27. Jahrgang | Nummer 25 | 2. Dezember 2024

Zur russischen Nukleardoktrin – ein Nachtrag

von Rainer Böhme und Wolfgang Schwarz

Das große Ganze ist, dass Russland die Schwelle für einen Atomschlag

als Reaktion auf einen möglichen konventionellen Angriff senkt.

Alexander Graef

Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

 

Darüber, dass Russland seine Doktrin zur Abschreckungshandhabung und zum Einsatz atomarer Waffen geändert hat, und warum das geschehen ist sowie darüber, um welche inhaltlichen Aspekte es dabei geht, ist in diesem Magazin berichtet worden (Blättchen 21/2024). Im Wesentlichen auf der Basis einer detaillierten öffentlichen Vorabinformation, die Russlands Präsident Wladimir Putin am 25. September 2024 vorgenommen hatte.

Nun hat Putin die veränderte russische Nukleardoktrin („Grundlagen der staatlichen Politik der Russischen Föderation zur nuklearen Abschreckung“) offiziell in Kraft gesetzt: durch den Präsidentenerlass Nr. 991 vom 19. November 2024, mit dem zugleich das bisher geltende Doktrindokument (Präsidentenerlass Nr. 355 vom 2. Juni 2020) für ungültig erklärt wurde. Unterzeichnet hatte Putin den Erlass am Vortag, als die Ukraine mit von den USA gelieferten ATACMS-Raketen erstmals ein Ziel auf russischem Territorium, in der Region Brjansk, angriff.

Der Präsidentenerlass Nr. 991 ist veröffentlicht worden (zum russischen Wortlaut hier klicken; zur deutschen Übersetzung hier), so dass die Möglichkeit besteht, die wesentlichsten Veränderungen anhand des Wortlauts beider Erlasse darzustellen.

Der erste Abschnitt des neuen Dokuments („Allgemeine Bestimmungen“), ist zwar weitgehend, aber nicht vollständig identisch mit der Ausgabe von 2020. In letzterer hieß es: „Die Russische Föderation betrachtet die Nuklearwaffen ausschließlich [Hervorhebung – R.B./W.S.] als Mittel der Abschreckung, dessen Einsatz die äußerste Maßnahme und aufgezwungen ist. Sie unternimmt alle notwendigen Anstrengungen, um die nukleare Bedrohung zu reduzieren und in den zwischenstaatlichen Beziehungen eine Verschärfung nicht zuzulassen, die geeignet ist, militärische Konflikte, darunter nukleare, zu provozieren.“ Die entscheidende Veränderung besteht darin, dass in der jetzigen Ausgabe das Wort ausschließlich fehlt. Damit kündigt sich eine Ausweitung der Bedingungen an, unter denen sich Russland das Recht vorbehält, Atomwaffen einzusetzen, eine Ausweitung, die im weiteren Verlaufe des Dokumentes substantiiert wird.

Der zweite Abschnitt („Wesen der nuklearen Abschreckung“) enthält – wie das Dokument von 2020 – eine Erläuterung des Ziels der nuklearen Abschreckung: Sie „ist darauf gerichtet, dass dem potenziellen Gegner die Einsicht erwächst, im Aggressionsfall gegen die Russische Föderation und (oder) ihre Verbündeten eine unabwendbare Vergeltung zu erleiden“. Im Unterschied zu 2020 ist dieser Erläuterung jetzt ein Passus darüber vorangestellt, gegen welche Akteure sich Russlands atomare Abschreckung richtet: „Die Russische Föderation verwirklicht die nukleare Abschreckung in Bezug auf einen potenziellen Gegner, worunter einzelne Staaten und Militärkoalitionen (Blöcke, Bündnisse) verstanden werden, die von der Russischen Föderation als potenzieller Gegner betrachtet werden und die über nukleare und (oder) andere Arten von Massenvernichtungswaffen oder über ein bedeutendes Gefechtspotenzial an Streitkräften allgemeiner Bestimmung verfügen. Die nukleare Abschreckung wird auch in Bezug auf die Staaten verwirklicht, die von ihnen kontrolliertes Territorium, Luftraum und (oder) Seegebiete und Ressourcen für die Vorbereitung und Verwirklichung einer Aggression gegen die Russische Föderation zur Verfügung stellen.“

Des Weiteren heißt es:
– „Die Aggression jedes Staates aus dem Bestand einer Militärkoalition (eines Blocks, Bündnisses) gegen die Russische Föderation und (oder) ihre Verbündeten wird als Aggression dieser Koalition (dieses Blocks, Bündnisses) betrachtet.“ (Mit anderen Worten: Gerät ein NATO-Staat mit Russland in einen militärischen Konflikt, steht das gesamte NATO-Gebiet unter der Androhung von – auch atomaren – Gegenschlägen.)
– „Die Aggression gegen die Russische Föderation und (oder) ihre Verbündeten vonseiten jedes Nichtnuklearstaates wird im Fall der Teilnahme oder Unterstützung durch einen Nuklearstaat als ihr gemeinsamer Überfall angesehen.“ (Die ukrainischen Angriffe mit weitreichenden Raketensystemen US-amerikanischer, britischer und französischer Herkunft betrachtet Moskau demzufolge zugleich als Angriffe der Hersteller-, respektive Lieferstaaten selbst und damit als Berechtigung für Gegenschläge auch direkt gegen diese.)

Dass damit das Risiko einer atomaren Selbstvernichtung Russlands durch entsprechende Vergeltungsschläge samt möglicher anschließender allgemeiner atomarer Eskalation verbunden ist, scheint Moskau nicht so zu sehen. Oder geflissentlich zu ignorieren.

Darüber hinaus waren im zweiten Abschnitt des Dokuments von 2020 sechs „wichtigste militärische Risiken genannt, die sich zu militärischen Bedrohungen entwickeln könnten“. Jetzt sind es sogar zehn derartige Risiken – bis zur „Planung und Durchführung groß angelegter Militärübungen durch einen potenziellen Gegner in der Nähe der Grenzen der Russischen Föderation“.

Der dritte Abschnitt des neuen Dokuments („Bedingungen für den Übergang der Russischen Föderation zum Nuklearwaffeneinsatz“) enthält noch bedeutendere Veränderungen. 2020 hieß es: „Die Russische Föderation behält sich das Recht vor, Atomwaffen als Reaktion auf den Einsatz von Atomwaffen und anderen Arten von Massenvernichtungswaffen gegen sie und/oder ihre Verbündeten sowie im Falle einer Aggression gegen die Russische Föderation mit konventionellen Waffen einzusetzen, wenn die Existenz des Staates selbst gefährdet ist.“ Im Gegensatz dazu heißt es jetzt: „Die Russische Föderation behält sich das Recht vor, Nuklearwaffen anzuwenden als Antwort auf den Einsatz der Nuklearwaffen und (oder) anderer Arten von Massenvernichtungsmitteln gegen sie und (oder) ihre Verbündeten, sowie auch im Fall einer Aggression mit dem Einsatz herkömmlicher [nichtatomarer, sprich konventioneller – R.B./W.S.] Waffen gegen die Russische Föderation und (oder) gegen die Republik Belarus […], wenn die Aggression eine kritische Bedrohung für ihre Souveränität und (oder) territoriale Integrität schafft.“ Es muss also nicht einmal mehr „die Existenz des Staates selbst gefährdet“ sein.

Diese Veränderung läuft auf eine erhebliche Absenkung der Schwelle für einen atomaren Ersteinsatz in einem bis dahin konventionellen Krieg und damit auf eine Erhöhung des Risikos einer unkontrollierbaren atomaren Eskalation hinaus.

Auf den letztgenannten Zusammenhang bereits 1983 hingewiesen hat der vormalige US-Sicherheitsberater McGeorge Bundy, als er in seinem Essay „A Matter of Survival“ in The New York Review of Books schrieb, dass im Hinblick auf Kernwaffen „niemand sagen kann, was geschehen wird, nachdem auch nur eine von ihnen […] eingesetzt worden ist. […] Natürlich kann niemand beweisen, dass jeglicher Ersteinsatz von Kernwaffen zum allgemeinen Flächenbrand führen wird. Aber was entscheidend ist, niemand kann auch nur annähernd beweisen, dass das nicht der Fall sein wird.“

Im Übrigen hat Moskau im jetzigen Doktrindokument weitere offizielle Bedingungen für einen Einsatz von Atomwaffen durch Russland eingeführt – zum Beispiel:
– den Einsatz von Atomwaffen oder anderen Arten von Massenvernichtungswaffen durch einen Gegner gegen militärische Formationen und/oder Einrichtungen Russlands, die sich außerhalb von dessen Territorium befinden;
– die Nennung von Belarus als im Falle einer Aggression gegen das Land unter russischem Nuklearschutz stehender Verbündeter;
– den Erhalt zuverlässiger Daten über einen massierten Start von Luft- und Weltraumangriffswaffen beliebiger Typen und deren Überquerung der russischen Staatsgrenze.

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Dmitri Medwedew, der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates, kommentierte den Zusammenhang von ukrainischen Angriffen mit von NATO-Staaten gelieferten weitreichenden Raketen gegen Ziele in Russland auf seinem Telegram-Kanal am 19. November 2024 folgendermaßen: „Der Einsatz von Bündnisraketen in dieser Form kann nun als Angriff der Blockstaaten auf Russland [Hervorhebung im Original – R.B./W.S.] gewertet werden. In diesem Fall ergibt sich das Recht, mit Massenvernichtungswaffen gegen Kiew und wichtige NATO-Einrichtungen zurückzuschlagen, wo auch immer sie sich befinden mögen. Und das ist bereits der Dritte Weltkrieg.“

 

PS: Der erstmalige Gefechtseinsatz des russischen Oreschnik-Raketensystems gegen ein strategisches Ziel in der Ukraine (gegen Juschmasch, eine der größten Rüstungsschmieden des Landes) am 21. November 2024 lässt vermuten, dass die Nukleardoktrin Russlands demnächst flankiert werden könnte durch eine völlig neue Art der strategischen Abschreckung – mit Waffensystemen, die trotz erheblich gesteigerter Wirkungsfaktoren (noch) nicht zu den Massenvernichtungswaffen zählen. In den USA ist dergleichen unter dem Label Conventional Prompt Global Strike seit Jahren ebenfalls in Arbeit (siehe Blättchen 18/2020).