiss kann man nicht in permanentem Misstrauen leben, auch nicht in permanentem Misstrauen gegen die Regierung. Aber das Vertrauen gegen jede Regierung hat eine absolute Grenze und endet definitiv dort, wo diese beansprucht, Menschen das Töten befehlen und sie zu Tötungsinstrumenten machen zu dürfen.
Der einzelne Soldat kann niemals überprüfen, ob er von seiner Regierung belogen wird. Und oft genug sind Soldaten auch, wie gezeigt, von demokratischen Regierungen belogen worden. In Deutschland wird gerne als Argument ins Feld geführt, dass die Bundeswehr eine „Parlamentsarmee“ sei, dass also nicht ein König, ein Führer, ein Präsident, ein einzelner Herrscher den „Schießbefehl“ erteile, sondern – als Repräsentant des Souveräns – das vom Volk gewählte Parlament, das durch die Verfassung über die „Feststellung des Verteidigungsfalls“ zu diesem Befehl legitimiert sei. Das Argument taugt nichts. Zwar scheint das Grundgesetz im mit „Feststellung des Verteidigungsfalls“ überschriebenen Artikel 115a um allerlei Vorkehrungen bemüht, den Missbrauch dieses Falls auszuschließen. Dass Deutschland angegriffen ist, muss der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit und Zustimmung des Bundesrats feststellen; wenn keine Zeit dazu ist, dann der gemeinsame Ausschuss. Im äußersten Notfall (Absatz 4) gilt: „Wird das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen und sind die zuständigen Bundesorgane außerstande, sofort die Feststellung nach Absatz 1 Satz 1 zu treffen, so gilt diese Feststellung als getroffen und als zu dem Zeitpunkt verkündet, in dem der Angriff begonnen hat.“ Die Fragen, wer die Entscheidung trifft, dass „die zuständigen Bundesorgane außerstande“ sind, den Verteidigungsfall festzustellen, und wer damit die Feststellung „als getroffen“ geltend erklärt, wer den „Zeitpunkt“ feststellt, „in dem der Angriff begonnen hat“, bleiben unbeantwortet, weil sie ohne Selbstwiderspruch gar nicht beantwortet werden können. Aber irgendjemand (der vom Grundgesetz logischerweise nicht benannt werden kann) muss diese Entscheidung ja treffen. Jemand muss die Soldaten an die Front schicken, sonst findet die „Verteidigung“ nicht statt. Entscheidungen werden immer – auch im Ausnahmezustand – von Personen getroffen. Wer über den Ausnahmezustand entscheidet, ist – so die berühmte Definition von Carl Schmitt – der Souverän. Auch wenn man seinen Namen nicht kennt. All die scheinbar beruhigenden Vorkehrungen in der Verfassung können also der Möglichkeit des Betrugs der Öffentlichkeit hinsichtlich eines Kriegszustandes offensichtlich nicht vorbeugen. Denn auch ein Parlament kann belogen werden. Bei der Verdinglichung von Menschen zu Tötungszwecken gibt es keinen Unterschied zwischen Demokratien und Diktaturen.
Was folgt aus alledem rein logisch zwingend – oder, um es mit Habermas zu sagen, durch den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“? Man muss als vernünftig denkender Mensch jeder Regierung das Recht absprechen, Menschen zu einem Waffendienst zu zwingen. Man muss jedem Menschen das Recht absprechen, freiwillig für eine Regierung Waffendienst zu leisten. Berufssoldaten sind kein Jota besser als primitive Söldner, die wie Killer bereit sind, für Geld zu töten. Sie glauben nur, sie seien besser, weil sie ihre Tötungsintention durch eine angebliche Vaterlandsliebe überhöhen. Aber auch Patriotismus ist (zumal in diskursethischer Perspektive) eine niedere Gesinnung. Man ist nämlich einem Menschen der gleichen Nationalität nicht mehr schuldig als irgendeinem anderen Menschen auf der Welt. Wer das nicht einsehen will, disqualifiziert sich geistig selbst. Es gibt nur Menschen auf diesem Planeten, denen wir allen gleichermaßen verpflichtet sind. Die Nation ist kein Wert. Der Glaube an sie ist eine Form von Schwachsinn.
Fazit: Kein Staat hat das Recht, Menschen zu einem Waffendienst so zu instrumentalisieren, dass sie für ihn töten. Kein Mensch hat das Recht, sich selber für Tötungszwecke eines Staates (sei es als Söldner, sei es als Berufssoldat) zu instrumentalisieren oder instrumentalisieren zu lassen. In Staaten mit „Wehrpflicht“ ist es ethisch absolut geboten, sich ihr zu entziehen; dort, wo es möglich ist, durch gesetzlich erlaubte „Wehrdienstverweigerung“ oder (wo dies nicht möglich ist oder wo die Verweigerung nicht akzeptiert wird) durch Desertion, auf gut Deutsch: Fahnenflucht. Das heißt: Desertion ist (ganz im Gegensatz etwa zum deutschen Strafgesetzbuch) aus ethischen Gründen immer richtig. Ein Staat, der – wie die Bundesrepublik Deutschland – Desertion bestraft, ist ergo als ethisch verwerflich einzustufen. Quod erat demonstrandum. Ob Pistorius, Scholz und Konsorten fähig und willens sind, das zu begreifen, darf bezweifelt werden.
Ossietzky, 21/2024. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
Schlagwörter: Bernhard Schindlbeck, Frieden, Krieg, Mörder, Soldaten, Tucholsky, Wehrpflicht