Viktor Orbán macht es kurz: „Willkommen im Klub!“ Herausfordernd wirft er Bundeskanzler Olaf Scholz die Einladung vor die Füße. Polens Ministerpräsident Donald Tusk reagiert sachlicher, aber die Antwort ist unmissverständlich: „Das einzige Mittel, die nichtgewollte Einwanderung zu stoppen, ist es, die EU-Außengrenzen effizient zu kontrollieren, nicht die Binnengrenzen.“ In großen Teilen Polens nimmt man nun überrascht zur Kenntnis, wie schnell beim Nachbarn jenseits von Oder und Neiße Angela Merkels „Willkommenskultur“ abgebaut wird. Im Spätsommer 2015 hatte die Bundeskanzlerin fast im Alleingang und in Sekundenschnelle das mühsam zwischen den EU-Ländern ausgehandelte Dublin-System für die Asylregelungen der Gemeinschaft ausgehebelt, als sie entschieden-trotzig behauptete: „Wir schaffen das!“ Gemeint war aber ausschließlich das eigene Land, die EU-Nachbarländer zählten in dem Augenblick nicht! Ein verhängnisvoller Fehler, wie sich später herausstellt.
Der deutsche Oppositionsführer Friedrich Merz ruft im September 2024: „Es reicht!“. Er tut so, als sei deutsche Migrationspolitik – die er scharf kritisiert – allein auf dem Mist der jetzigen Bundesregierung gewachsen, von einem kritischen Wort zu Angela Merkel, seiner Parteifreundin, hört niemand etwas. Apodiktisch verlangt er schnelle Änderungen, vor allem sollen die deutschen Grenzen zu den EU-Nachbarn nun in dem Maße dichtgemacht werden, wie es die effiziente Zurückweisung ungebetener Flüchtlinge erforderlich mache. Bis Jahresende müssten handfeste Ergebnisse vorgezeigt werden.
Bundeskanzler Scholz knickt ein, die deutsche Innenministerin Nancy Faeser verkündet postwendend die Rückkehr zur Grenzkontrolle an den deutschen Grenzübergängen zu ebener Erde. Die Tiefe der eingeführten Polizeikontrollen an den deutschen Grenzen bleibt zunächst offen, doch soll es nicht an Effizienz fehlen. Völlig klar, dass Polens öffentliche Meinung schnell reagiert: Das Vorgehen der Bundesregierung komme einer schleichenden Aushebelung von Schengen gleich. Deutschland – das bedeutende Transitland inmitten der EU – stelle die Freizügigkeit für die EU-Bürger im Schengen-Raum auf eine ernste Probe, errichte allerorten nicht zu übersehende Hindernisse, ein Notstand werde beschworen, der aber vor allem das Ergebnis eigener politischer Fehlhandlung sei.
Der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus bringt es auf den Punkt: „Wenn die Idee tatsächlich die ist, wir stoppen jede irreguläre Migration an den deutschen Grenzen: Das geht dauerhaft nur mit einem Ende von Schengen. Dafür braucht man dann auch Zäune an der grünen Grenze.“ Knaus plädiert stattdessen für ein gemeinsames Vorgehen der EU-Mitgliedsländer: „Wir müssen irreguläre Migration in die EU reduzieren, darüber brauchen wir eine Diskussion.“ Im Grunde beschreibt Knaus die Position der polnischen Regierung, nicht viel anders sieht man es in der breiten Öffentlichkeit Polens.
Spätestens im Spätsommer und Herbst 2021 war Polen selbst unter Druck geraten auf den Migrationswegen, sah sich sogar – insbesondere im benachbarten Deutschland – ungerechtfertigt an den Pranger gestellt wegen des harten Vorgehens an der Grenze zu Belarus. Minsk und Moskau spielten zynisch die Karte mit Touristenvisa, die zehntausendfach im Nahen Osten – zumeist für Menschen aus Irak, Syrien und Afghanistan – ausgegeben wurden, um nach Belarus zu kommen. Niemand, der in den Besitz eines solchen Einreiseformulars für Russland oder Belarus gelangte, hatte die Absicht, dort zu bleiben. Teuer gekauft war ja ein ganzes „Reise“-Paket, um – wie vom „Veranstalter“ zu Hause versprochen – vergleichsweise gefahr- wie problemlos in den EU-Raum zu gelangen. Das Touristenvisum war nur ein notwendiges Glied in der langen Kette, es wurde lediglich gebraucht, um über Moskau oder Minsk sicher an die EU-Außengrenze zu gelangen. Die Behörden in Belarus wiesen (auch unter Einsatz von Gewaltmitteln) anschließend den einzigen Weg – Richtung Westen.
An der ehemals grünen Grenze, die niemand bis dahin angetastet hatte, schossen Grenzbefestigungsanlagen hoch, mit denen nichtgewünschter Übertritt auf EU-Territorium verhindert werden soll. Und wieder hagelte es Kritik – lautstark auch in Deutschland. Wenn nun der deutsche Oppositionsführer einen besonderen Grenzschutz verlangt, wenn die Bundesregierung schnell nachgibt und umfangreiche Grenzkontrollen anordnet, so bedeutet es aus Sicht vieler Polen, dass der einst eingeschlagene Merkel-Weg sich als eine Sackgasse erwiesen hat.
Nun sei aber angemerkt, dass ein gemeinsames Vorgehen in der Asyl- oder Migrationsfrage an der EU-Außengrenze eher in weiterer Ferne liegt, was wiederum keinesfalls ausschließlich an Deutschlands Weg seit 2015 liegt.
Wenn sich Polens Premier Tusk und Bundeskanzler Scholz jetzt telefonisch dahin verständigen, dass die „Herausforderung“ nur „gemeinsam“ gemeistert werden könne, so taucht hinter der schlichten Formel auch der weite Weg auf, den Polens Regierung in der Migrationsfrage noch zurücklegen müsste. Tusks schöner Verweis, dass Polens Standpunkt in dieser Frage „unveränderlich“ bleibe, hat ebenfalls vor allem innenpolitischen Zuschnitt. Europäische Verantwortung wahrnehmen, bedeutet für Polen nun auch, über den eigenen Schatten zu springen.
Wenn jetzt – nach dem einseitigen deutschen Schritt – die allermeisten Reaktionen in EU-Ländern den hohen Wert des Schengen-Systems herausstellen, dann ist der Weg für die EU-Politik vorgezeichnet: Strikte Beibehaltung des Schengen-Systems mit dem schnellen Aufbau verlässlicher und effizienter Kontrollstrukturen an den Außengrenzen der Gemeinschaft. Und im Mittelpunkt eine Asylregelung, an die sich alle hielten – ganz unabhängig von den jeweiligen innenpolitischen Unwägbarkeiten.
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