27. Jahrgang | Nummer 20 | 23. September 2024

Verschiedene Sichten auf das Erbe des Herbstes 1989

von Dieter Segert

Der Herbst 1989 kam und wir waren so frei, und das nicht erst im nächsten Frühjahr, wie es ein Wahlslogan der FDP im März 1990 behauptete. Wie ist es zu diesem Herbst gekommen? War es „unsere Revolution“ (Ehrhard Neubert, evangelischer Theologe, Demokratischer Aufbruch)?

Wer hat den Herbst eigentlich angestoßen? Die „ehemaligen Bürgerrechtler“ (damals noch nicht „ehemalig“)? Die Reformbewegung in der SED-Mitgliedschaft? Egon Krenz? Die „Ausreiser“ auf den Zeltplätzen Ungarns oder in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau? Die Montagdemonstranten – ja, aber welche davon, die vom 9. Oktober auf dem Ring in Leipzig oder die an demselben Ort im folgenden Winter des Jahres? „Wir sind das Volk“ oder „Wir sind ein Volk?

Zuerst zur SED-Mitgliedschaft. Jeder einigermaßen erfahrene Ostdeutsche weiß, dass die SED nicht – wie in ihrem Statut behauptet wurde – demokratisch von unten aufgebaut war. Das Politbüro war der Taktgeber des Staates und der Partei als Ganzes. Die Mitglieder (und unteren Funktionäre) der SED saßen mit ihrer Führung in einem großen Boot, aber eher an den Riemen als am Steuerrad. Sie waren das Rädchen im Getriebe, ohne das der Staat nicht funktionierte.

Ich war an der Humboldt-Universität an der Sektion Philosophie („marxistisch-leninistisch“ genannt) und in Lehrveranstaltungen für angehende Historiker und Wirtschaftswissenschaftler im „Grundlagenstudium M-L“ ein Mitwirkender im Funktionieren der ideologischen Staatsapparate, oder, wie ich es mehrfach bezeichnet habe, ein Mitglied der „intellektuellen Dienstklasse“ der DDR.

Aber ich war auch ein Zweifler und Suchender. Waren die Fehler und Verbrechen Stalins mit dem XX. Parteitag der KPdSU wirklich aufgearbeitet worden? Waren die Machtstrukturen jener sowjetischen Frühzeit nicht doch weiter existent? War die sozialistische Demokratie tatsächlich „millionenfach demokratischer als jede bürgerliche“ (Lenin)? Es gab genug Zweifel, und meine Erfahrungen ließen die Zweifel wachsen – das Erlebnis der Streiks in Polen 1980/81, die Texte der eurokommunistischen Führer wie Togliatti oder Carillo, viele Gespräche mit Freunden über die Kluft zwischen dem sozialistisch-kommunistischen Ideal von Gleichheit und Gerechtigkeit Aller und der erfahrbaren Lebenspraxis in unserem Land. 1987 begannen einige jüngere Philosophen der Humboldt-Universität initiiert durch Michael Brie, eine systematische Kritik staatssozialistischer Politik zu entwickeln. Das so keimende Projekt „Moderner Sozialismus“ an der Humboldt-Universität – geschützt durch Dieter Klein, den Prorektor der Universität – leitete eine Phase von Textproduktion ein, die im Sommer und Herbst 1989 über die eigene Universität hinauswuchs. Nach der Ablösung von Honecker war dann die SED an der Humboldt-Universität auch eine von mehreren Kreisorganisationen, die für einen Sonderparteitag kämpften, der die SED umkrempelte.

Aber aus der Retrospektive gefragt, waren wir nicht zu lange im Schutzraum der eigenen Netzwerke unserer Freunde geblieben? Kam unsere Initiative im Herbst 1989 nicht viel zu spät? Haben wir die aktiven Bürger in den kleinen SED-kritischen Gruppen unter dem Schutzdach der protestantischen Kirche nicht zu lange allein gelassen? Und was hat das mit dem vorzeitigen Ende der DDR zu tun?

Die Programme der beiden Gruppen, die sich für eine Demokratisierung der DDR engagierten, die kirchlichen Gruppen und die internen SED-Reformer aus der Mitgliedschaft, sind nebeneinandergelegt in vielen Punkten sehr ähnlich: Für eine Trennung von Partei und Staat, für eine unzensierte Öffentlichkeit, für echte Wahlen und mehr Demokratie in allen Bereichen, Beschneidung der Macht der Staatssicherheit … Doch wir standen wie zwei Säulen nebeneinander, ohne Berührung. Wir waren uns fremd.

Es gab spät einzelne Ausnahmen: So fand in der Erlöserkirche am 15. Oktober eine Veranstaltung der neuen Gruppen unter dem Motto „Keine Gewalt!“ statt, an der sich Rainer Land im Namen des Projektes „Moderner Sozialismus“ mit einem Thesenpapier beteiligte. Ab Ende Oktober versandten wir unsere Texte an alle, die sich dafür interessierten. Am 4. November traten Schauspieler und Schriftsteller, die sich für eine reformierte DDR engagierten, zusammen mit Vertretern der neuen Gruppen auf dem Alexanderplatz auf. Am 13. November diskutierte ich das erste Mal mit einem Vertreter jener SED-kritischen Gruppen in der Kirche Pankow, mit Hans Misselwitz, und bemerkte voll Erstaunen, wie sehr wir in der Einschätzung der Situation übereinstimmten.

In den nächsten Jahren habe ich mich wiederholt der Diskussion stellen müssen, warum wir uns so spät aus der Deckung bewegten. Das ist unsere, meine Verantwortung. Es ist nicht trivial, den Grund dafür festzustellen. Es gab auch ein individuelles Versagen, jedoch überwiegen strukturelle Hemmnisse. Rainer Land und Ralf Possekel haben in der Studie „Namenlose Stimmen waren uns voraus“ diese Strukturen benannt, ein unterschiedliches Verständnis des Staates. Die Mitglieder beider Gruppen kamen aus unterschiedlichen Milieus. Die einen sahen den Staat, der ihre kirchliche Heimat vielfach bedrängte, als Gegner an. Für die anderen – für uns – war er ein (wenn auch fehlerhaftes) Instrument zur Verwirklichung der eigenen Ideale.

Wir scheiterten gemeinsam in den vorgezogenen demokratischen Wahlen im März 1990. Die einen in der inzwischen zur PDS umgewandelten SED, die anderen in der Gruppe „Bündnis 90“. Wir scheiterten übrigens nicht nur an der Sehnsucht der Bevölkerung nach dem nebenan möglichen Konsum, sondern auch an der größeren Legitimität, die die westdeutsche Regierung bei den DDR-Bürgern genoss. Dass sich diese Legitimität, Führungsstärke, der beiden Gruppen in der DDR-Bevölkerung nicht gebildet hatte, dafür trugen die SED-Reformer die größere Verantwortung.

Einige der Vertreter anderer neuer Gruppen bildeten mit CDU und FDP die letzte DDR-Regierung unter Lothar de Maiziére, deren stellvertretende Sprecherin eine junge Frau war, Angela Merkel. Obwohl diese Regierung einiges an wichtigen Ergebnissen für die DDR-Bevölkerung sichern konnte, unterlag sie letztlich der viel stärkeren westdeutschen Seite. Das führte auch dazu, dass die Frage, wie lange es diese veränderte DDR noch geben sollte, nach dem Wahlkalender des Bundestages entschieden wurde. Am 3. Oktober, nach nur etwas mehr als einem halben Jahr, ging sie in der Bundesrepublik Deutschland auf, die größer geworden, aber in ihrer Verfassungs- und Eigentumsordnung gleichgeblieben war.

Dazu kamen internationale Restriktionen. Unsere „Schutzmacht“, die Sowjetunion unter Gorbatschow, war bankrott. Die einzig übriggebliebene Großmacht, die USA, wollte vor allem die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO sichern. Dafür wusste sie die Neutralität des vereinten Landes zu verhindern.

Was wir vom Herbst 1989 erinnern, entscheidet sich auch durch die Wahl der Gedenktage an ihn. Der immer wieder gefeierte 9. November, der Tag der Maueröffnung, war zwar ein markanter Meilenstein auf dem Weg zum Ende der DDR, aber keine Entscheidung, die von den beiden politisch aktiven Gruppen angestrebt wurde. Eine Grenzöffnung, Reisefreiheit „bis Hawaii“, wollten beide, aber nicht so ungeordnet, dass das Land auslaufen musste. Der 3. Oktober 1990 wurde durch den bundesrepublikanischen Wahlkalender bestimmt – vor dem als Wahltag bereits gesetzten 2. Dezember musste die DDR-Bevölkerung ins Haus geholt werden. Und die Neubundesbürger stimmten dann auch mit Mehrheit für die Fortsetzung der Kanzlerschaft Helmut Kohls.

Es bleiben zwei weitere mögliche Feiertage: Der 4. November, der Tag der Demonstration in Berlin, auf der die „intellektuelle Dienstklasse“ der DDR öffentlich mit ihrer Loyalität gegenüber der DDR-Führungsgruppe brach. Oder der 9. Oktober in Leipzig, als trotz Angst vor militärischer Gewalt 75 Tausend Bürger auf die Straße gingen und Demokratie einforderten.

Welchen Feiertag wir würdigen, ist nicht ohne Belang. Wir heben damit entweder die endlich wiederhergestellte Einheit (ohne Bedauern über deren Kosten) hervor oder die eigene freie politische Entscheidung, einen demokratischen Anfang zu setzen. Das Zweite ist das eigentliche Erbe des Aufstandes vom Herbst 1989, wichtig auch für heute. Nicht die Anpassung oder der richtungslose Protest gegen jegliche Obrigkeit, sondern ein selbstbestimmtes, solidarisches Handeln für die eigenen Interessen, die unserer Kinder und aller Bürger des Landes tun not. Frei handeln ohne Angst ist auch in der Demokratie nicht selbstverständlich, fordert auch hier Besonnenheit und Mut.

Dafür aber stehen in unserer Geschichte der 9. Oktober und der 4. November 1989.