27. Jahrgang | Nummer 22 | 21. Oktober 2024

Völkerrechtsbruch in Rostock

von Erhard Crome

Der Bundesminister für die Kriegstüchtigkeit, Boris Pistorius, hatte den Medien rechtzeitig mitteilen lassen, dass er am 21. Oktober in Rostock ein maritimes Führungszentrum der NATO für den Ostseeraum (Commander Task Force Baltic) offiziell einrichtet. Das sei ein „greifbarer Ausdruck zur Umsetzung der Zeitenwende“; zudem verfüge die deutsche Marine „über eine umfassende regionale Expertise und breite Fähigkeiten zur Seekriegsführung“, meine die Pressestelle des Bundesministeriums. Zu 12:50 Uhr war die Kommandoübergabe „mit Enthüllung Wappen“ geplant, anschließend Absingen der Nationalhymne.

An dieser Stelle ist es angezeigt, sich die völkerrechtliche Lage erneut zu vergegenwärtigen. Die deutsche Teilung 1945 war historisch Folge der Besetzung Deutschlands durch die alliierten Armeen im Ergebnis des von Hitler begonnenen deutschen Aggressionskrieges und schließlich der dauerhaften Interessen der Hauptmächte des Kalten Krieges auf deutschem Boden. Mit dem Ende der Blockkonfrontation in Europa und Deutschland rückte die „deutsche Frage“ historisch wieder auf die Tagesordnung. Sie hatte immer zwei Gesichter: Die Deutschen meinten mit dieser Frage immer die deutsche Einheit, die anderen Europäer die deutsche Gefahr. Wiedervereinigung und europäische Sicherheit lagen daher tendenziell in Konflikt. Der Kompromiss des Jahres 1990 sollte die Gegensätze mildern. Er hatte zwei Grundelemente: die fortdauernde Einbindung Deutschlands in die NATO und den „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ (2+4-Vetrag).

In den bewegten Wintertagen des Jahres 1990 machten die USA deutlich, dass sie auf dem Fortbestehen der NATO bestanden, und zwar in den drei Hauptfunktionen, die ihre Strategie seit Anfang an bestimmten: die USA in (West-)Europa drin zu halten, die Russen draußen und die Deutschen unter Kontrolle zu halten. Am 9. Februar 1990 holte US-Außenminister James Baker in Moskau die sowjetische Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands ein. Seine Begründung gegenüber Präsident Gorbatschow und Außenminister Schewardnadse lautete: „Würden Sie ein wiedervereinigtes Deutschland außerhalb der NATO und ohne US-Streitkräfte, dafür aber vielleicht mit eigenen Atomwaffen, lieber sehen? Oder ziehen Sie ein wiedervereinigtes Deutschland vor, das an die NATO-Beschlüsse gebunden ist?“ Mit anderen Worten: wenn die Sowjetunion machtpolitisch nicht mehr in der Lage sei, an einer dauerhaften und wirksamen Kontrolle über die Deutschen teilzunehmen, so wollten die USA dies über die NATO realisieren; das war Moment US-amerikanischer Europapolitik und der Präferierung der NATO. Die offene Wiederherstellung der Vasallenposition des Zeitenwende-Deutschlands gegenüber den USA entspricht dem. Zugleich war die Aufrechterhaltung der NATO – was Baker damals nicht sagte – später Instrument der Erweiterung der geostrategischen Positionen der USA und des Westens gegenüber Russland mittels NATO-Osterweiterung.

Gleichwohl wurden in dem 2+4-Vertrag klare Beschränkungen vereinbart. Im Artikel 1 des Vertrages wurden die Außengrenzen des vereinigten Deutschlands als mit den Außengrenzen der DDR und der Bundesrepublik Deutschlands identisch festgelegt und Deutschland aufgegeben, die Grenze mit Polen in einem völkerrechtlichen Vertrag zu bestätigen; es erklärte, keinerlei Gebietsansprüche zu haben und solche auch in Zukunft nicht zu erheben. Damit war ein wesentlicher Spannungspunkt der Nachkriegsgeschichte abschließend beseitigt. Im Artikel 3 bekräftigten die Regierungen der BRD und der DDR den Verzicht auf Herstellung und Besitz von und Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen und erklärten, dass auch das vereinigte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird. Frankreich, Großbritannien, die UdSSR und die USA erklärten im Artikel 7 die Beendigung ihrer „Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes“, mit der Folge: „Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.“ Damit waren die deutschen Angelegenheiten, wie sie Teil des Kalten Krieges und der internationalen Auseinandersetzungen seit 1945 waren, in der Sache abschließend geregelt.

Artikel 2 weist darüber hinaus und bestimmt: „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird.“ Sie erklärten, „dass das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.“ Die Artikel 4 und 5 befassten sich mit den Bedingungen des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der DDR. Hier stationierte deutsche Verbände durften bis zum Abschluss des Abzuges nicht in die NATO-Strukturen integriert sein, danach konnten sie, aber mit der Besonderheit: „Ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger werden in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch dorthin verlegt.“ In diesem Sinne wäre es Gegenstand winkeladvokatischer Rabulistik, ob die Einrichtung eines NATO-Führungszentrums in Mecklenburg unter die Rubrik „Stationierung ausländischer Streitkräfte“ fällt. Realistisch betrachtet muss diese Frage mit Ja beantwortet werden. Wir haben es hier mit einem klaren Fall von Vertrags- und damit Völkerrechtsbruch zu tun.

Hier sei mir eine persönliche Anmerkung gestattet. Die German Studies Association, der Fachverband der Zeithistoriker der USA, die sich mit deutschen Entwicklungen befassen, hatte 2010, zum 20. Jahrestag der deutschen Vereinigung, eine Konferenz zum „Vereinten Deutschland. Debatte von Prozessen und Perspektiven“ veranstaltet. Die regulative Idee war, in jedem Panel einen Westdeutschen und einen Ostdeutschen referieren zu lassen sowie einen US-Wissenschaftler, der sozusagen die „Dritte Position“ einnimmt. Ich war eingeladen, der Ossi im Themenbereich „Internationale Normalisierung“ zu sein. Ich hatte damals begründet, dass die Regelungen des 2+4-Vertrages und der dazugehörigen Anlagen sowie die entsprechenden Festlegungen des Grundgesetzes die unhintergehbare Voraussetzung jeglichen internationalen Agierens Deutschlands sind und bleiben. Die westdeutsche Referentin dagegen bestand darauf, dass all dies der damaligen Weltlage geschuldet und nur im Kontext des seinerzeitigen Geschehens zu verstehen sei. Das nunmehr „souveräne“ Deutschland stehe hinsichtlich erforderlicher „humanitärer und militärischer“ Auslandseinsätze vor ganz anderen Herausforderungen.

Angesichts der seit einigen Jahren immer wieder aufploppenden Debatten konservativer Kreise, angeblich seien eigene deutsche Atomwaffen erforderlich, dachte ich immer, dass es bei der stillschweigenden Aufkündigung des 2+4-Vertrages vor allem um diese geht: Deutschland soll „normale“ Atommacht werden. Jetzt ist Pistorius vorgeprescht und hat die Vertragsregelung an der Stelle des Verbots ausländischer Streitkräfte in Ostdeutschland aufgebohrt – mit der Hintertür zu behaupten, das sei gar keine.

Aber nachdem diese Tür erst einmal geöffnet ist, kann die Idee der deutschen Atombombe um so folgerichtiger verfolgt werden. Vor allem, sollte Donald Trump wieder Präsident der USA werden und die NATO für obsolet erklären.